"Ich sehe viele Leute, die in der Kunst Selbstbestätigung suchen"
Was ist legitim in der Kunst? - In einer offenen Gesellschaft darf darüber gestritten werden, meint der Kunsthistoriker Hanno Rauterberg. Doch die Debatte sollte nie so weit führen, dass Menschen Kunstwerke zerstören wollen. Kunst in der Moderne habe "aufstörende Qualität".
Marcus Pindur: Gedichte werden übermalt, Gemälde werden abgehängt. Filmschauspieler werden aus erfolgreichen Serien herausgeschnitten – alles im Namen guter und edler Anliegen: die Gleichstellung von Mann und Frau, der Schutz unterprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen, die Abwehr traumatischer Gefühlsauslöser. – Aber ist die Kunst in den westlichen Gesellschaften noch frei, so wie es das Konzept der offenen Gesellschaft vorsieht?
Darüber sprechen wir heute mit Hanno Rauterberg, Buchautor, Kunsthistoriker und Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit". Guten Tag, Herr Rauterberg.
Hanno Rauterberg: Guten Tag, Herr Pindur.
Pindur: Herr Rauterberg, lassen Sie uns ohne Umschweife zur Grundfrage dieses Gesprächs kommen. Ist die Kunst in der westlichen Welt Ihrer Ansicht nach noch frei?
Rauterberg: Ja, wenn Sie jetzt mit einem Juristen sprächen, dann würde der Jurist sagen: Sie ist so frei wie sie nur sein kann. Das Grundgesetz gilt weiterhin. Aber, wie Sie schon gesagt haben, ich gucke eher so aus einem kunstsoziologischen, kunsthistorischen Blick. Da merke ich, dass, auch im Gespräch mit vielen Museumsmenschen, auch mit Künstlern, viele sich nicht mehr so frei fühlen wie noch vor ein paar Jahren. Dass die Freiräume enger werden, dass sie das Gefühl haben, bestimmte Dinge nicht mehr sagen, bestimmte Bilder nicht mehr zeigen zu dürfen. Es gibt jedenfalls sehr heftige Debatten über das, was noch legitim ist und was richtig erscheint und was möglicherweise für die Kunst in Zukunft nicht mehr möglich sein sollte.
"Heftige Debatten über das, was noch legitim ist"
Pindur: Wo sehen Sie denn jetzt Beschränkungen für die Freiheit der Kunst, wenn es juristisch ja eigentlich keine gibt?
Rauterberg: Wir haben es dann auch mit Fällen von Selbstzensur zu tun. Beispielsweise im Guggenheim-Museum, ein weltweit bekanntes Haus in New York, wo im letzten Jahr eine Installation abgebaut werden musste, in der es um Tierrechte ging im weitesten Sinne. Dort war zu sehen eine Installation mit lauter Hunden, die aufeinander zuhetzten. Es ging hier um das Thema Kampfhunde. Das hat so viele Besucher aufgebracht, dass sie eine Petition aufgesetzt haben.
Diese Petition forderte, dass solche Kunstwerke, in denen es um Gewalt geht, um Tiere geht, künftig nicht mehr zu sehen sein sollten. Und tatsächlich hat das Guggenheim dann irgendwann gesagt: Stimmt eigentlich, wir sollten es vielleicht nicht länger zeigen. – Da kann man sagen: Okay, das ist jetzt nur so ein Einzelfall. Aber natürlich wirkt das zurück auf viele Kuratoren, die dann auch erzählen: Hey, wir bekommen doch immer mehr Schwierigkeiten mit dem sogenannten digitalen Mob, so nennen die das dann oft, also Leute, die sich erregen, die Petitionen aufsetzen. Und dann gibt es riesige Shitstorms. Und besonders kontroverse Werke können wir vielleicht in Zukunft gar nicht mehr zeigen. – So die Auskunft dieser Museumsmenschen.
Pindur: Kommen wir zu einem weiteren konkreten Beispiel hier aus Deutschland. An der Wand der Berliner Alice-Salomon-Hochschule stand bis vor kurzem ein Gedicht eines bis dato eher unbekannten Lyrikers namens Gomringer. Das endete mit den Worten: "Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer." Darüber hatten sich drei Studentinnen beschwert. Das Gedicht erinnere an patriarchale Kunsttradition, in der Frauen nur als schöne Musen Platz haben. Und es erinnere sie an sexuelle Belästigung, der Frauen tagtäglich ausgesetzt sind.
Man kann jetzt sicherlich darüber streiten, wie offen oder latent dieses Gedicht nun sexistisch ist, aber haben die Studentinnen nicht Recht damit, dass das eine gewisse Altherrenhaltung ist, die der Dichter da einnimmt?
Rauterberg: Sie fragen mich, ob sie Recht haben? Dann würde ich sagen: In der Kunst geht es nicht primär um Rechthaben, sondern es geht um Deutungen, um Interpretation, um die ästhetische Erfahrung. Und dann treten ganz unterschiedliche Erfahrungen nebeneinander. Vielleicht gibt es auch so was wie eine Deutungsschlacht. Aber es muss nie so sein, dass der eine am Ende sagt, ich bin der Sieger. Sondern der Reiz in der Auseinandersetzung um ein Kunstwerk liegt ja gerade darin, dass sie immer wieder neu gesehen, neu interpretiert werden können und nicht der eine am Ende sagt: Nur diese eine Lesart gilt.
In der Moderne haben wir das Phänomen eben ganz unterschiedlicher Möglichkeiten, sich mit Kunst zu befassen, sie unterschiedlich aufzufassen. Und der Reiz liegt eben darin, dass die Kunst uns diesen Disput erlaubt und dabei auch vielleicht so etwas entsteht, was Kant den sensus communis genannt hat, also den Gemeinsinn, dass wir uns zumindest darüber einig sind, dass wir über bestimmte Dinge nicht einig sind.
"Es gibt unglaubliche Gräben"
Pindur: Diese Studentinnen, die sich dort beschwert haben, bestreiten das aber und setzen einfach ihr subjektives Empfinden dagegen und verweisen auf ein immer noch verbreitetes gesellschaftliches Problem wie sexuelle Belästigung. – Dann ist es doch aber völlig in Ordnung, wenn das Interpretationssache ist, dass diese drei Studentinnen im Jahr 2018 etwas aussprechen und ansprechen, was 1951 vielleicht überhaupt noch kein Thema war, als dieses Gedicht geschrieben wurde.
Rauterberg: Ja, das ist völlig in Ordnung. Man könnte sogar sagen, das Gedicht bietet einen willkommenen Anlass, sich über solche Fragen zu streiten und zu fragen, wo beginnt eigentlich Sexismus und wie ist die Wahrnehmung der Studentinnen im Unterschied zur Wahrnehmung beispielsweise der Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die ja diesen Vorschlag, das Gedicht zu übermalen, als "Kulturbarbarei" gebrandmarkt hat. Also, man merkt, da gibt es unglaubliche Gräben.
Und diese Gräben jetzt einfach zuzuschütten oder so zu tun, als gäbe es da nichts, was diskussionswürdig wäre, finde ich absurd. Aber genau das passiert ja. In dem Moment, in dem man das Gedicht auslöscht, gibt es keinen Gegenstand mehr, über den man sich streiten kann und in diesem Streit eben auch diese unterschiedlichen Auffassungen von Welt thematisieren kann.
Pindur: Das heißt, Sie würden das interpretieren, das Verhalten dieser Studentinnen, als eine Verweigerung von Debatte eher, als einen Akt der Emanzipation?
Rauterberg: Ja, ob das wirklich emanzipativ ist, weiß ich nicht. Es gab jedenfalls einen sehr ausgedehnten demokratischen Prozess. Viele Gremien an der Hochschule waren damit befasst. Und am Ende entschied der Senat tatsächlich, das Gedicht muss weg. Und das wird ja in diesen Wochen tatsächlich übermalt. Also, man könnte sagen, es ist eine Art von demokratisch abgefedertem Ikonoklasmus.
Wie gesagt: Man kann sagen, das Gedicht existiert ja weiter. Es wird nicht wirklich von irgendeiner Zensur unterdrückt. Man kann es im Internet lesen. Es gibt jetzt mehrere private Menschen, die dieses Gedicht an ihrem Haus wiederum haben aufmalen lassen. Eugen Gomringer, der Dichter, war nie so populär wie er heute ist dank dieser Auseinandersetzung. Es hat eine interessante Debatte stattgefunden. Aber die Debatte sollte in meinen Augen nie dazu führen, dass man sagt: Kunstwerke müssen verschwinden, müssen sogar zerstört werden. Auch das haben wir in den verschiedenen Kulturkämpfen, die ich in meinem Buch bei Suhrkamp beschreibe, immer wieder erlebt, dass es diese Vernichtungsphantasien gibt.
Pindur: Ein anderer Fall ist des Malers Balthus, der im New Yorker Metropolitan-Museum ein Bild ausstellte, das ein etwa 13-jähriges Mädchen zeigte, dessen Rock so weit hoch gerutscht war, dass man die weiße Unterhose sehen konnte. Dagegen gab es auch einen Sturm der Entrüstung. – Kann man nicht mit Fug und Recht behaupten, damit werde ein Kind zu einem Sexualobjekt degradiert? Und deswegen habe dies auch keinen Platz im öffentlichen Raum.
"Kunst ist in gewisser Weise auch eine Zumutung"
Rauterberg: Ja, man muss aber gucken, dass auf dem Bild eben ein gemaltes Kind gezeigt wird und nicht ein reales Kind. Diese Unterscheidung zwischen Darstellung und Dargestelltem, dass wir in der Kunst nicht mit einer wirklichen Wirklichkeit zu tun haben, diese Unterscheidung ist, glaube ich, ganz wichtig.
Denn es geht bei diesem Gemälde ja immer auch um die Fragen der Komposition, der Maltechnik. Es geht darum, wie bestimmte Farben verwendet werden, also um das Künstlerische. Und es geht darum, dass die Kunst uns eine Möglichkeit bietet, Distanz zu nehmen, Abstand zu nehmen, dass wir uns unserer eigenen Gefühle bewusster werden.
Man kann natürlich sagen, das Bild ist selber pornographisch. Gleichzeitig stellt uns dieses Bild die Frage, ob nicht wir mit unserem Blicken erst es als pornographisch empfinden. Also, dieser Reflexionsraum, den uns die Kunst erlaubt, unterscheidet halt klassische Pornographie von Bildern, von Gemälden, von Kunstwerken, die sich mit pornographischen Motiven befassen. Deswegen ist es auch in dem Fall, glaube ich, absurd zu fordern, wie es gefordert wurde, dieses Bild müsste dringend ins Depot oder es müsste abgesichert, abgefedert werden durch entsprechende Beschreibung und Warnhinweise.
Kunst ist in gewisser Weise auch eine Zumutung. Sie stellt unsere moralischen Standards infrage. Man könnte auch sagen, sie erlöst uns aus dem Moralkostüm, mit dem wir alle herumlaufen.
Pindur: Sie beschreiben diese von Ihnen kritisierte Haltung zur Kunst in Ihrem Buch folgendermaßen: "Wichtiger als der Schutz des künstlerischen Werks ist der Schutz des Publikums vor den Zumutungen der Künstler." – Wie viel Zumutung muss man denn Ihrer Meinung nach ertragen können als Kunstkonsument?
Rauterberg: Es ist interessant, dass Sie von "Kunstkonsumenten" sprechen.
Pindur: Ich hätte auch von Kunstrezipienten sprechen können.
Rauterberg: Ja, aber Sie treffen damit einen wahren Punkt. Denn viele Leute gehen heute ins Museum und verhalten sich so wie Konsumenten sich oft verhalten, vor allem dann, wenn sie ethischen Konsum anstreben. Es gibt ja diese Bewegung, dass Leute immer gucken, woher stammen denn Produkte. Unter welchen Bedingungen wurden sie hergestellt? Welche Nebenwirkungen haben sie denn möglicherweise? Und wie kann ich ein Leben führen, das eben frei ist von Zumutung wie Schuld beispielsweise oder eben entsprechenden anderen Nebenwirkungen?
Also, der Smoothie, der dann "Innocent" heißt, ist dafür ein besonders schönes Beispiel. Entsprechend, glaube ich, hat sich auch der Blick eines Teils des Publikums verschoben. Die gucken eben jetzt auch stärker auf die Produktionsbedingungen der Kunst und fragen sich: Hey, können wir Picasso eigentlich noch so anschauen, wie wir ihn immer angeschaut haben, jetzt, wo wir wissen, wie er mit seinen Ehefrauen und seinen Geliebten umgegangen ist, die er nämlich nach Kräften malträtiert hat, wenn man den Aussagen dieser Frauen glauben kann?
Und wenn wir jetzt so ein Bild angucken, auf dem Frauen, wie das bei Picasso ja oft der Fall ist, von den Linien fast schon zerteilt werden, sind das nicht Gewaltphantasien, die da ausgelebt werden? Und wollen wir uns das eigentlich als Frauen, als weibliche Betrachter gefallen lassen?
All solche Fragen tauchen plötzlich auf. Und es gibt das Gefühl bei manchen Betrachtern, nein, wir wollen uns das nicht länger bieten lassen. Wir legen auch die moralischen Standards von heute an die Werke aus der Vergangenheit. Und wir möchten eigentlich, dass die Gegenwart die Geschichte korrigiert.
Aus "Negermädchen" wird "N...-Mädchen"
Pindur: Das ist nun nicht möglich.
Rauterberg: Doch, das wird aber versucht. Es gibt sogar historische Bildtitel, die jetzt verändert werden. Also, ein berühmtes Bild einer Künstlerin, Anita Rée, das "Negermädchen" heißt, weil sie es Negermädchen genannt hat, weil man damals so sprach, soll heute nicht mehr Negermädchen heißen. In der Kunsthalle Bremen ist das Bild zu sehen. Sondern dann steht dort "N…-Mädchen". Das ist so ein Versuch, nachträglich Dinge zu revidieren, weil uns heute der Begriff zu Recht nicht mehr als opportun und richtig erscheint.
Pindur: Diese Bewertungen, die da vorgenommen werden von Kunst als eben grenzüberschreitend oder zu übergriffig, die sind doch aber sehr zeitabhängig. Sie stellen ja die These auf, dass wir sozusagen in ein Zeitalter hinein steuern, in dem sowohl von Rechtspopulisten als auch von Linksradikalen diese Zumutungen nicht mehr hingenommen werden wollen oder dass man die Kunst instrumentalisiert, wie es bei den Rechtspopulisten ja der Fall ist.
Jetzt nehmen wir mal das Beispiel mit dem Balthus-Bild und dem 13-jährigen Mädchen, das darauf abgebildet war. In den 50er Jahren hat man Lolita-Narrative wahrscheinlich ganz anders rezipiert. Man hat gesagt, okay, das ist jetzt ein Buch, das ein sexuelles Tabu durchbricht – endlich aus der Prüderie heraustritt. Heute sehen wir das unter dem Gesichtspunkt sexueller Übergriffe gegen Kinder. – Zeigt das nicht einfach, dass es schlicht und ergreifend immer im Wandel begriffen ist, der Blick auf die Kunst, und dass es ein relativ normaler Vorgang ist? Oder sehen Sie da noch etwas anderes am Werk?
Rauterberg: Nein, es gibt so was wie einen Wertewandel. Und dieser Wertewandel, den kann man auch als sinnvoll und produktiv begreifen. Also, gerade in den Jahren nach 68 gab's ja viele, die auch dafür plädierten, die Sexualität des Kindes ernster zu nehmen. Und es gab einige, die sagten: Mensch, warum soll sogar Sex mit Kindern nicht erlaubt sein? Ist das nicht auch Teil eines emanzipatorischen Fortschritts? – Heute sehen wir das sehr viel kritischer, zu Recht sehr viel kritischer. Manchmal gibt es sogar schon fast hysterische Bewegungen, die sagen: Pädophilie wird überall plötzlich gewittert.
Dann gibt es wieder Skandale, von denen man sagen kann, glücklicherweise gibt es sie, dass endlich aufgedeckt wird, was in der Katholischen Kirche passiert. Also, es gibt ein anderes Bewusstsein, als es das vielleicht noch vor dreißig, vierzig Jahren gab.
Die Frage ist nur, was für die Kunst daraus folgt und ob die Kunst jetzt plötzlich nicht mehr als Protagonistin der Freiheit und der Öffnung gesehen wird, sondern uns vor bestimmten Dingen bewahren soll. Der Kunst ging es ja immer um Entgrenzung. Gerade in der Bildenden Kunst ging es darum, dass wir neue Materialien, neue Sujets entdecken, dass immer neue Formen und Stilbegriffe geprägt wurden und es immer um Erweiterung des Kunstbegriffs ging.
Und plötzlich sind wir mit einer Situation konfrontiert, in der es heißt: Nein, Grenzen sind wichtig. – Und da haben sie völlig Recht. Es gibt identitäre Bewegungen politischer Art, die sagen, wir wollen ganz stark wieder territoriale Grenzen errichten. Und es gibt andere, die sagen: Wir wollen imaginäre Grenzen, ideelle Grenzen neu bestimmen. Und wir wollen, dass Künstler auch diese Grenzen respektieren und nicht glauben, nur, weil sie Künstler sind, dürften sie auf alles zugreifen und dürften alle Geschichten, alle Formen, alle kulturellen Erzeugnisse, egal woher sie stammen, für ihre Arbeiten verwursten.
"Wir wollen, dass Künstler Grenzen respektieren"
Pindur: Sie haben den Begriff des Identitären eben auch verwendet. Da möchte ich auf einen anderen Fall zu sprechen kommen, den Sie auch in Ihrem Buch behandeln. Die Künstlerin Dana Schutz, in den USA sehr bekannt, hatte 2016 ein Bild gemalt, das an den Tod eines 14-jährigen schwarzen Jungen in den Südstaaten der 50er Jahre erinnerte, ein in den USA sehr bekannter Fall, der das Emmett Till, so hieß der Junge. Und die Künstlerin wollte mit diesem Bild eigentlich ihre Sympathie für die Black-Lives-Matter-Bewegung äußern, die sich also besonders gegen Polizeigewalt gegen Schwarze wendete.
Stattdessen gab's aber ziemlich zornige Proteste schwarzer Künstler gegen sie. Was ist da passiert?
Rauterberg: Es gab sogar eine Künstlerin, Hannah Black, die forderte, das Bild sollte nach Möglichkeit vernichtet werden. Es gab andere, die riefen dazu auf, alle Ausstellungen von Dana Schutz zu boykottieren. Also, es gab richtig heftige Auseinandersetzungen, was schon deshalb erstaunlich ist, weil man sich im Kunstbetrieb, der ja gar nicht so besonders groß ist, eigentlich doch in Ruhe lässt gegenseitig. Jeder soll seinen Erfolg haben oder seinen Misserfolg ausbaden. Und in diesem Falle gab es wirklich eine Auseinandersetzung, weniger ästhetischer Art als auch politischer Art, dass man sagte: Die weißen Künstler nutzen unsere Leidensgeschichte, unsere schwarze Leidensgeschichte aus. Warum tun sie es? Weil es ihnen um Profit geht und um Vergnügen geht, weil sie damit Geld verdienen wollen und weil sie sich als wichtig und bedeutsam herausstreichen wollen. – Ein großes Misstrauen eben.
Eigentlich ging es tatsächlich der Künstlerin dieses Bildes ja darum, wie Sie schon gesagt haben, Sympathien zu bekunden und eigentlich auch darum, so was wie Solidarität auszudrücken und auch für Solidarität zu werben.
Und in dem Fall war aber, und das ist ganz charakteristisch für diese Art von Diskussion, um kulturelle Aneignung, wie das immer heißt, ging es darum zu sagen: Nein, bestimmte kulturelle Ausdrucksformen, bestimmte kulturelle Eigenheiten, auch unsere Geschichte letztlich gehört ganz allein uns, den Schwarzen, oder uns, einer anderen ethnischen Minderheit beispielsweise. So etwas lässt sich ja auf ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen beziehen dieses Argument.
Pindur: Und gleichzeitig der Anspruch aber: Du darfst dich dieses Themas als Weißer, als Mann, nicht annehmen!
Rauterberg: Ganz klar. Die Freiheit der Kunst ist begrenzt und die Freiheit der Kunst war bislang immer, das ist das Argument, das dahinter steckt, eine Angelegenheit weißer Menschen. Die haben davon profitiert, während wir, die nicht so Privilegierten, die Schwarzen, von dieser Freiheit wenig profitieren konnten und erst jetzt für uns diese Freiheit entdecken und auch ausnutzen wollen. Und deswegen haben die Weißen jetzt zurückzustehen.
Ich finde das ein sehr zweischneidiges Argument, um das Mindeste zu sagen. Denn es könnte ja auch bedeuten, dass Weiße sich künftig gar nicht mehr um diese Geschichten der unterdrückten Minderheiten kümmern.
Um es mal auf Deutschland zu beziehen: Wenn es jetzt so wäre, dass nur noch die jüdischen und einstmals verfolgten Deutschen sich mit dem Holocaust befassen dürften, dann könnten die anderen Deutschen ja sagen: Na ja, prima Sache. Dann sollen die doch die Holocaust-Filme drehen, sollen die sich um die entsprechenden Mahnmale kümmern. Wir sind ja dann herzlich entlastet und können uns anderen Dingen zuwenden.
Also, man verkennt dabei, glaube ich, dass diese Leidensgeschichte ja immer eine Geschichte ist mit Tätern und Opfern. Und warum sollen nicht auch die Täter, gerade die Täter sollten sich doch eben mit diesen Fragen auch in der Kunst auseinandersetzen.
Pindur: Der Versuch einer Begrenzung der Themenwahl für eine bestimmte andere Gruppe ist das eine. Das andere ist die Auseinandersetzung damit, wie dieser Künstler, der jeweilige, an das Thema herangeht.
Jetzt ist zum Beispiel, um bei der Sklaverei und der Segregationsgeschichte in den USA zu bleiben, das ist ein Menschheitsverbrechen, über das die Weißen nicht mehr sprechen wollen größtenteils. Und die Schwarzen haben das Gefühl, es wird ihnen nicht zugehört. Und wenn überhaupt, dann gehe man in einer paternalistischen herablassenden Weise damit um. – Also, dagegen könnte man sich schon wehren, denken Sie, aber nicht die Begrenzung auf eine bestimmte Gruppe und die Zuschreibung bestimmter Grenzen für bestimmte Gruppen?
Rauterberg: Ja, ich finde es im Kern falsch, diese politischen Fragen zu ästhetisieren und zu sagen, es muss jetzt vor allem darum gehen, dass im Museum oder im Theater oder im Kino diese Gerechtigkeitsfragen nicht nur thematisiert, sondern auch ausgetragen werden.
Ich glaube, diese Art von kulturlinken Auseinandersetzung führen nur dazu, dass die Bewahrer des Status quo, all jene, die sagen, Mensch, ich habe eigentlich nichts gehen Rassismus, solange die Rendite stimmt, dass die ganz zufrieden sind, weil die sagen: Mensch, diese Art von Kulturkonflikten, das sollen die ruhig austragen. Dann sind sie schön beschäftigt und wir können so weitermachen wie bisher.
Es sind so Nebenkriegsschauplätze. Und es führt dazu letztlich auch, dass die Kunst ihren Freiraum verliert. Denn in der Kunst geht es ja immer auch darum, dass wir über uns selbst hinaus denken, dass wir in der Lage sind oder zumindest darauf hoffen, dass wir über unsere eigenen Identitäten hinaus Dinge erkennen können, dass wir unsere Herkunft ein wenig zurücklassen können, unsere Prägung übersteigen. Also, diese Vorstellungen von Transzendenz gehören ja immer zur Kunst dazu. Sonst müsste man sich nicht mit ihr beschäftigen.
Wenn es immer nur darum geht, Identitäten zu bewahren und nicht Identitäten zu übersteigen und bestimmte Vorstellungen auch zu durchkreuzen oder transparent und durchlässig zu machen, dann bräuchte es auch keine Museen mehr.
"Versuch, einen patriotischen Kulturbegriff zu prägen"
Pindur: Schauen wir mal auf das andere Ende des politischen Spektrums, nämlich den Rechtspopulismus. – Wie denken Sie denn, dass der Rechtspopulismus die Freiheit der Kunst einschränken könnte oder es auch schon tut?
Rauterberg: Wenn wir nach Polen gucken, wenn wir nach Ungarn gucken, da gibt’s ganz starke Bewegungen von Leuten, die sagen, ja klar, wir müssen eine eindeutige Nationalkultur neu definieren und bestimmte abweichende Meinungen werden nicht mehr gelitten. Kuratoren werden entlassen. Es gibt den Versuch, einen patriotischen Kulturbegriff zu prägen. Das sind andere, das sind zentral gesteuerte Versuche, die Kunst in ihrer Freiheit zu beschneiden.
In den liberalen Gesellschaften haben wir es eher mit dem Versuch kleinerer Gruppen zu tun. Es ist eher so eine Art Zensur von unten, die stattfindet, der Versuch, da eben neue Grenzen zu ziehen und der Offenheit der Kunst mit anderen Anliegen zu begegnen, die eben politischer und sozialer Natur sind und die versuchen, die Kunst zu instrumentalisieren für ihre Zwecke.
Pindur: Warum, denken Sie, gewinnen Gefühle, Affekte, so große Bedeutung bei der Bewertung von Kunst oder eben der Ablehnung und dem Versuch der Zensur von Kunst? Warum spielen die eine so große Rolle?
Rauterberg: In der Kunst geht es ja erstmal auch um Empfindung. Es geht darum zu gucken, was rührt mich an. Reiz und Rührung ist so ein Kernelement jeder Kunstrezeption. Die Frage ist nur, ob wir es dabei belassen und ob wir Affekte als Argumente gelten lassen wollen. Und das gilt jetzt eben keineswegs nur in der Diskussion um Kunst, sondern auch in der politischen Diskussion erleben wir das immer häufiger, dass Menschen sagen: Ich empfinde das so. Oder: mir ist unwohl dabei.
In meinem Buch nenne ich es das "Regime der unguten Gefühle". Das Regime basiert eben ganz stark auf der Beobachtung, dass die Verhältnisse immer unklarer werden. Wir leben in einem hyperkomplexen Zeitalter. Die Dinge sind immer verstrickter oder scheinen immer verstrickter zu werden. Da ist es natürlich eine wunderbare Möglichkeit, diese Komplexität zu reduzieren, dieser Komplexität zu entgehen, indem ich einfach sage: Ich fühle mich unwohl oder ich fühle mich wohl. Das ist so eine Dichotomie, die kann jeder leisten und muss sich dann um die ganzen moralischen Implikationen nicht mehr besonders kümmern.
Pindur: Sie stellen auch eine Verbindung her zwischen einer angeblich blühenden Kultur der politischen Korrektheit und gleichzeitig der nachlassenden Bindungskraft des Liberalismus als politischer Philosophie und Geisteshaltung. – Können Sie diesen Zusammenhang erklären?
Rauterberg: Ich spreche eigentlich weniger von politischer Korrektheit als von einer Moralisierung vieler Diskurse. Plötzlich hat man die seltsame Situation, dass die Parlamente als Orte der Repräsentation nicht mehr so richtig ernst genommen werden. Man hat das Gefühl, die wirklichen Fragen der Macht werden längst von irgendwelchen Internetkonzernen entschieden, während umgekehrt in den Museen ganz stark Repräsentationsfragen auftauchen und das Bedürfnis da ist, dass jede Minderheit, dass unterschiedlichste Gruppen, gesellschaftliche Gruppen dort auch vorkommen müssen. Also, es ist, glaube ich, so eine Art Ersatzhandlung, die wir da beobachten.
"Viele Leute, die in der Kunst Selbstbestätigung suchen"
Pindur: Für mich ist immer noch nicht die Frage damit beantwortet, wie die Forderung nach der Einhegung und Eingrenzung der Kunst in einer immer liberaleren Gesellschaft an Attraktivität gewinnen kann. – Wie erklären Sie sich das?
Rauterberg: Das ist tatsächlich eine paradoxe Bewegung. Wir leben ein unglaublich freiheitliches Leben. Wir haben mehr Optionen denn je, würde ich sagen, vor allem durch das Internet. Trotzdem haben viele Menschen das Gefühl, diese Freiheit birgt auch eine große Unfreiheit.
Um es mal an einem Beispiel deutlich zu machen: Das Handy, das wir mit uns tragen, ist ja ein Supercomputer, das uns mit der ganzen Welt verbindet. Ich trage in meiner Hosentasche riesige Bibliotheken mit mir, riesige Filmarchive. Alles ist verfügbar. Aber diese Verfügbarkeit, also Freiheit, hat eine Kehrseite, nämlich dass ich selber auch das Gefühl habe, und nicht zu Unrecht, verfügbar zu werden. Also, jeder kennt ja die Situation, dass er das Handy, dieses kleine Tool, das uns Freiheit gibt, uns auch anbindet. Bei manchen Firmen ist es sogar so, dass sie ihren Mitarbeitern verbieten müssen, nach Dienstschluss noch weiterhin ihre Emails zu bearbeiten. Und abgesehen davon wissen wir ja alle, dass diese Datenkraken immerzu beobachten, was wir da alle so machen. Also, es gibt auch eine Art von unsichtbarer Disziplinierung.
Da sieht man also: Freiheitsgewinn bei gleichzeitig wachsenden Gefühlen der Unfreiheit. Das ist so ein Moment, in dem – glaube ich – viele sagen: Aha, das können wir gar nicht mehr einhegen. Das können wir nicht mehr kontrollieren. Und auch da wird das Museum, wird das Theater, werden die ganzen Arenen der Kultur plötzlich zu Orten der Ersatzhandlung, weil man das Gefühl hat, die ganzen kinderpornographischen Bilder können wir nicht kontrollieren. Aber wir können immerhin im Museum dafür sorgen, dass die Bilder nicht mehr so gezeigt werden wie sie bisher gezeigt wurden.
Pindur: Kunst kann also nur da glaubwürdig auch eben als moralische Instanz oder als richtungweisend oder Debatten anstoßend auftreten, wo es ihr nicht von anderen vorgeschrieben wird, wie sie sich zu verhalten hat.
Rauterberg: Ja, die Kunst wird erst dann lebendig, glaube ich, wenn sie uns überrascht, wenn sie nicht einfach nur das fortsetzt, was wir in unserem Alltagsleben ohnehin kennen, wenn sie in gewisser Weise asozial wird, weil sie unsere sozialen Normen durchkreuzt. Das war immer die Funktion von moderner Kunst.
Anders war es in der Vormoderne, als es der Kunst vor allem darum ging, zu repräsentieren, also den Herrschern zu huldigen oder kirchliche Botschaften zu transportieren oder bürgerlichen Reichtum zu demonstrieren. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir in diese vormodernen Zeiten zurückkehren, wo die Kunst eben nicht mehr diese aufstörende Qualität hat, sondern eher so eine kalmierende, eine befriedende Funktion übernehmen soll. Jedenfalls sehe ich viele Leute, die in der Kunst vor allem Selbstbestätigung suchen.
Pindur: Kunst kann also nur da glaubwürdig wirken, wo sie wirklich frei ist. Aber diese Forderung nach einer freien Kunst scheint mir ein bisschen weltfremd. – Hat es das jemals in der realen Welt tatsächlich gegeben?
Rauterberg: Nein. Wir sind alle natürlich nie total frei. Und die Kunst war es auch nie. Aber es gab diese Idee der Autonomie. Diese Idee der Autonomie kommt so im 18. Jahrhundert auf, dass die Kunst ein Reich eigener Kraft und eigener Macht ist, dass sie ihre Eigenlogik behaupten darf.
Diese Autonomie war natürlich immer auch bedingt. Jeder Künstler lebt in der Welt, in der er lebt, das ist ja völlig klar, und ist nicht luftdicht abgeriegelt. Darum geht es auch gar nicht. Es geht eher darum, dass wir an dieser Idee festhalten. Auch wenn diese Idee sich nie völlig verwirklichen lassen wird, trotzdem ist sie von Reiz diese Vorstellung, weil sie uns erlaubt, abzurücken von dem, was wir im Alltagsleben sind, weil sie die Räume öffnet für Imagination, für Einbildung, für Phantasien, die wir uns sonst nicht gestatten. Und das können auch böse, das können auch abwegige Phantasien sein. Das gibt es ja im 20. Jahrhundert zuhauf, dass wir auch wirklich die krudesten Dinge in der Kunst austragen und erleben können, ohne sie im realen Leben wirklich erfahren zu müssen.
Sie bietet uns damit aber auch die Möglichkeit, unsere Ängste klarer anzuschauen. Es nützt nichts, diese Kunstwerke einfach wegzusperren, weil, die Ängste sind damit natürlich noch längst nicht weggesperrt.