Theatermacher sammeln Vermächtnisse der Risikogruppe
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In der Corona-Pandemie werden Menschen als "Risikogruppe" zur statistischen Größe zusammengefasst. Aber was denken diese Menschen? Wie beschäftigen sie sich mit dem Tod? Das Kunstprojekt "Archiv der lebenden Toten" lässt sie erzählen.
Risikogruppe: Über sie und wie man sie schützen kann, wird seit Beginn der Coronakrise täglich gesprochen. Doch was diese Menschen selber denken, kommt dabei selten vor. Ändern will das nun ein Online-Kunstprojekt, das sich "Archiv der lebenden Toten" nennt. Angehörige der Risikogruppen können hier Videos hochladen, in denen sie sich zu Fragen rund um ihr Leben in der Pandemie äußern.
Unbegreifliches handhabbar machen
Hinter diesem "Archiv der lebenden Toten" stecken jedoch kein Amt und keine Universität, sondern der Leipziger Künstler Alexander Bauer gemeinsam mit einer Dresdner Theatergruppe. Michael Neil McCrae und Romy Weyrauch sind die Gruppe "Theatrale Subversion", in normalen Zeiten machen sie Theater und Performances.
"Archive gewinnen immer dann an Wichtigkeit, wenn eine Zukunft ungewiss erscheint", erklärt Romy Weyrauch, wie es zu dem ungewöhnlichen Archivprojekt kam: "Das Sammeln ist ja vielleicht sogar eine Strategie, um Unbegreifliches handhabbar zu machen und zu einem Verständnis zu gelangen."
Sie und McCrae hätten das Archiv also als eine formal-ästhetische Reaktion auf die Corona-Pandemie gegründet: "Wir haben uns natürlich als Künstler*innen gefragt, wie können wir ein neues Format entwickeln, das im digitalen Raum zu Aufführung kommen muss und in gewisser Weise eben auch nur hier funktioniert."
Zynismus der Statistik
Dabei knüpfe die Gründung des Archivs stark an die sonstige Arbeitsweise des Kollektivs an, das seit jeher intensiv mit Recherchen und "empirischen" Ansätzen arbeite.
Den durchaus drastischen Titel "Archiv der lebenden Toten" verteidigt Weyrauch mit dem Kunstcharakter des Projekts: Sie verstehe, wenn der Titel auf manche Menschen zynisch wirke. "Ich weiß aber gar nicht, ob das so das richtige Wort ist. Wir verstecken ja keine Absichten, wir führen hier auch niemanden hinters Licht oder handeln wider besseres Wissen."
"Im Gegenteil", meint Weyrauch, "man könnte eigentlich sogar eher fragen: Ist der Begriff 'Risikogruppe', also die medial omnipräsente Präsenz der Statistik zur Darstellung der Krise nicht sogar viel zynischer. Also, dass Tod und Lebensgefahr eigentlich sehr, sehr sauber und auch technisch beschrieben werden. Dass der Titel vielleicht ein bisschen zynisch wirkt, ist ja vielleicht auch Indiz dafür, wie verkrampft und unnatürlich unser Umgang mit dem Tod oft auch ist."
Digitales Vermächtnis
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die auf der Website des Projekts bisher ihr digitales "Vermächtnis" hinterlassen haben, hätten sich jedenfalls intensiv diesen sehr persönlichen und intimen Fragen rund um die Möglichkeit des eigenen Sterbens gestellt, berichtet Weyrauch.
Sie habe dabei vor allem berührt, mit wie "viel Liebe und Verantwortung Menschen ihren Nächsten gegenüber haben, dass sie schon zu Lebzeiten anfangen, aufzuräumen." In den Videos erlebe man vielfach eine "gründliche Gelassenheit".
Wichtig sei bei dem ganzen Projekt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die volle Kontrolle über ihre digitalen "Vermächtnisse" behielten, diese also jederzeit umschreiben oder auch ganz löschen könnten. Sollte wirklich jemand sterben, werde mit den Hinterbliebenen besprochen, wie mit den Videos weiter zu verfahren sei.
Bühnenfortsetzung für den Sommer geplant
Im Sommer soll das Projekt dann aus dem digitalen Raum auf die Theaterbühne zurückkehren. Am Europäischen Zentrum der Künste Hellerau in Dresden will die Gruppe eine Mischung aus "Totenfeier" und Dokumentartheater inszenieren. Dann sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer auch von zu Hause, vermittelt über einer 360-Grad-Kamera, den Blick frei durch den Raum schweifen lassen können.