Kunstprojekt "Leavinghome Funktion"

Raus aus der Komfortzone

Von Jasmin Galonski |
Das "Ural"-Motorrad 360 aus Sowjetzeiten ist weltweit bekannt – vor allem für seine Unzuverlässigkeit. Genau deshalb fuhren fünf Künstler aus Halle mit genau diesem Motorrad auf dem Landweg nach New York. Das Scheitern sollte ihr Reiseleiter sein.
"Österreich, Ungarn, Serbien, Bulgarien, Griechenland, Georgien, Russland, Kasachstan, Mongolei, Kanada, Vereinigte Staaten…"
Das Ural Motorrad 360 - ein Produkt der untergehenden Sowjetunion der 80er- und 90er-Jahre. Dieses alte Motorrad mit Beiwagen ist auf der ganzen Welt bekannt –vor allem für seine Unzuverlässigkeit.
Genau darin lag der Reiz für fünf Künstler aus Halle an der Saale, Zypern und Estland. Sie haben auf den sowjetischen Maschinen rund 40.000 Kilometer zurückgelegt - und zwar auf dem Landweg von Halle an der Saale bis nach New York.
"Wir haben in Sibirien 'nen Mann gesehen, der ist mit einer Schubkarre durchs Land gelaufen, der hat uns zweimal überholt. (lachen) Ich glaub mit dem Pferd hätten wir es trotzdem schneller gepackt."
Das erzählt die Bildhauerin Elisabeth Oertel. Sie steht in ihrem eigenen Schlafzimmer vor rund 30 Personen - Rentner, Studierende, Reiselustige - ein bunt gemischtes Publikum. Die Bühne ist der Untersatz ihres Bettes. Darauf liegen Schafsfelle, eine Axt, Motorradteile.

Nur eines ist sicher: die nächste Panne

Neben der improvisierten Bühne steht der Beiwagen einer alten Ural-Maschine. Nach dem Ende ihres Studiums vor drei Jahren wollten die fünf Künstler ihre heimischen Ateliers und Werkstätten verlassen, erzählt Anne Knödler:
"Unsere Idee war eben, diese sichere Zone, diese Sicherheitsgesellschaft ein Stück weit zu verlassen und unsere Komfortzone zu verlassen, um zu gucken, was brauche ich wirklich, um mich sicher zu fühlen? Oder brauche ich diese Sicherheit eigentlich oder ist das ein kreierter Mythos? Und was macht meine Komfortzone eigentlich wirklich aus?"
Zu diesem Zweck scheint das sowjetische Uralmotorrad perfekt geeignet. Denn bei einer Fahrt mit dieser Maschine ist nur eines sicher: Die nächste Panne.
Die "Ural"-Motorräder mit Beiwagen, mit denen die Künstlergruppe "Leaving Home" rund 40.000 Kilometer von Halle/Saale nach New York unterwegs war.
Die "Ural"-Motorräder mit Beiwagen, mit denen die Künstlergruppe "Leaving Home" rund 40.000 Kilometer von Halle/Saale nach New York unterwegs war.© Imago
"Auf der anderen Seite war die Panne, der 'Breakdown' dann so routiniert, dass wir uns fast schon gefreut hatten, weil wir wussten, okay, wenn jetzt ein Motorrad liegen bleibt, gibt’s erstmal Schokolade. Und das war kein Problem, man gewöhnt sich an alles und das hat uns unglaublich geduldig gemacht."
Resümiert Elisabeth Oertel. Das Ural-Motorrad wird auch russisches Lego genannt. Sie ist zwar täglich kaputt, aber es gibt auch überall Ersatzteile, die sich leicht verbauen lassen. Die rund tausend Pannen der Künstlergruppe wurden so zum universellen Kommunikationsmittel, denn egal in welchem Land sie waren, eine qualmende Maschine versteht jeder.

Küchen und Herzen öffnen sich

Und so öffneten sich Panne für Panne die Werkstätten, Garagen und Küchen der Menschen an den entlegensten Orten dieser Welt für die jungen Künstler aus Deutschland.
"Ohne dieses Motorrad und die Art und Weise, wie wir gereist sind, hätten wir nie so viele Leute kennengelernt und wären demzufolge nie so weit gekommen."
Nach ihrer Reise haben die fünf Künstler nun erstmal ihre Ural-Motorräder in dem Hinterhof einer zusammengewürfelten Altbauwohnung in Halle geparkt. In ihrem Wintergarten gibt es auf einem großen Holztisch Bauernbrot in dicken Scheiben, Fischsalat, Hummus und Kraut.
An der Wand hängt eine riesige Stoffkarte der ehemaligen Sowjetunion. Das Publikum trudelt ein. Die fünf Kunstschaffenden haben bewusst zu sich nach Hause eingeladen.
"Uns ging's hauptsächlich darum, dass wir ja jetzt zweieinhalb Jahre von Leuten eingeladen wurden und immer zu Gast waren, und ein großer Teil von den Präsentationen zu Hause ist jetzt eben mal, unsere Türen aufzumachen und die Leute zu uns einzuladen."
In der multimedialen Präsentation "THE THEATRE OF THE URAL - A PLAY IN BREAKDOWNS" nehmen sie ihr Publikum für einen Abend mit in ihre Beiwägen -Panne für Panne.
"Dann haben wir Suppenbrühe gegessen und haben Durchfall gekriegt von dieser Suppenbrühe. Wir hingen da oben, hatten drei Tage nichts gegessen und hatten Durchfall."
im Bild: v.l. Anne Knödler, Elisabeth Oertel, Kaupo Holmberg, Effy Zeniou und Johannes Fötsch waren über 2 Jahre unterwegs von Halle nach New York.
im Bild: v.l. Anne Knödler, Elisabeth Oertel, Kaupo Holmberg, Effy Zeniou und Johannes Fötsch waren über 2 Jahre unterwegs von Halle nach New York.© Imago

Überraschende Wendungen

Die Präsentation ist eine Mischung aus Reisebericht, Lesung und persönlichen Anekdoten. Jede Panne, sei sie technischer, sozialer oder bürokratischer Art, brachte offenbar immer eine überraschende Wendung mit sich. So zum Beispiel, als die Gruppe sich im Norden Russlands durch russisches Militärgebiet bewegte. Ein hohes Risiko, sollte man meinen …
"Irgendwann kam uns so 'ne Rauchwolke entgegen und es kamen uns drei Jeeps entgegen, die ziemlich offiziell aussahen und wir wussten, okay, jetzt kommen die öffentlichen Behörden. Wir wussten aber nicht, wie sie reagieren. Und die kamen, und das Erste, was sie gemacht haben, ist 'ne Flasche Wodka zu öffnen, dann haben sie eine Paprika abgeschnitten, die Paprika mit Wodka gefüllt und jedem so eine Paprika in die Hand gedrückt."
Die Reise der fünf Künstler aus Halle, Zypern und Estland hatte einen künstlerischen Forschungscharakter: Es war ein Experiment im Umgang mit dem Scheitern - ein Grenzgang im allerwörtlichen Sinne. Das Scheitern war von Anfang ihr Reiseleiter.
Doch die unzähligen Pannen haben sie immer wieder fortgetragen, zu immer neuen und unerwarteten Orten und Begegnungen - von Halle an der Saale bis nach New York.

Mehr zu der Reise finden Sie auf der Homepage der Künstlergruppe Leavinghome Funktion

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