Documenta nach Athen als Politik-Ersatz?
Die Documenta in Kassel ist längst zu einem liebgewordenen Ritual verkommen, kritisiert der Essayist Ingo Arend. Sie soll nun teilweise nach Athen umziehen - aber ob das gegen die Sinnkrise der Kunstschau hilft, ist fraglich. Und auch, wie dieser Umzug dem gebeutelten Griechenland helfen soll.
"Wir lassen uns unsere Documenta nicht wegnehmen!" Der Aufschrei in der Kasseler Lokalpolitik klang wie das trotzige Motto der deutschen Nachkriegs-Revanchisten: Zweigeteilt? Niemals! Allein deswegen war man versucht, dem Vorschlag Adam Szymczyks zuzustimmen, die Documenta des Jahres 2017 erst in Athen und dann erst in Kassel stattfinden zu lassen. Vor allem aber wegen dieses Ermüdungseffekts.
Alle fünf Jahre wieder. Längst gleicht die Kasseler Schau einem liebgewordenen Ritual, zu dem die Kunstwelt pilgert, wie die prähistorischen Sonnenanbeter einst nach Stonehenge: Um einen Kotau vor dem Wahren, Schönen, Guten abzulegen. Und um sich der Illusion hinzugeben, den definitiven Stand der Weltkunst schön übersichtlich auf dem Edelstahlteller einer nordhessischen Kleinstadt präsentiert zu bekommen.
Athen ist ein grelles Symbol für Europas Krise
In einer Kunstwelt, die inzwischen fast 200 Biennalen zählt, war die Diskussion über den Zweck dieser profanen Andacht überfällig. Doch ob gegen die Sinnkrise der Documenta ein Umzug hilft? Daran zweifle ich.
Natürlich ist Athen, da hat Szymczyk recht, ein grelles Symbol für die Krise Europas: Die asozialen Folgen des Börsencrashs, das Scheitern der politischen, ökonomischen und der bürokratischen Klasse, den Kollaps des Gemeinwesens. Doch was soll die Kunstwelt "Von Athen lernen"? So hat der Chefkurator seine 14. Documenta genannt. Wie man eine Demokratie mit Rating-Agenturen ruiniert? Wie man Straßenschlachten gegen die Spardiktate der EU-Troika organisiert? Wie Künstler ohne Alterssicherung überleben?
Szymczyks ist skeptisch, auch gegenüber dem arrangierten Hochsitz Kassel. Er will mit dem Standort die Perspektive wechseln. Dabei hat es seinen Reiz, wenn sich alle fünf Jahre die Provinz anschickt, die Welt zu beeindrucken, all die großen Museen und Kunstmessen von New York bis Hongkong in den Rang zu verweisen.
Eine mitleidige Solidaritätsgeste
Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, die Kunstschau zum Ratschlag über die große Krise umzufunktionieren. Doch wenn Szymczyk sie als "aktives Werkzeug der Transformation" beschwört, lauert dahinter die zwiespältige, in 100 mauen Biennalen rund um den Globus zu Tode gerittene Idee einer Kunst, die politisch und sozial "eingreift", ohne je etwas an dieser schlechten Welt geändert zu haben.
Ein temporärer Documenta-Umzug mag Griechenlands bedrohten Kulturinstitutionen ein paar Wochen lang Aufmerksamkeit bescheren. Letztlich läuft das Konzept auf eine mitleidige Solidaritätsgeste statt auf ästhetische Inhalte hinaus. Nur die entstehen – das ist der große Vorteil der Kunst – ortsunabhängig.
"Das Leben ist anderswo", des Documenta-Chefs Argument für die Reise nach Athen, bürdet dem Vorhaben die schwere Last auf, Zeitzeuge zu sein, wo Distanz ertragreicher sein könnte. Nichts ist falscher als die Idee, das Feuer, das die Welt verzehrt, ließe sich nur beschreiben, analysieren, gar löschen, wenn man mitten in ihm sitzt.
Sich am Kunstschopf aus dem Krisensumpf ziehen
Als Carolyn Christov-Bakargiev vor zwei Jahren nach Kabul zog, lagen die Stadt und ihre Kultur buchstäblich in Trümmern. Derlei ästhetische Entwicklungshilfe braucht Griechenland nicht. Und wenn, müsste der Impuls, sich am Kunstschopf aus dem Krisensumpf zu ziehen, von innen kommen.
"No Country For Young Men" hieß die engagierte Ausstellung, mit der die griechische Kuratorin Katerina Gregos in diesem Sommer, nicht in Athen, sondern im Brüsseler Kunstpalast Bozar, die griechische Ratspräsidentschaft der EU herausforderte. Vielleicht sollte man diese Schau einfach auf Tournee um die Welt schicken. Und die Documenta in Kassel lassen.
Dann kämen mehr Menschen in den Genuss der Erfahrung, um die es bei Großausstellungen im Kern geht: Von der Kunst lernen.
Ingo Arend, geboren in Frankfurt am Main, Politologe und Historiker, arbeitet seit 1990 als Kulturjournalist und Essayist für Bildende Kunst, Literatur und Politisches Feuilleton. Von 1996 bis 2010 war er Kulturredakteur der Wochenzeitung Freitag. Von 2007 bis 2009 ihr Redaktionsleiter. Seit 2010 freier Kritiker und Autor der taz. Arend schreibt über Kunst und Politik, Kulturpolitik, Kunst und Kultur der Türkei. 2010 Mitbegründer des türkisch-deutschen Literaturfestivals DilDile. 2013 reiste er mit der Documenta 13 nach Kabul. Er lebt in Berlin.