Kuratoren der documenta 15

Kreativ im Kollektiv abhängen

05:51 Minuten
Das Künsterlkollektiv ruangrupa: Ajeng Nurul Aini, Farid Rakun, Iswanto Hartono, Mirwan Andan, Indra Ameng, Ade Darmawan, Daniella Fitria Praptono, Julia Sarisetiati, Reza Afisina
Das indonesische Künstlerkolletiv ruangrupa ist für die documenta 15 verantwortlich, die 2022 in Kassel stattfinden wird. © Gudskul / Jin Panji
Von Simone Reber |
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Das indonesische Kollektiv ruangrupa leitet die nächste documenta. Hierzulande kennen nur Experten die Gruppe, in Südostasien gehört sie zu den wichtigsten Künstlerinitiativen. Auf der Berlinale zeigte nun ein Mitglied, wie die Gruppe arbeitet.
"Da wir gerade abhängen, steht es jedem offen, einen Kommentar abzugeben, etwas zu sagen oder zu fragen. Der Prozess ist völlig offen."
Das Publikum ist tief in die Sitzsäcke gesunken oder richtet sich kerzengerade von Papphockern auf. Mirwan Andan hält einen blauen Schaumstoffwürfel in der Hand, in dem ein Mikrofon versenkt ist und wirft ihn durch die Luft zu den Zuhörerinnen und Zuhörern, die Fragen oder Anmerkungen haben.
Die gemütliche Veranstaltung im Rahmen der "Berlinale Talents" führt vor Augen, wie das Künstlerkollektiv arbeitet. "To hang out", gemeinsam abhängen, Zeit miteinander verbringen, lautet das Grundprinzip von ruangrupa.
Die Künstlerinitiative hat sich im Jahr 2000 in Jakarta gegründet, zwei Jahre nach dem Sturz des Diktators Suharto. In der neuen Offenheit, sagt Mirwan Andan, wollten alle etwas machen: "Die Offenheit lag in der Luft und jeder wollte wirklich etwas tun oder zeigen."

In der "Gudskul" lernt man kollektives Arbeiten

Ruangrupa startete in einem angemieteten Wohnhaus. Die Ideen entstanden in gemeinsamen Gesprächen. Die Gruppe organisierte Musikfestivals, entwickelte ein mobiles Kino, das auf einem Moped über die Dörfer fährt, eröffnete eine Galerie, in der die Künstler selbst ihre Werke verkaufen können und gründete schließlich gemeinsam mit zwei anderen Initiativen die "Gudskul". In einer ehemaligen Sporthalle entstand eine alternative Kunstschule, in der die Studentinnen und Studenten kollektives Arbeiten lernen.
Die Vielfalt Indonesiens spiegelt sich auch in der Zusammensetzung von ruangrupa wider, sagt Mirwan Andan: "Wir sind sehr vielfältig. In Indonesien gibt es sechs offizielle Religionen: Islam, Protestantismus, Katholizismus, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus. Jetzt hat die Jokowi-Regierung auch den traditionellen Glauben Indonesiens anerkannt. Wir kommen aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen und deshalb lernen wir, einander wertzuschätzen."

"Konflikte werden überschätzt"

Mirwan Andan hat Politologie und französische Literatur studiert. Er betreibt eine Buchhandlung und übernimmt für ruangrupa die Recherche. Wie die Gruppe mit eigenen Konflikten umgehe, will eine Zuhörerin aus China wissen. Konflikte, antwortet Mirwan Andan, werden überschätzt:
"Konflikte gibt es überall, sie werden dramatisiert. Wir finden immer andere Wege. Zum Beispiel Kochen oder Karaoke. So gehen wir mit unseren Konflikten um. Ich bin sicher, dass wir eigentlich alle Konflikte hassen. Sie vermindern die Qualität unseres Menschseins, unserer Menschlichkeit."
Überraschend war die Information, dass nur ein einziges Mitglied von ruangrupa die documenta je gesehen hat. Aber, relativiert Mirwan Andan die Aussage später, wir kennen die documenta als Institution natürlich: "Wir haben das lange diskutiert, der ganze Bewerbungsprozess hat sehr lange gedauert. Und als wir dann ausgewählt wurden, haben wir gesagt: 'Okay, wir machen das.'"

"Lumbung" lautet das Konzept für Kassel

Jetzt will ruangrupa auch die documenta aus dem Prinzip des Abhängens heraus entwickeln. Die Gruppe war vor Ort und hat sich Museen, Cafés und andere Treffpunkte angeschaut. "Lumbung" lautet ihr Konzept für Kassel. Lumbung bezeichnet eigentlich die Reisscheune in einem Dorf. Mirwan Andan übersetzt es mit "ein gemeinsamer Topf":
"Das ist ein Weg, gemeinsam zu überleben. Wir übertragen dieses Konzept auf die documenta auf zweierlei Art. Zum einen wollen wir Künstlerkollektive aus der ganzen Welt zu einer Institution vereinen. Und zum anderen organisieren wir eine Ausstellung. Uns interessiert weniger das Riesending, das man mit Händen greifen kann, lieber kleine und viele Initiativen."
Für ergebnisorientierte Zuhörer klingt das noch etwas vage. Ruangrupa scheint es nicht eilig zu haben. Aber möglicherweise entsteht in Kassel gerade der Reiz aus dem Zusammenprall eines formlosen Gedankenaustauschs mit der traditionellen Organisation der Großausstellung.

Das Beste ist die Ausnahme

Mirwan Andan hat ein Jahr Deutsch auf dem islamischen Internat gelernt und bewundert die Struktur der Grammatik:
"In der deutschen Gesellschaft, das habe ich von der Sprache gelernt, ist alles sehr strukturiert. Die Geschlechter, regelmäßige und unregelmäßige Verben, aber das Beste ist: Es gibt immer eine Ausnahme. Die Ausnahme ist für mich ein sehr starkes Konzept, um mehr herauszufinden."
Ein bisschen globales Netzwerk, ein bisschen WG-Küche – die nächste documenta wird wohl den Fokus verschieben: weg von den westlichen Kunstheroen hin zu vielfältigen Verknüpfungen, und das alles mit hinreißender Gelassenheit. Beim Abhängen mit ruangrupa wird die aufregendste Erfahrung in Kassel möglicherweise der großzügige Umgang mit Zeit werden.
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