Bangen um Kobane
Die internationalen Kamerateams vom türkischen Nachbarhügel sind abgezogen und liefern nicht mehr täglich Kampfbilder aus Kobane. Die meisten der rund 200.000 Einwohner sind inzwischen in die Türkei geflohen, die restlichen Bewohner trotzen der Terrormiliz IS.
Auf einem staubigen Platz vor der Moschee des kurdischen Dorfes Maasara sitzen rund 150 Menschen um Lagerfeuer herum, essen türkisches Gebäck und trinken Tee. Es sind Kurden aus der nahe gelegenen Kreisstadt Suruç im Südosten der Türkei. Von dem Platz aus kann man den mit gelben Scheinwerfern beleuchteten Grenzzaun zu Syrien sehen. Gleich dahinter liegt Kobane, die ebenfalls von Kurden bewohnte Stadt, die seit Mitte September von der Terrorgruppe Islamischer Staat belagert wird. Die Menschen auf dem Platz halten Nachtwache als Zeichen der Solidarität. Aus einem geparkten Auto dringt Musik: ein Lied über Kobane.
Die Männer starren in die Glut und diskutieren über die Geländegewinne der kurdischen Miliz der Volksschutzeinheiten, kurz YPG. Seit Wochen verteidigt sie die Stadt gegen die Islamisten. Ältere Frauen mit bunt geblümten Kopftüchern unterhalten sich über die gefallenen Kämpfer. Jugendliche haben Schals in den kurdischen Farben rot, gelb und grün um Hals oder Kopf gewickelt.
Immer wieder donnern Flugzeuge durch die Wolken. Die von den USA angeführte internationale Allianz schickt Kampfjets, um die kurdische Miliz zu unterstützen. In dieser Nacht fliegen sie kaum Angriffe, denn dichter Nebel verschleiert die Sicht. Doch wenn ein Bombeneinschlag zu hören ist, klatschen die Menschen an den Lagerfeuern. Der 48-jährige Muhammed Yavuz, buschiger Schnurrbart, dichtes schwarzes Haar, kommt fast jeden Tag zur Nachtwache. Er wohnt in dem Dorf.
"Alle hier freuen sich, wenn sie die Bomben hören. Dann wissen sie, dass wieder ein paar von diesen Monstern aus der Welt geschafft wurden."
Gleich hinter seinen Feldern verläuft der Grenzzaun und gleich jenseits davon liegt ein syrisches Dorf, keine 500 Meter von seinem Haus entfernt.
"Jetzt ist da niemand mehr, nur die IS-Leute. Bis 1957 die Grenze gezogen wurde, gehörte das alles hier zusammen. Wir haben alle Verwandte da drüben. Als der IS das Dorf angriff, kamen die 43 Familien zu uns herüber. Wir haben sie bei uns aufgenommen. Die Regierung hat sie in Lager gebracht, damit sie sie jederzeit wieder wegschicken kann. Aber wir bauen hier jetzt neue Häuser, damit wir mehr Menschen aufnehmen können."
Friedensgespräche seit 2009
Die meisten der rund 200.000 Einwohner aus Kobane sind inzwischen geflohen und in Suruç untergekommen. Die Solidarität unter den Kurden diesseits und jenseits der Grenze ist groß – ebenso wie das Misstrauen gegenüber der türkischen Regierung. Seit mehr als 35 Jahren kämpfen die Kurden in der Türkei für eine Autonomie. Seit 2009 laufen Friedensgespräche und die Lage hat sich merklich entspannt. Doch dann begann der Krieg in Syrien. Dort haben die Kurden in den Kriegswirren drei de facto autonome Regionen etabliert; aber seit etwa zwei Jahren werden sie immer wieder von Islamisten attackiert. Zur Gegenwehr gründete sich 2012 die YPG-Miliz. Sie gilt als Ableger der PKK.
Die Kämpfe in den syrischen Kurdengebieten beeinflussen damit auch den Friedensprozess in der Türkei. Je länger die Schlacht um Kobane andauert, desto mehr heizt sich die Stimmung dort wieder auf. Bei Unruhen im Oktober wurden bereits 35 Menschen getötet. Viele Kurden glauben sogar, dass die türkische Regierung den IS unterstützt, um eine kurdische Autonomie in Syrien zu verhindern, so auch Muhammed Yavuz.
"Die Präsidenten der Türkei, Syriens, des Irak und des Iran wollen nicht, dass wir unseren eigenen kurdischen Staat bekommen. Sie sind dafür verantwortlich, dass der IS uns angreift. Jetzt sollen wir unsere Dörfer räumen. Die Regierung will sie benutzen, um IS-Kämpfer zu versorgen und ihnen Waffen zu liefern."
Beweise für solche Anschuldigungen gibt es nicht, und Kenner der Region halten es auch für sehr unwahrscheinlich, dass die türkische Regierung den IS aktiv unterstützen würde. Aber man kann ihr wohl vorwerfen, nicht genug dagegen zu unternehmen, dass IS-Kämpfer über die Türkei nach Syrien oder den Irak reisen. Die Solidaritätsaktionen für Kobane sind jedenfalls auch als Protest gegen die Regierung zu verstehen.
"Lang lebe Kobane, lang lebe die YPG, die Märtyrer sind unsterblich", skandieren die Menschen an den Lagerfeuern. "Lang lebe der Präsident Apo." Damit meinen sie den seit 15 Jahren inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan, den seine Anhänger wie einen Propheten verehren.
Die 13-jährige Eda Aslan ist mit ihrer Mutter zur Nachtwache gekommen und wärmt sich an einem der Feuer. Sie trägt eine graue Sportjacke, Jeans und Chucks. Um den Kopf hat sie sich nach Art der Guerilla-Kämpfer eine schwarz-weiße Kufiya gewickelt, die man in Deutschland als Palästinensertuch kennt. Ihre Mutter Emine, eine mollige fröhliche Mittvierzigerin, trägt einen langen schwarzen Rock und ein blaurotes Kopftuch, das nur locker ihr Haar bedeckt. Die beiden sind selbst direkt von dem Konflikt betroffen. Vor gut einem Jahr, als der IS begann, die kurdischen Gebiete in Syrien anzugreifen, hatte sich Edas Bruder der YPG angeschlossen.
"Er hat auf Facebook immer Videos und Bilder davon gesehen, wie der IS unsere Leute dort auf diese barbarische Art tötet. Er hat es nicht mehr ausgehalten und ist nach Syrien gegangen, um unser Volk zu verteidigen."
Seit der IS die kurdischen Gebiete in Syrien bedroht, findet die YPG starken Zulauf, auch von Kurden aus der Türkei. Hunderte junge Männer und Frauen haben sich ihr angeschlossen, meist ohne Wissen der Familie. Emines Sohn kam eines Tages nicht mehr nach Hause.
"Er ist einfach gegangen. Ich wäre dagegen gewesen, aber dann habe ich mir gesagt: es gibt nichts, was ich tun kann, es ist seine Entscheidung. Möge Gott ihn beschützen."
Kämpfer und Märtyrer
Er wurde Anfang Oktober im Kampf um Kobane verwundet; eine Kugel streifte seine Schläfe. Zunächst sah es so aus, als würde er überleben, aber nach neun Tagen im Krankenhaus in Suruç starb er, kurz nach seinem 26-sten Geburtstag. Einen Kämpfer in der Familie zu haben, gilt als große Ehre – und mehr noch einen Märtyrer. So nennen sie jene, die im Kampf um die kurdische Sache getötet wurden. Die 13-jährige Eda würde es ihrem Bruder am liebsten gleichtun und auch nach Kobane gehen.
"Ich möchte mich den Kämpfern anschließen und die Waffe meines Bruders tragen, aber meine Eltern lassen mich nicht."
Ihre Mutter Emine ist zwar stolz auf ihren Sohn, doch ein Märtyrer in der Familie sei genug, sagt sie. Wer einmal zu den Kämpfern geht, kehrt nicht wieder zurück – es sei denn in einem Sarg. Das wissen die Angehörigen.
Dieser Tage finden in Suruç häufig Beerdigungen statt. Fast täglich werden gefallene kurdische Kämpfer aus Kobane über die Grenze gebracht. Auf einem Platz vor dem kleinen Krankenhaus der Stadt warten Angehörige auf den Leichenwagen. Rund 200 Leute stehen zwischen geparkten Krankenwagen vor der Treppe zum Leichenschauhaus. Etwa die Hälfte sind Einwohner aus Suruç. Sie sind gekommen, um den Angehörigen beizustehen, wie auch Emine und Eda. Solidarität zu zeigen ist ihnen wichtig, wenn sie sonst schon nicht viel für Kobane tun können.
Zwei junge Männer und eine Frau sollen heute gebracht werden. Der jüngste war gerade einmal 18 Jahre alt. Seine Mutter, eine schmale Mittdreißigerin mit verhärmtem Gesicht, sitzt auf einer Bank in einem kleinen Park vor dem Krankenhaus, umringt von rund zwei Dutzend anderen Frauen. Sie schluchzt und wehklagt unablässig, schlägt den Kopf vor und zurück und die Hände vors Gesicht. Zwei Verwandte stützen sie. Sie trägt ein dünnes weißes Kopftuch, das Erkennungszeichen, dass sie die Mutter eines gefallenen Kämpfers ist. Emine und Eda setzen sich ein paar Meter entfernt zu ein paar anderen Frauen aus Suruç, die ebenfalls gekommen sind, um der Familie beizustehen. Eine ältere Frau um die 60 – beleibt, weiter Rock mit Blumen-muster und ebenfalls mit weißem Kopftuch – macht ihrem Unmut über die Flüchtlinge aus Kobane Luft.
"Bei meiner Mutter, all diese Syrer kommen zu uns, und unsere Kinder kämpfen an ihrer Stelle. Die ganze Stadt ist voller Syrer."
Eine Frau aus Kobane, die ein Stück entfernt sitzt, ruft zu ihr hinüber:
"Wie kannst du so etwas sagen? Vor 20 Jahren hat meine Schwester hier mit der PKK gekämpft und sie ist dabei getötet worden. Haben wir uns da vielleicht beschwert?"
Doch die alte Frau redet unbeirrt weiter.
"Die haben da Familien mit sechs, sieben Kindern, aber keines davon ist als Märtyrer gefallen. Wir alle hier haben Kinder, die kämpfen, aber viele von denen dort tun gar nichts."
Emine, die neben der alten Frau sitzt, schaltet sich ein:
"Hör auf damit! Ist das nicht genauso bei uns in Suruç? Hier gibt es auch Familien, von denen niemand kämpft. Also sag nicht, dass das nur bei den Syrern so ist. Was sollen sie denn machen? Sie haben auch Kinder, die gefallen sind."
Aber die alte Frau hört nicht auf zu lamentieren. Am Ende platzt Emine der Kragen; sie steht auf und geht.
"Du solltest nicht so reden. Ihre Schwester ist hier gefallen! Bei uns in der Türkei gibt es auch Kurden, denen das alles egal ist."
200.000 Flüchtlinge aus Kobane
Der soziale Druck ist groß. Viele Kurden sehen es als Makel, wenn eine Familie keinen Kämpfer in ihren Reihen hat. Und wegen all der Flüchtlinge aus Kobane steigen auch die Spannungen in Suruç. Die kleine Kreisstadt hat rund 60.000 Einwohner, aber diese Zahl hat sich durch die Flüchtlinge in den letzten Wochen mehr als vervierfacht. Zu jeder Tageszeit sind die Straßen voll. Auf einem kleinen Platz im Zentrum stehen dutzende älterer Männer, rauchen und unterhalten sich – unter ihnen viele Syrer, in ihren typischen langen, grauen Gewändern und den rot-weißen Kufiya-Tüchern auf dem Kopf. Gegenüber vor der Polizeiwache stehen gepanzerte Fahrzeuge mit Wasserwerfern bereit, um bei Unruhen gleich einzugreifen. Nervös dreinschauende Polizisten mit Schutzwesten patrouillieren davor.
Die meisten der rund 200.000 Flüchtlinge aus Kobane sind bei Verwandten untergekommen oder in Camps rund um Suruç. Eines davon liegt am nördlichen Rand der Stadt an einer Landstraße. Es wirkt gut organisiert. Rund 200 graue, röhrenförmige Zelte sind dort in Reihen nebeneinander aufgestellt. Sie sind mit Folien gegen die Kälte isoliert und mit Decken ausgelegt. Zwischen den Zelten haben die Bewohner Wäscheleinen aufgespannt, an denen Hosen, Pullover und Kinderkleider in der Spätnachmittagssonne trocknen. Die Stimmung ist besser als man erwarten würde. Die Menschen haben immer noch Hoffnung, dass die kurdische Miliz Kobane bald zurückerobern wird und sie dann rasch wieder nach Hause kommen, so auch die 17-jährige Medina Khalil.
"Trotz der schlimmen Ereignisse hoffen wir, dass wir bald zurückkönnen. Nach dem, was wir hören, soll es wohl nicht mehr lange dauern."
Die kleine burschikos wirkende junge Frau hat eine Freundin untergehakt und ist auf dem Weg zu ihrem Zelt. Sie trägt eine rot-weiss-grün geringelten Pulli und Pferdeschwanz. Sie kommt aus einem Dorf in der Nähe von Kobane, das auch vom IS eingenommen wurde.
"Sie haben unser Dorf bombardiert, aber wir haben uns gesagt, sie werden es nicht bis hierher schaffen – genauso, wie schon die vielen Male zuvor, als sie uns angegriffen ha--ben. Aber als dann jeden Tag mehr Bomben fielen, mussten wir fliehen. Wir blieben erst an der Grenze. Da waren so viele Menschen. Wir sagten uns, wir werden nicht in die Tür-kei gehen, wir werden bald wieder nach Hause kommen. Aber dann haben sie uns auch dort bombardiert. Viele Menschen sind gestorben. Uns blieb nichts anderes übrig als hier-her zu kommen."
Die Jugendlichen aus Kobane organisieren Unterricht für die Kinder. Die letzte Stunde ist gerade vorbei. Medina zeigt das Schulzelt am Rand des Camps. Ein paar alte Bänke stehen darin aufgereiht, die Hilfslehrer haben die Decke mit Luftballons dekoriert. Einige der Kinder zeigen ihre gemalten Bilder. Es herrscht eine Atmosphäre wie im Ferienlager. Medina Khalil kümmert sich um die Drei- bis Vierjährigen.
"Uns geht es zwar nicht gut, aber die Kinder sollen sich nicht so fühlen wie wir. Deshalb haben wir diese Schule hier für sie eingerichtet und Spielsachen hergebracht, damit sie nicht auch traurig werden."
Eine von Medinas Freundinnen nimmt eine Handtrommel von einem der Tische und stimmt ein Lied an. Mit Musik vertreiben die Jugendlichen sich die Zeit und machen sich gegenseitig Mut. Obwohl sie versucht, das Beste aus ihrer Situation zu machen und die Hoffnung nicht zu verlieren, möchte Medina nur nach Hause zurück. Aber von Kobane stehen inzwischen nur noch Ruinen.
"Ich bin sehr traurig. Sie geben uns hier alles, was wir brauchen, aber ich kann mich nicht darüber freuen. Nirgendwo ist es so wie zu Hause."