Von der Wasserkur zum Whirlpool-Spaß
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Im 19. Jahrhundert waren sie ein beliebter Treffpunkt für bedeutende Persönlichkeiten, heute überleben Kurbäder vor allem durch Wellness-Gäste. Elf geschichtsträchtige Bäder bewerben sich nun gemeinsam als Weltkulturerbe.
"Wir stehen im Pouhon Pierre le Grande, einem uralten Brunnen von Spa, der nach Peter dem Großen benannt ist. Man kann dieses eisenhaltige Wasser trinken." Das Wasser schmeckt in der Tat stark nach Eisen, und im Abgang nach Schwefel. Das muss man mögen. Aber es sei gesund, beharrt Gaetan Plein: "Persönlich trinke ich anderthalb bis zwei Liter pro Tag. Ich fühle mich sehr wohl. Und ich bin 62."
Sein Alter sieht man Gaetan nicht an. Er ist schlank, mit verschmitztem Gesichtsausdruck. Gaetan Plein ist Künstler und Stadtführer. Und vor allem ist er "Spadois" aufgewachsen, also wohnhaft in Spa, dem legendärsten aller Kurorte Europas. Spa liegt in der Wallonie, dem französischsprachigen Teil Belgiens, in einem Talkessel, malerisch umgeben von den bewaldeten Hügel des Hohen Venn. Von Brüssel, Luxemburg und Köln ist man mit dem Auto jeweils in anderthalb Autostunden hier, von den belgischen Kanalhäfen in guten zwei.
Peter der Große in Spa
Von Moskau aber ist Spa sehr weit weg. Das gilt noch heute und erst recht, als Peter der Große das Heilbad besuchte. Der russische Zar war Ende des 17. Jahrhunderts inkognito durch Westeuropa gereist. Sein Ziel: Russland aus der Rückständigkeit zu befreien. Im Jahr 1716 brach er erneut auf. Er besuchte verschiedene Königshöfe, um Allianzen zu schmieden und sein Land ins europäische Staaten-System einzubinden.
"Peter der Große kam im Jahr 1717 hierher. Sein Arzt hatte ihm empfohlen, dieses Wasser zu trinken. Spa war eine einfache Stadt mit einigen Strohhäusern und einem kleinen Palais. Die Leute lebten hier ohne Protokoll, ganz einfach. Peter der Große blieb beinahe fünf Wochen, was eine lange Zeit war."
300 mineralhaltige Quellen gibt es im Umland von Spa, sieben in der Stadt selbst. Diesen Quellen verdankt Spa seinen Namen, darin sind sich Sprachforscher einig. Über Kurgäste aus Großbritannien hat der Begriff Spa dann Eingang in die englische Sprache gefunden: Erst als Wort für Heilbad, heute auch für Wellness-Einrichtungen. "Spa, dieses Wort kommt wirklich von dieser Stadt. Das ist keine Arroganz."
Blütezeit im 19. Jahrhundert
Das Zentrum von Spa bildet das alte Kurbad, ein wuchtiger Sandsteinbau aus dem Jahr 1880, mit toskanischen Säulen und Abbildern römischer Götter. Daneben liegt das Casino, das älteste der Welt, erbaut im Jahr 1763 und gegenüber der Parc de Sept Heures. Er wird zurzeit umgebaut, darunter entsteht ein Parkhaus. Früher pflegten sich die "Bobelins", wie die Kurgäste im Spa genannt werden, um 19 Uhr im Park zu treffen, um in den Wandelgängen von Pavillon zu Pavillon zu flanieren. "Die Blütezeit für Kurorte in Europa war das 19. Jahrhundert, l’époque merveilleuse."
Komponisten wie Jacques Offenbach und Giacomo Meyerbeer kurten hier, britische Politiker wie Disraeli und Wellington, französische Schriftsteller wie Alexandre Dumas und Victor Hugo. Außerdem Banker und viele gekrönte Häupter. "Über Politik redete man nicht. Man konnte über vieles reden, aber nicht über die gefährlichen Dinge in der Politik, der Moral oder der Religion."
Auch Wilhelm II. war hier, allerdings nicht als Kurgast. In den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs befand sich das Große Hauptquartier des deutschen Heeres in Spa. Von Spa aus ging der letzte deutsche Kaiser ins Exil in die Niederlande.
Heilbad für die Massen
Vom Parc de Sept Heures führen zwei gläserne Aufzüge auf einen Hügel. Sie verbinden das Zentrum von Spa mit der neuen Therme, einem Bau aus Glas und Beton, die über dem Ort thront. Im einen der beiden Lifte zwei Kurgäste in weißen Bademänteln: Gerard Dubois mit seiner Frau Elaine. Den Vormittag haben sie in der Therme verbracht, nun geht es zum Ausruhen auf ihr Hotelzimmer.
"Wir übernachten hier. Ich bin beruflich viel unterwegs. In Spa kann man gut runterkommen, hier ist alles viel gemächlicher."
Oben auf dem Hügel wartet Sévérine Philippin. Sie leitet die Therme. Vor 20, 30 Jahren hätte sie den Titel des Kurdirektoren getragen. Damals erlebte Spa eine zweite Blüte, wie viele Kurorte in Deutschland auch. Die Krankenkassen genehmigten ihren Versicherten freigiebig Auszeiten vom Arbeitsalltag – in Form von Kuren. Spa wurde zum Heilbad für die Massen, mit 10.000 Gästen im Jahr, die zwei, drei, manchmal vier Wochen blieben. Bis die Krankenkassen in den 90er-Jahres des 20. Jahrhunderts begannen, den Geldhahn zuzudrehen.
"Damit musste sich die Art des Thermalbadens ändern, in Richtung Wellness. Bei uns gibt es immer noch dieselben Anwendungen wie vor 150 Jahren, in denselben Kupferwannen wie damals. Aber wir haben unser Angebot erweitert, um Schönheitsbehandlungen und verschiedene Massagen; um Dinge, die Menschen verlangen, die Behandlungen aus der eigenen Tasche zahlen müssen."
Die Therme hat Spa gerettet
Sévérine Philippin führt durch das Thermalbad, vorbei an Becken und Whirlpools, die unterschiedliche Temperaturen und einen je eigenen Gehalt an Mineralien aufweisen. Das Bad wirkt austauschbar, es könnte überall in Europa stehen – und es ist ein Erfolg. Es zieht pro Jahr mehr als 190.000 Badegäste an, überwiegend Tagesbesucher. Nur fünf Prozent der Touristen übernachten in Spa, selten länger als von einem Tag auf den nächsten. "Einerseits ist das schade", befindet Sévérine Philippin. Andererseits habe die Therme Spa gerettet. 17 Millionen Euro hat sich die Stadt den Bau kosten lassen – gegen massiven Widerstand der Bevölkerung.
"Die Menschen in Spa sind sehr konservativ. Das hat sich nicht nur bei der Entscheidung für oder gegen das Thermalbad gezeigt. Es zeigt sich auch immer wieder im Verhältnis zum Tourismus im Allgemeinen. Die Leute wollen zwar, dass Besucher kommen, aber nicht zu viele, sie wollen, dass Spa eine ruhige, kleine Stadt bleibt. Andererseits verdanken wir dem Tourismus unsere Dynamik. Wir haben viele Restaurants, viele Events und viele Jobs, viel mehr als andere Städte mit gerade mal 10.000 Einwohnern. Andere Städte dieser Größe kämpfen ums Überleben, sie leiden unter Bevölkerungsschwund."
Spas Altstadt ist von dreistöckigen Backsteinbauten mit hölzernen Kassetten-Fenstern und schmiedeeisernen Balkonen geprägt. Die meisten waren einmal Hotels. Auch das Rathaus war einmal ein Hotel, das Hotel de Ville. Eine knarzende Holztreppe führt hinauf. Auf dem Treppenabsatz Möbel von einst: eine Chaiselongue, ein samtbezogenes Sofa, fein gedrechselte Stühle. Sie sind nicht aus-, sondern abgestellt, als wüsste man nicht, wohin damit.
Elf Kurbäder wollen Weltkulturerbe werden
Unter dem Dach sitzt Anne Pirard. Sie ist als Stadträtin zuständig für die Anerkennung des Spas als Weltkulturerbe durch die UNESCO und somit auch für die Zukunft des Ortes.
"Die Idee ist schon vor vielen Jahren entstanden, im Jahr 2006. Sie kam ursprünglich aus der Bürgerschaft. Die Stadt und die Region Wallonien sind erst später mit eingestiegen. Wir als Stadt haben die Federführung übernommen und bald festgestellt, dass auch andere Kurbäder daran arbeiten, als Weltkulturerbe anerkannt zu werden. Die jeweiligen Bürgermeister haben sich getroffen und beschlossen, das Projekt gemeinsam zu verfolgen."
Daraus ist ein Verbund von elf Kurbädern in sieben Ländern entstanden: The Great Spas of Europe. Mit dabei sind Vichy in Frankreich, Karlsbad in der Tschechischen Republik, die Montecatini-Therme in Italien. In Deutschland gehören Bad Ems und Baden-Baden dazu. Die Bewerbung ist im März eingereicht worden. Für den Herbst werden die Inspekteure der UNESCO in Spa erwartet.
Anne Pirard: "Weltkulturerbe zu sein, bringt kein Geld. Im Gegenteil, wir müssen Geld zum Erhalt und zur Restaurierung historischer Gebäude aufbringen. Aber wir hoffen, dass die Anerkennung als Weltkulturerbe nicht nur Besucher anlockt, sondern auch Investoren – und dass Spa neue Anziehungskraft bekommt. Wir wollen die Stadt weiterentwickeln, nicht nur für unsere Besucher, sondern auch für die Lebensqualität unserer Bürger. Sie sollen wieder stolz auf ihre Stadt sein, das ist uns auch sehr wichtig."
The Great Spas of Europe: Bad Ems
Hans-Jürgen Saarholz hat in Bad Ems die Funktion, die Anne Pirard in Spa bekleidet: Er ist verantwortlich für den Nominierungsprozess. "Ja, hier haben wir das Nominierungsdokument. Es ist ganz eindrucksvoll, das mal in physischer Form zu sehen, nachdem wir jahrelang daran gearbeitet haben. Das sieht man ja schon optisch: sechs Bände, 1400 Seiten."
Saarholz blättert durch das Konvolut. Es wirkt edel, auf Hochglanz getrimmt: "Ganz wichtig ist: Wir sind ein Gut. Also nicht elf aneinandergereihte einzelne Städte, sondern ein Gut, the Great Spas of Europe. So schlägt sich das auch im Nominierungsdokument nieder. Und natürlich sind innerhalb des Dokuments einzelne Abschnitte über die einzelnen Städte, wie Baden-Baden oder Bad Ems."
Saarholz ist kein Arzt, wie man in einem Kurort vermuten könnte, sondern Historiker. Er empfängt im Heimatmuseum, das er leitet, zwischen alten Messingbechern, Zinkwannen und Inhalationsgeräten, mit denen die Kurgäste das Wasser aus den Emser Quellen tranken, darin badeten oder es inhalierten. Hauptkriterien für die Anerkennung als Weltkulturerbe sind die Authentizität und die Integrität des Stadtbildes.
Kurorte als Vorreiter bei der Erschließung der Landschaft
Saarholz schlägt eine Landkarte auf: "Das ist eine ganz wichtige Karte, die die Struktur des Kurortes aufzeigt. Das müssen alle Kurorte bieten. Es muss verschiedene Stadtviertel geben, die sich rings um die Thermalquelle entwickelt haben, also das Kurviertel mit Kurhaus und Kursaal. Das Gelbe hier sind Gebäude für die Unterkunft: Hotels, Villen. Ganz wichtig ist auch die Kurlandschaft, also die umgebende Landschaft. Das ist ja nicht einfach Wald, sondern frühzeitig erschlossene Landschaft. Die Kurorte waren Vorreiter darin, die Landschaft zu erschließen, mit Aussichtspunkten und so. Die Kurorte sind in der Regel in sehr schöner Umgebung mit spektakulären Aussichten. Und das ist ganz wichtig: die enge Verbindung zwischen dem bebauten Ort und der unmittelbar umgebenden Landschaft."
Bad Ems ist ein Postkartenidyll. Jedenfalls von der Bäderleibrücke aus betrachtet. Sie überspannt die Lahn, die zwischen den bewaldeten Hügel des Westerwaldes am Nordufer und des Taunus im Süden mäandert. Vorbei am Grandhotel, in dem schon Johann Wolfang von Goethe kurte, und Wilhelm I. einen ganzen Flügel bewohnte, als er noch König von Preußen war und noch nicht Kaiser von Deutschland. Vorbei am neobarocken Kurhaus. Es wurde im Jahr 1715 erbaut und in der Mitte des 19. Jahrhunderts um einen Kursaal und eine von Kastanien gesäumte Kolonnade erweitert. Vorbei auch an der russisch-orthodoxen Kirche, deren vergoldete Zentralkuppel die Gebäude in der Umgebung überragt. Seit Zar Alexander II. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner Frau Elisabeth, einer Deutschen, hier kurte, ist Bad Ems bei Russen beliebt. Anfangs bei Adligen, später bei Schriftstellern wie Fjodor Dostojewski und Iwan Turgenjew. Heute kommen vereinzelt reiche Geschäftsleute.
Kürzere Kuraufenthalte
Ein Ausflugsdampfer schippert unter der Bäderleibrücke durch. Eine Stimme vom Band erklärt die Sehenswürdigkeiten. An Bord sind fünf, sechs Fahrtgäste. Auch auf der Promenade entlang der Lahn sieht man kaum Kurgäste.
"Es liegt daran, dass die Kliniken auf der Höhe gebaut wurden. Und diese Höhe wird verbunden durch die Kurwaldbahn. Aber die Leute, die in den Kurkliniken oben wohnen, die kommen nicht mehr in die Stadt runter, weil sie von morgens bis abends Anwendungen haben. Die Kur ist ja auch sehr verkürzt worden und deshalb haben sie keine Zeit, hier in der Stadt einzukaufen."
Karin Pohlmann steht auf der Römerstraße, der Flaniermeile von Bad Ems. In ihrem Rücken der Saal des Kurhauses. Drinnen findet ein Klavierkonzert statt – mit vielleicht 15 Zuschauern. Sie blickt auf ein Schaufenster aus dunklem Glas. Dahinter das reinste Chaos: Papierbündel liegen verstreut herum, alte Büromöbel stehen kreuz und quer, dazwischen Trödel aller Art. Auf der verschmutzten Markise steht in verblichener Schrift "Kur-Drogerie". Das Geschäft hat einst Karin Pohlmanns Vater gehört, als junges Mädchen hat sie dort hinter dem Verkaufstrensen gestanden.
"1960 ist er hier in diese damals neu gebaute Drogerie eingezogen. In den 60er-Jahren war hier alles sehr schön und sehr großartig. Auf der rechten Seite der Drogerie war eine große Buchhandlung. Und außerdem war hier im Kurgebiet ein Geschäft neben dem anderen, eine Hutmacherin, ein Schmuckladen oder ein Andenkenladen. Und eine Apotheke natürlich und ein sehr gutes Restaurant."
"Die Kur ist ja ein bisschen verpönt"
Heute ist nicht mehr viel davon zu sehen. Das Eiscafé Colonnade hat längst dicht gemacht und das Literaturcafé daneben ist nur am Sonntagnachmittag geöffnet. Ein paar Antiquitätenläden halten noch durch und ein Sanitätshaus. Es wird gerade mit Dusch- und Toilettenrollstühlen beliefert.
"Die Kur ist ja ein bisschen verpönt", seit die Gesundheitsreform Eingriff genommen hat. Alle zwei Jahren durfte man früher kuren. "Das fällt heute weg, das hat natürlich einen großen Einbruch in Bad Ems gebracht", sagt Karin Pohlmann. Der Einbruch lässt sich auf das Jahr 1996 datieren. Die Krankenkassen ächzten damals unter den Kosten für das Kursystem.
Gesundheitsminister Horst Seehofer setzte den Rotstift an: Kuren wurden von vier auf drei Wochen verkürzt, Genehmigungen erschwert, Patienten mussten Urlaubstage für Kuren opfern und höhere Zuzahlungen leisten. Binnen Jahresfrist gingen die Übernachtungen in Bad Ems um ein Drittel, von 333.000 auf 224.000, zurück.
Es ist ein Schicksal, das die meisten deutschen Kurbäder erlitten und von dem sich viele bis heute nicht erholt haben. In Bad Ems hat sich die Besucherzahl zwar wieder um die 300.000 eingependelt, aber es kommt eine andere Klientel. Statt Arbeitnehmern, die sich auf Kosten der Krankenkassen eine Auszeit nehmen, mit Kurschatten, gelegentlichen Anwendungen und dem unbedingten Willen, sich zu amüsieren, sind es vor allem Rekonvaleszenten, die weder viel ausgehen noch einkaufen. Karin Pohlmann bedauert die Entwicklung: "Mir tut es schon weh. Schade. Aber das ist der Lauf der Zeit."
Ein geschichtsträchtiger Ort
Die Eingangshalle von Bad Ems ist marmorgefliest. Abends spenden Kandelaber im Kursaal warmes Licht, antike Sessel laden zum Verweilen. Vor den Toren des Kursaals fand am 13. Juli eine historische Begegnung statt. "Nur ein paar Meter von hier wurde unser König Wilhelm, der gerade von seiner morgendlichen Trinkkur nach Hause gehen wollte – er wohnte im Kaiserflügel des Kurhauses und wollte frühstücken – von Graf Benedetti angesprochen", erzählt Karin Pohlmann.
Wilhelm I. war damals König von Preußen, Graf Benedetti französischer Botschafter. Die spanische Thronfolge war zu regeln und die beiden Länder hatten lange gegensätzliche Positionen bezogen: Preußen favorisierte einen Hohenzollern, Frankreich einen Bourbonen. Der Streit war eigentlich durch einen Verzicht Preußens beigelegt. "Aber Napoleon III. reichte nicht, dass der Thron nur das eine Mal nicht von den Deutschen besetzt wird, sondern er wollte es ein für alle Mal so regeln. Das war unserem König zu viel und er hat sich ein bisschen böse von Graf Benedetti verabschiedet, obwohl die beiden zwei die Tage vorher nette Gespräche miteinander führten."
Ein Berater des preußischen Königs schrieb eine Mitteilung an Reichskanzler Otto von Bismarck, berühmt geworden als Emser Depesche. Bismarck veröffentlichte sie, stark gekürzt. Sechs Tage nach der Begegnung auf der Kurpromenade von Bad Ems erklärte Frankreich Preußen den Krieg.
Bad Ems – früher einmal der Nabel der Welt
"Und Wilhelm wurde Kaiser, im Spiegelsaal von Versailles." Karin Pohlmann betritt den Kursaal, ein wahres Prunkstück. Der Saal wurde in Form einer Basilika errichtet. 32 rötliche Marmorsäulen tragen ein Galeriegeschoss und eine kunstvoll verzierte Kassettendecke. "Es gab Bälle, es gab hier Konzerte. Bad Ems war der Nabel der damaligen Welt. Und hier trafen sich die Stars und Sternchen der damaligen Zeit. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Aber es war so."
Wo Jacques Offenbach einst seine "Opéras bouffes", seine komischen Opern uraufführen ließ, und die Pianistin Clara Schumann konzertierte, werden heute Abend die neuen Kurgäste mit einer Flasche Wasser und einem Vortrag über die Geschichte von Bad Ems begrüßt. Eine von ihnen ist Christa aus dem Bergischen Land. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen.
"Ich bin hier in der Reha-Klinik und werde aufgrund einer Hüft-OP behandelt. Der Ort gefällt mir. Was mir besonders gefällt, ist, dass man an der Lahn sitzen kann. Die Klinik hat einen direkten Zugang zur Lahn, man kann da sitzen, lesen und gucken. Das ist schon sehr schön."
Die Begrüßung der neuen Kurgäste ist eine Tradition in Bad Ems. Außer Christa verlieren sich noch vier weitere Frauen und ein Mann im riesigen Kursaal. Alle in ihren 70ern, alle nur eingeschränkt mobil. Karin Pohlmann seufzt.
Baden-Baden: Jüngeres und internationales Publikum
"Wir setzen natürlich auch ganz groß auf die Great Spas of Europe und hoffen, dass wir im nächsten Jahr alle ins Weltkulturerbe eingetragen und aufgenommen werden. Das würde für Bad Ems nochmal einen Schwung nach oben geben. Hoffentlich."
Im Gegensatz zu Bad Ems ist Baden-Baden sehr belebt. Radfahrer fahren über die Lichtentaler Straße im historischen Zentrum, Fußgänger flanieren, Sonnenanbeter ruhen in den Liegestühlen vor dem Springbrunnen auf dem Leo, dem Leopoldsplatz. Gefühlt sind die Kurgäste 30 Jahre jünger als in Bad Ems. Unter den Touristen sind auch Familien mit Kindern.
Das Publikum ist international: Frauen in Nihabs oder Kimonos, Männer in Pluderhosen oder Kilts. Unter anderem spricht man hier Arabisch, Japanisch, Englisch, Russisch und Spanisch.
Die Lichtentaler Straße und ihre Seitengassen sind verkehrsberuhigt. Eine edle Boutique reiht sich hier an die nächste, ein Grand Hotel, mit makellosen Fassaden, schmiedeeisern Balkonen, und raumhohen Fenstern ans andere. An einer Ecke spielt ein Kammerorchester Songs der Beatles – Straßenmusik à la Baden-Baden.
Auch Baden-Baden liegt in einem lang gestreckten Tal. Die Kurbäder befinden sich auf halber Höhe: die moderne Caracalla-Therme, die so auch in Berlin, Hamburg oder München stehen könnte und das historische Friedrichsbad, das einen zweieinhalbstündigen Badegang mit sanften Temperaturwechseln anbietet.
Im stuckverzierten Renaissance-Saal im ersten Stock sitzt Hermann Wittich vor einem frühen Foto. Es zeigt Männer in Anzughosen, Hemd und Westen, mit Schlips und Kragen und gewaltigen Schnäuzern beim Stemmen von Hanteln. "Damals, 1884, war es das erste Fitness-Studio in Deutschland. Die Gerätschaften haben sich im Gegensatz zu den Outfits der Trainierenden nicht groß geändert."
Selbstzahler statt Kassenpatienten
Hermann Wittich ist in den 1970ern nach Baden-Baden gekommen. Er hat in verschiedenen Funktionen im Bäderbetrieb gearbeitet. Heute leitet er die Thermen. Wittich hat miterlebt, wie sich Baden-Baden Anfang der 1980er zu einem radikalen Schritt entschloss. Als die ersten Gesundheitsreformen griffen, beschloss Baden-Baden, statt weiter auf Kassenpatienten verstärkt auf Selbstzahler zu setzen.
"Wir standen da in der Öffentlichkeit ziemlich im Kreuzfeuer. Die Alternative wäre gewesen, alles aufrechtzuerhalten, aber letzten Endes wäre das zu Lasten der Kunden gegangen. Ich möchte Ihnen ein kurzes Beispiel geben. Wir haben im vierten Obergeschoss riesige Marmorbadewannen, die dort eingelassen sind. Dort gab es Sauerstoffbäder, CO2-Bäder, also klassische Einzelanwendungen. So etwas ist jedoch von der Kasse minimal bepreist, sodass man das Ganze nicht mehr wirtschaftlich betreiben konnte. Da ist der eine Punkt. Der andere Punkt: Auch die Gesellschaft hat sich komplett verändert. Bis Anfang der 80er war es noch die klassische Industrie, die zur Kur kam, also die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mit dem Wandel der Arbeitswelt haben sich auch das Verhalten und die Ansprüche der Kunden verändert. Während früher der medizinische Aspekt im Vordergrund stand, ist es heute der Gedanke der Entspannung und der Erholung."
"Wer zu uns kommt, schätzt vor allem das Naturerlebnis und die kulturelle Vielfalt", zitiert Nora Waggershausen, die Geschäftsführerin der Kur & Tourismus GmbH, aus Gästebefragungen. Mit im Schnitt 2,4 Tagen werden die Aufenthalte immer kürzer, dafür kommen Gäste häufiger. Im Jahr 2016 hat Baden-Baden bei den Übernachtungen erstmalig die Millionengrenze geknackt, seitdem liegen die Zahlen konstant darüber. Hinzu kommen Kongresse und Tagungen, mit dem Treffen der Finanzminister der G20, der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, im Jahr 2017 als Höhepunkt. Zum Gipfel hat die "New York Times" Baden-Baden einen Artikel gewidmet. Überschrift: "The Belle Époque meets the Age of Instagram". Alles gut also in "Deutschlands kleinster Weltstadt", wie Baden-Baden für sich wirbt?
Entwicklungsdruck in Baden-Baden
"Was heißt alles gut? In welcher Stadt ist alles gut?" – Lisa Pötschki sitzt in ihrem Büro im Rathaus von Baden-Baden. Es sieht aus wie ein Hotel: Um einen lauschigen Innenhof gruppieren sich je zwei ocker- und malvenfarbene Flügel, stuckverziert, mit schmiedeeisernen Balkonen. Dumm nur, dass Lisa Pötschki im Dachgeschoss arbeitet. In ihrem Büro ist es stickig, ein Ventiltor surrt vergeblich gegen die Hitze an.
Lisa Pötschki ist die Stadtplanerin von Baden-Baden und leitet die Stabsstelle für die Bewerbung zum Weltkulutrerbe. "Ich glaube, eine Stadt mit Touristen ohne Verkehrsprobleme oder eine attraktive Stadt ohne Entwicklungsdruck, gibt es heute kaum noch. Wir haben eine große Menge an historischer Bausubstanz, wir haben historische Villengebiete. Wir haben attraktive Lagen innerhalb der Stadt und wir haben eine große Nachfrage nach Immobilien, die für unterschiedliche Zwecke genutzt werden wollen, entweder für den Dienstleistungssektor oder zum Wohnen zum Beispiel. Man muss schon gut aufgestellt sein, um mit angemessenen Mitteln darauf reagieren zu können."
Dass Baden-Baden in dieser Hinsicht gut aufgestellt ist, daran lässt Lisa Pötschki keinen Zweifel: Bettenburgen, wie sie viele andere Kurbäder für Kassenpatienten hochziehen ließen, hat es hier nicht gegeben. Das hat schon früh eine Bauordnung verboten. In den 1970er-Jahren wurden die Villenviertel ausgeweitet, die sich an die Innenstadt anschließen. Eine Erhaltungssatzung schützt historische Bauten, eine Gesamtanlagenschutzsatzung stellt das historische Zentrum unter Denkmalschutz.
"Man wird nicht Weltkulturerbe, man ist es"
Lisa Pötschki tritt ans Fenster. Von hier oben genießt man einen fantastischen Blick über die Stadt, über den Kurpark an der Oos mit Kur- und Trinkhalle und dem Spielkasino, in dem der russische Schriftsteller Fjodor Dostejewski sein letztes Geld verzockte – was ihn zum Roman "Der Spieler" inspirierte. Dostojewski, Jacques Offenbach, Clara Schumann – es sind immer dieselben Namen, die einem in den Great Spas of Europe begegnen. Lisa Pötschki zufolge ist das kein Wunder. "Es gab zum Ende des vorletzten Jahrhunderts 1500 Bäderstädte in Europa. Einige von ihnen hatten eine herausragende Bedeutung, weil sie international vernetzt waren, eine internationale Klientel und ein internationales kulturelles Angebot hatten. Diese Orte waren auch die Geburtsorte des Tourismus. Es hat sich eine sogenannte Gesellschaftskur entwickelt, die sich nicht nur um das Baden kümmerte, sondern um das ganze gesellschaftliche Leben rundherum."
Im Grunde wächst hier also etwas zusammen, was einmal zusammengehörte. Das sei gut, sagt Lisa Pötschki. Sie hat keine Zweifel, dass die Great Spas of Europe das begehrte Prädikat erhalten werden: "Man wird nicht Weltkulturerbe, man ist es."