Kursbuch Nr. 180, erschienen im Murmann Verlag zum Preis von 19 Euro.
"Pep Herberger" und anderes Nichtwissen
Von Ahnungslosigkeit, muddling through, Wissen, Glauben und Meinen: Das neue "Kursbuch" - das 1965 etwa von Hans Magnus Enzensberger gegründete und seit 2012 neu aufgelegte Kultur- und Theorie-Magazin - beschäftigt sich mit "Nicht wissen".
Wer vom Wissen spricht, spricht immer auch vom Nichtwissen. Dass das eine ohne das andere nicht existieren kann, hat der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal in eine schöne Metapher gefasst:
"Das wissenschaftliche Wissen ist eine Kugel, die im All des Nichtwissens schwimmt und beständig größer wird. Mit ihrem Wachsen vergrößert sich ihre Oberfläche, und mit dieser vermehren sich auch die Berührungspunkte mit dem Nichtwissen."
Das Bild wirft die Frage auf, ob mit dem Größerwerden der Kugel, das Nichtwissen schneller wächst als das Wissen. Oder anders formuliert: Ob die wissenschaftliche Forschung mehr Nichtwissen produziert als Wissen. Liest man das neue Kursbuch, lässt sich das durchaus vermuten. "Nicht wissen" ist sein Thema, und dass es ohne Ausnahme jede wissenschaftliche Disziplin durchzieht, zeigt sich bereits beim Blick ins Inhaltsverzeichnis. Ein gutes Dutzend Aufsätze, darunter: „Ich habe keine Ahnung" des Hirnforschers Ernst Pöppel. Oder "Überwachen und Steuern" des Politologen Karsten Fischer. Harald Lesch, der die Metapher Blaise Pascals anführt, rätselt als Physiker "Warum bin ich ein Mensch?". Und der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer fragt – nicht ganz so grundsätzlich, doch nicht weniger spannend: "Muss der Partner einen Seitensprung gestehen?" Die, rein subjektiv, schönste Überschrift gelingt Hans Ulrich Gumbrecht, dem Literaturwissenschaftler der Stanford University, der Nichtwissen im Sport thematisiert: "Pep Herberger". Adrian Kreye, Feuilleton-Chef der Süddeutschen Zeitung und diesmal Autor vom "Brief des Lesers", resümiert also ganz zu Recht:
"Es ist wie immer der reine publizistische Luxus, dass sich Autoren in so unterschiedlichen Formen wie der Erzählung, dem Fotoessay oder der wissenschaftlichen Betrachtung einem Thema nähern, das so komplex und dramatisch den Zeitgeist bestimmt. Da sprüht diese Neugier aus den Seiten."
Was treibt Gesellschaften an, was hemmt sie?
Typisch Kursbuch. Das Kultur- und Theorie-Magazin – 1965 von Hans Magnus Enzensberger gemeinsam mit Karl Markus Michel gegründet – glänzte von Beginn an durch intellektuelle Vielfalt. Roland Barthes, Samuel Beckett, Uwe Johnson, Jean-Paul Sartre, Martin Walser, Auschwitz, Apartheit, der Iran und China waren Autoren und Themen der ersten beiden Ausgaben. Drei- bis viermal im Jahr mischte das Kursbuch fortan aktuelle Debatten auf und wurde in den 1960-ern zu einem wichtigen Organ der außerparlamentarischen Opposition. Bis 1975 war Hans Magnus Enzensberger an Bord. Und auch danach blieb das Kursbuch eine Institution. 2008 jedoch war Schluss, die Auflage unrettbar gesunken. Tilman Spengler, zuletzt verantwortlich, stellte das Magazin ein. Nun ist es wieder da. Seit 2012 sind im Murmann Verlag elf Ausgaben erschienen; mit dem Münchener Soziologen Armin Nassehi als Herausgeber und Chefredakteur Peter Felixberger. Deren erklärtes Ziel für das Kursbuch lautet:
„... wieder eine Institution werden". Die Autoren aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Medien werden darüber nachdenken, was moderne Gesellschaften prägt und verändert, was sie antreibt und hemmt, was sie befreit und behindert."
Nichtwissen kann sinnvoll sein
Ob das klappt? Das sollte man vielleicht Ernst Pöppel fragen. Der Hirnforscher musste, wie er im aktuellen Heft schreibt, bereits Auskunft darüber geben, "ob Hunde bessere Haustiere sind als Katzen" oder "warum Feiertage so schrecklich sein können". Seine Zunft solle auf alles eine Antwort haben. Dabei wisse sie verschwindend wenig. Gäbe das allerdings nicht zu. Großartig, wie Pöppel den Neuro-Pop skizziert und nebenbei die Eitelkeit einer Disziplin, die sich heute an vorderster Wissens-Front sieht. Da sind die Psychologen vielleicht einsichtsvoller. Zwar erklärt Wolfgang Schmidbauer leider nicht, wie der Titel seines Aufsatzes suggeriert, ob der Partner einen Seitensprung gestehen soll, doch dass Nichtwissen sinnvoll sein kann, das erläutert er eindrucksvoll. Wie auch Karsten Fischer, der die Überwachungspraktiken des Staates in Zeiten terroristischer Bedrohung thematisiert und zu dem eindeutigen Schluss kommt: "Eine Sicherung der Freiheitsausübung, die Freiheitsrechte verletzt, wäre verfehlt".
Nichtwissen, das wird in diesem Kursbuch Nr. 180 deutlich, bedeutet nicht zwangsläufig Mangel oder Manko. Es ist nicht nur unvermeidlich, sondern bisweilen gar wünschenswert. In der Medizin allerdings, nun ja, da hätte man es lieber anders. Doch gerade die Ausweitung diagnostischer Verfahren generiere ständig neue Unsicherheiten und zwinge den Arzt zum muddling through, zum Durchwurschteln, so der Soziologe Werner Vogd über Nichtwissen in der Medizin. Das erinnert dann wieder an Blaise Pascal und seine Wissenskugel im All des Nichtwissens. Sie wachsen tatsächlich beide gemeinsam.