Kurz und kritisch

Von Uwe Stolzmann |
Der Autor Sebastian Groß untersucht die Weltsicht gefangener Wehrmachtssoldaten. Jochen Hellbeck gewährt Einsicht in lange verschwundene Dokumente über die Schlacht von Stalingrad. Und das Tagebuch von Werner Otto Müller-Hill gibt Aufschluss über die Arbeit eines Heeresrichters.
Sebastian Groß: Gefangen im Krieg. Frontsoldaten der Wehrmacht und ihre Weltsicht
be.bra Verlag Berlin

"Gefangen im Krieg" - so lautet der wunderbar doppeldeutige Titel einer weiteren Studie über die Abhörlager der Alliierten. In diesem Fall: über britische Quellen. Soldaten der Wehrmacht erzählen. Sie tun es im engen Rahmen der eigenen, vom Krieg geprägten Welt, und sie waren tatsächlich gefangen, in Geheimlagern bei London. Ihre Gespräche wurden auf Wachsplatten mitgeschnitten und abgeschrieben.

Jede Analyse solcher Quellen kämpft mit denselben Problemen: Die Platten existieren nicht mehr, nur Textkopien, Akten. Wussten die Soldaten, dass sie abgehört wurden? Und was fand Eingang in die Archive, was fehlt? Aber jede Studie ist trotz dieser Fragen ein Juwel. Denn dichter kommt man nicht heran an die Landser; man schaut quasi in ihre Köpfe.

Das Werk von Sebastian Groß, Jahrgang 1981, ist allerdings nur mit Vorsicht zu empfehlen. Was er über die Haltung der Soldaten zu Führer, Kriegsverlauf und Verbrechen, auch über die politische Gleichgültigkeit zu sagen hat, findet man ähnlich in anderen Studien, vor allem bei Felix Römer. Nur Sebastian Groß nutzt eine Art Wissenschaftsjargon voller Monstersätze und Passiv-Konstruktionen, mit Substantivitis, falschen Bildern, logischen Ungereimtheiten.


Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht
S. Fischer Verlag Frankfurt

Stalingrad - ein Schreckenswort. Es erinnert an das Duell zweier Diktatoren, an Hunderttausende Tote. Die Stadt an der Wolga wurde zum Friedhof einer deutschen Armee und - dauerhaft - zu einem Trauma.

Seltsam: Die sowjetische Seite, die Seite der Überfallenen, kommt in unserer Sicht auf die Stadt bislang kaum vor. Es sei denn als amorphe, atavistische Masse, ein Heer stummer Krieger, von Politkommissaren brutal in die Schlacht getrieben. Dieses Bild wird sich nun, nach einem sensationellen Fund, ändern.

Im Dezember 1942 waren Moskauer Historiker nach Stalingrad gereist. Sie führten 215 Gespräche - mit Soldaten und Sanitäterinnen, Kampffliegern, Kommandeuren, Arbeitern und Agitatoren, und fast alle äußerten sich frei, selbstbewusst, verblüffend offen. Nach dem Krieg mochte Stalin solche Offenheit nicht länger dulden, die Mitschriften verschwanden im Archiv.

Jochen Hellbeck, Jahrgang 1966, hat die Papiere mit Hilfe russischer Kollegen kürzlich entdeckt. Hunderte Seiten. Auf einmal beginnt die stumme Stadt zu sprechen. Hautnah, mit Klang und Kolorit erleben wir, was "Stalingrad" bedeutete. Verblüffend: Hellbeck erkennt in den Rotarmisten von damals autonome Individuen, die mit Enthusiasmus für den Kommunismus in den Kampf zogen. An solcher Lesart mag der Leser zweifeln. Doch die Kraft, Tragik und Schönheit des Stalingrader Chores wird ihn überwältigen.


Werner Otto Müller-Hill: "Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert". Das Kriegstagebuch eines deutschen Heeresrichter 1944/45
Siedler Verlag

Hatten Wehrmachtssoldaten Kenntnis vom Holocaust? Und konnten sie im Krieg zwischen Realität und Nazi-Lügen unterscheiden? Nein, sagten Überlebende. Doch, behaupten Historiker. Ein Dokument, eben publiziert, gibt den Wissenschaftlern Recht: das Tagebuch eines Militärrichters, begonnen im März 1944. Seine Kollegen in Uniform fällten Zehntausende Terrorurteile. Er aber war offenbar kein Blutrichter: Werner Otto Müller-Hill, geboren 1885 in Freiburg.

Das unter Lebensgefahr geführte Tagebuch zeigt keinen Kriegsgegner, aber einen Gegner des Regimes. In der Wehrmacht, so unterschied er fein, gebe es besonders viele "anständige Menschen". Das NS-System hingegen sei "elendste Tyrannis", der Kreis um Hitler eine Clique von "Verbrechern". Stauffenbergs Attentat fand er "fabelhaft", "Hut ab!".

Der stumme Gegner Müller-Hill erfuhr aus Berichten: Unterm schönen Schein der Propaganda gab es "Judenmord im größten Maßstab". Über das Kriegsende machte er sich schon im September 44 keine Illusionen: "die komplette Niederlage!" Und er fürchtete, was danach kommen könnte: die flächendeckend rasche Verdrängung jeder braunen Schuld.

Bei Kriegsende war er 60, wurde Oberstaatsanwalt, 1977 ist er gestorben. Zum Helden taugt der Jurist wenig. Doch seine Notizen, spannend zu lesen, sind ein Zeugnis für Mut, Weitsicht und Zivilcourage.
Cover: "Gefangen im Krieg" von Sebastian Groß
Cover: "Gefangen im Krieg" von Sebastian Groß© be.bra verlag Berlin
Cover: "Die Stalingrad-Protokolle" von Jochen Hellbeck
Cover: "Die Stalingrad-Protokolle" von Jochen Hellbeck© S. Fischer Verlag Frankfurt
Cover: "Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert“ von Werner Otto Müller-Hill
Cover: "Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert“ von Werner Otto Müller-Hill© Siedler Verlag