Kurz und Kritisch

#Auschwitz ist befreit!

Das Konzentrationslager Auschwitz Birkenau
Das Konzentrationslager Auschwitz Birkenau © picture alliance / dpa / Foto: Patrick Van Katwijk
Von Christian Rabhansl |
Der Zweite Weltkrieg als Twitter-Tweets: Was ungewöhnlich klingt, funktioniert in Kombination mit dem Buch "Als der Krieg nach Hause kam" auf verblüffende Art. Und in "Passierschein, bitte!" wird das heutige Russland beschrieben. Keine rosiges, aber ein ehrliches Bild.
140 Zeichen, das ist weniger als eine SMS. Das genügt für einen kurzen Gruß, ein rasches Statement, einen knappen Kommentar. Denkt man. Doch Moritz Hoffmann und seinem vierköpfigen Historikerteam genügen die 140 Zeichen einer Twitter-Nachricht, um Geschichte in die Gegenwart zu bringen.
"27. Januar, 09:00: Ein russischer Soldat der Aufklärungstruppe des 106. Korps trifft im KZ-Außenlager Auschwitz-Monowitz ein"
Diese Nachricht haben sie am 27. Januar 2015 verschickt, am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Und genauso kurz und knapp werden sie weitertwittern.
"14. Februar, 01:07: In Dresden wird zum zweiten Mal Luftalarm ausgelöst. In der Innenstadt ist der Strom ausgefallen, die Sirenen bleiben stumm"
"14. Februar 01:45: Viktor Klemperer wird bei der erneuten Flucht in den Keller von seiner Frau getrennt und irrt durch das brennende, windige Dresden"
Die Autoren kombinieren ihr fortlaufendes Twitter-Projekt mit einem gedruckten Buch: "Als der Krieg nach Hause kam". Buch und Tweets brauchen einander nicht, doch sie ergänzen einander. Denn manch Erklärungsbedürftiges sperrt sich dem Format der 140 Zeichen. Wenn zum Beispiel Frauen zu Hause Soldaten an der Front heiraten - mutmaßlich gefallene Soldaten wohlgemerkt.
"Als der Krieg nach Hause kam"
Cover: "Als der Krieg nach Hause kam: Heute vor 70 Jahren - Chronik des Kriegsendes in Deutschland" von Moritz Hoffmann © Propyläen Verlag
"20. März, 11:00: Die Standesämter werden angewiesen, Totentrauungen nur noch zu schließen, wenn die Braut ein Kind erwartet"
Auf Papier finden die Historiker mehr Raum für Fotos und erläutern, wie das vonstattenging: ein Stahlhelm auf dem Tisch vertrat den Bräutigam.
Ein ungewohnt anschauliches Geschichtsbuch
Viele Bilder, Texteinschübe, graphisch aufgelockert – Moritz Hoffmann hat ein ungewohnt anschauliches Geschichtsbuch vorgelegt, nicht boulevardesk, sondern im besten Sinne populärwissenschaftlich, mit vielen Fakten und Hintergründen. Das können die Tweets nicht leisten. Trotzdem geht das Experiment auf.
Denn wer die Tweets abonniert, erlebt die Geschichte in der Gegenwart: Die historischen Ereignisse erreichen uns auf dem Smartphone, zwischen heutigen Nachrichtenmeldungen und Facebookupdates, egal ob beim Frühstück, auf dem Weg zur Arbeit oder abends in der Schlange vor dem Kino.
"1. Mai 21:20: Stabsarzt Stumpfegger verabreicht den Kindern von Joseph Goebbels Zyankali, Magda Goebbels zerdrückt sie im Mund"
Der Effekt ist verblüffend.
Begleitende Tweets: www.twitter.com/DigitalPast

Moritz Hoffmann: "Als der Krieg nach Hause kam: Heute vor 70 Jahren - Chronik des Kriegsendes in Deutschland"
Propyläen Verlag, München 2015
256 Seiten, 16,99 Euro

Sieben Jahrzehnte Jahre später. Der Zweite Weltkrieg ist vorüber, der Kalte Krieg auch. Die Sowjetunion zerfallen. Die Ukraine schwankt zwischen West und Ost. Noch ist die Krim nicht annektiert. Es ist der Herbst 2013.
Nancy Aris macht sich auf den Weg nach Wladiwostok. Sie recherchiert für einen Roman, will die Geschichte eines deutschen Kaufhauses erforschen. Was sie erlebt, ist so ungewohnt, oft skurril, manchmal anrührend, gelegentlich beängstigend, dass sie ein weiteres Büchlein verfasst: Ihr Reisetagebuch.
Das liest sich wie der Bericht einer Bekannten: sehr persönlich, manchmal zu lang, einiges will man gar nicht wissen, heimlich angefertigte Fotos, private Gedanken, das Wetter, die Mahlzeiten, der Toilettengang. Was banal beginnt, gewinnt durch eben dadurch eine Glaubwürdigkeit – und verrät viel über das alltägliche Leben.
"Passierschein, bitte!"
Cover: "Passierschein, bitte! Nachtnotizen aus Wladiwostok" von Nancy Aris © Mitteldeutscher Verlag
Kein rosiges Bild vom heutigen Russland
Hilfsbereite Menschen und selbsternannte Aufpasser, all die Formulare, Vorschriften und Passierscheine. Unwägbarkeiten, die sich mithilfe freundlicher Menschen dann doch oft umgehen lassen. Es ist kein rosiges Bild, dass Nancy Aris vom heutigen Russland zeichnet. Doch nie entsteht der Eindruck, sie sei mit vorgefertigter Absicht angereist – die eigenen Vorurteile gesteht sie sich ein, benennt sie deutlich. Das lässt das Buch so ehrlich erscheinen.

Nancy Aris: "Passierschein, bitte! Nachtnotizen aus Wladiwostok"
Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2014
160 Seiten, 9,95 Euro

Mehr zum Thema