Die Hartz IV Diktatur. Inge Hannemann, eine Arbeitsvermittlerin klagt an, Rowohlt Verlag Reinbek, 256 Seiten, 9,99 Euro
Flaschensammeln ist nichts für Faule
Die Ex-Arbeitsvermittlerin Inge Hannemann bescheinigt dem Jobcenter fehlenden Respekt vor Arbeitslosen. Kurt Bohr beschreibt Ideen, Hartz-IV-Karrieren zu durchbrechen. Und Münchner Studenten fanden in Interviews heraus: Flaschensammeln ist harte Arbeit.
Inge Hannemanns Anklage wäre ein Fall fürs Controlling. Doch stattdessen leisten sich Bundesagentur für Arbeit und Stadt Hamburg einen zähen Rechtsstreit mit ihrer freigestellten Arbeitsvermittlerin. Sicher, was sie schreibt, ist starker Tobak für eine Mitarbeiterin einer Behörde.
Sie hält den Umgang der lokalen Jobcenter mit Langzeitarbeitslosen für menschenunwürdig. Getragen von einem neoliberalen Geist sei das Sozialhilfesystem "Hartz IV" zu einer Diktatur geworden, die gleichermaßen Berater wie Arbeitssuchende in festem Griff habe, die sozialdarwinistisch angelegt sei, indem sie die Schwachen immer mehr an den gesellschaftlichen Rand dränge und die schließlich recht einseitig Eigenverantwortung zur Staatsethik erhebe.
Politisch entscheidend aber erscheinen jene Passagen, in denen sie der zehn Jahre alten Arbeitsmarktreform vorhält, ihren eigenen Ansprüchen immer weniger gerecht zu werden: dass zu jedem Fordern auch das Fördern gehöre, dass Agenturen für Arbeit und Jobcenter Spielräume hätten, kreativ und unter lokalen Gesichtspunkten aus einer Fülle von Instrumenten auszuwählen, dass die Arbeitsvermittlung ihr Tun ständig selbstkritisch überprüfe.
Stattdessen, so Inge Hannemann, verschanzten sich die Arbeitsbehörden hinter ausufernder Bürokratie. Und die Mitarbeiter würden nicht einmal die hauseigenen Arbeitshilfen im Sinne ihrer "Kunden" anwenden. Der Langzeitarbeitslose erfahre Willkür. Eine helfende Hand werde ihm nicht geboten. Es seien vor allem die Sanktionen, mit denen er immer wieder bestraft würde, die Vertrauen und Motivation zerstörten.
Und es sei der Mangel an Bereitschaft, innerhalb und zwischen Behörden zusammenzuarbeiten, der verhindere, persönliche Handicaps erfolgreich anzugehen: fehlende berufliche Grundkenntnisse, familiäre Probleme, Schulden ebenso wie Drogensucht.
Er ist kein radikaler Kritiker der rot-grünen Arbeitsmarktreformen, denen Peter Hartz seinen Namen gab. Vielmehr will er einen neuen Impuls geben. Mit dem ehemaligen Personalvorstand von Volkswagen ist er sich sogar darin einig, nicht hinzunehmen, dass Langzeitarbeitslose auch durch den Rost einer erneuerten Arbeitsvermittlung fallen.
Kurt Bohr war als SPD-Politiker Chef der Staatskanzlei des Saarlandes unter Oskar Lafontaine. Jetzt plädiert er dafür, ernst zu machen mit einem Dritten Arbeitsmarkt. Nachdem viele gutgemeinte Instrumente von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bis zu Ein-Euro-Jobs gescheitert seien, wirbt er für ein radikal anderes Modell, von dem er meint, dass es sich rechnen könnte, auch wenn es auch zunächst einmal teuer erscheint.
Rund 1700 Euro monatlich, also den gesetzlichen Mindestlohn auf Vollzeitbasis, sollten kommunale, aber auch private Arbeitgeber für ungelernte Tätigkeiten zu zahlen bereit sein. Etwa die Hälfte dieses Lohnes würde ja bereits heute durchschnittlich als Sozialhilfe ausgezahlt. Als Gegenleistung könnten Langzeitarbeitslose als Hilfskräfte in der Schule, bei der Pflege von Parks und Grünanlagen, in der Kranken- und Altenpflege oder für Sicherungsaufgaben eingesetzt.
Betreut von kommunalen Beschäftigungsgesellschaften sollten sie – und das ist Kurt Bohr wichtig – schrittweise durch vielerlei Trainingsmaßnahmen auf einen regulären Berufsalltag vorbereitet und schließlich sogar für einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt qualifiziert werden.
Es gelte, Hartz-IV-Karrieren zu durchbrechen, sie nicht länger von Generation zu Generation zu vererben. Parallel dazu will er deshalb jungen Leuten aus bildungsfernen Familien Schule im Ganztagsbetrieb anbieten und insbesondere Schulversager mit berufsnahen, praktischen Angeboten doch noch für eine Ausbildung interessieren.
Hartz IV ist kein Schicksal. Kurt Bohr über Wege aus dem sozialen Abseits. Verlag J.H.W. Dietz Bonn, 144 Seiten, 12,90 Euro
In der Innenstadt Flaschen zu sammeln ist ein echter Job, aber nicht für Faule. Ehrgeiz und Ehrgefühl gehörten schon dazu, freiwillig eine so harte Arbeit auf sich zu nehmen, bei der man vielleicht acht Stunden unterwegs ist und allenfalls sechs bis zehn Euro dafür erhält.
Natürlich würden sie nicht mitnehmen, was andere wegwerfen, wenn sie nicht Geld verdienen müssten, weil Arbeitslosenhilfe oder Rente nicht ausreichen. Aus Not zu betteln, entspräche jedoch nicht ihrem Lebensgefühl. Sie wollen ihre Nebeneinnahmen selbst verdienen – und zwar durch eine Tätigkeit, die ihnen sinnvoll erscheint und sich nach Belieben einteilen lässt.
Dieses Bild haben Flaschensammler von sich in Interviews gezeichnet, die 35 Studenten der Hochschule München während einer Forschungswerkstatt mit ihnen geführt haben.
Es war vor allem das Schamgefühl, das die angehenden Sozialarbeiter im Selbstversuch beschäftigte, das Schamgefühl, vor den Augen von Passanten zielstrebig von Papierkorb zu Papierkorb zu laufen. Die Sammler-Profis dagegen behaupten, es interessierte sie kaum noch, was Umstehende denken und sagen.
Eher schon müssten sie sich in Acht nehmen vor aggressiven Konkurrenten oder strengen Sicherheitsleuten auf Bahnhöfen und Flughäfen. Dagegen verhielte sich das Personal von Events, Konzerten oder Sportveranstaltungen kooperativ zu denen, die im Grunde genommen beim Saubermachen helfen.
Flaschensammeln. Überleben in der Stadt. Berichte über ein Münchner Forschungsprojekt, herausgegeben von Philipp Catterfeld und Alban Knecht, UVK Verlagsgesellschaft (Universitätsverlag) Konstanz, 184 Seiten, 24,99 Euro