Duden: Das Ding.
Herkunft: mittelhochdeutsch dinc, althochdeutsch thing.
Bedeutung: (Gerichts)versammlung der freien Männer, dann Rechtssache, Rechtshandlung. Ursprünglich entweder Zusammenziehung (von Menschen) oder (mit einem Flechtwerk) eingefriedeter Platz (für Versammlungen).
Warum uns Dinge so viel bedeuten
28:34 Minuten
Sie sind Statussymbol, Erinnerungsspeicher oder Liebesobjekt: Auch in unserer modernen, aufgeklärten Welt pflegen viele Menschen ein geradezu magisches Verhältnis zu Gegenständen. Mitunter kippt die Liebe zu Dingen allerdings ins Pathologische.
"Hier sind wir. Es ist sehr groß und ziemlich schwer, nicht gerade der praktischste Gegenstand."
Im Obergeschoss ihres Hauses öffnet die britische Schriftstellerin Susannah Walker eine Schmuckschatulle und drückt mir einen massiven, aus Silber gefertigten Armreif in die Hand.
"Es sieht ziemlich kämpferisch aus - aber das ist gut, denke ich. Die Namen sind hier auf der Innenseite, da gibt es zwei Teile, die nach innen geklappt sind. Wir haben die Namen also nicht beseitigt, aber sie stehen nicht auf der Außenseite."
Mir klopft das Herz bis zum Hals, als ich Susannah Walker vorsichtig den schweren Armreif zurückgebe und ihr durch die Zimmer ihres einstöckigen Wohnhauses südlich von Bristol folge. Ich kenne die traurige Geschichte hinter diesem Armreif, Susannah Walker erzählt sie in ihrem Buch "Was bleibt. Über die Dinge, die wir zurücklassen". Darin rekonstruiert sie anhand einzelner Objekte die Geschichte ihrer verstorbenen Mutter.
"Meine Mutter hatte eine sehr zerrissene Kindheit. Ihr Vater hat die Familie verlassen, sie sind oft umgezogen, sie wurde auf ein Internat geschickt und wollte dort nicht hin. Außerdem bevorzugte die Familie Jungen, doch da waren nur sie und ihre ältere Schwester. Der älteste Sohn Alistair starb an plötzlichem Kindstod, als er 18 Monate alt war", sagt Walker.
"Ich habe im Schrank meiner Mutter Alistairs Serviettenring gefunden, den er zur Taufe geschenkt bekommen hatte. Ein silberner Serviettenring mit seinem Namen darauf. Ein furchtbar trauriger Gegenstand. Ich glaube, dass meine Mutter ihn nicht wegwerfen konnte, weil sie ihren Bruder damit erneut getötet hätte. Ich wollte ihn auch nicht wegwerfen, weil es sich immer noch zu endgültig anfühlte. Also habe ich ihn und ein paar Teile aus dem Silberbesteck meiner Mutter zu einem großen Armreif verarbeiten lassen."
Ein Serviettenring als Repräsentation des Verlusts
Die Erinnerung an den plötzlichen Kindstod Alistairs war untrennbar in den Alltagsgegenstand eingegangen, der Serviettenring mit dem eingravierten Namen hatte sich in eine Repräsentation des Verlusts verwandelt.
Er war nur eines von einer Unzahl von Dingen, die Susannah Walker in der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter fand. Ihre Mutter war ein Messie, eine "Horterin", wie Susannah Walker es nennt. In den Monaten, in denen sie das Haus der Mutter entrümpelt, stößt sie mit jeder abgetragenen Schicht an Zeitungsstapeln, Essensabfällen, Plastiktüten und vergammelten Büchern auf Gegenstände. Dinge, die sie immer tiefer in die Geschichte ihrer Mutter eintauchen ließen. Dieser Frau, die ihr zu Lebzeiten fremd geblieben war:
"Ich fühlte, dass es meine letzte Chance war, um wirklich herauszufinden, wer meine Mutter war. Tatsächlich habe ich durch die Gegenstände, die sie zurückgelassen hat, eine Menge über die Familiengeschichte erfahren. Ich glaube, meine Mutter hatte den Eindruck, dass sie ohne all die schmerzhaften Dinge in ihrem Leben nicht mehr gewusst hätte, wer sie war - sonst hätte sie all die Dinge weggeworfen, die ihre Traurigkeit verkörperte. Ich vermute, sie hatte Angst, dass von ihr nichts übrig geblieben wäre."
Manche Dinge bekommen eine geradezu magische Aura
Das Haus. Die schwarze Teekanne. Das bestickte Kissen. Die Kontoauszüge. Die Plastiktüte. Der Serviettenring. Der Armreif.
Wie können Dinge zu Trägern symbolischer Bedeutungen werden? Wie werden Geschichten ihrer Besitzer in Objekten gespeichert, mal voller Strahlkraft, mal voller Schmerz - wie im Fall des Taufrings, dessen zerstörerische Kraft Susannah Walker brechen wollte, indem sie ihn in einen Armreif verwandelte? Bis in unser vermeintlich so aufgeklärtes 21. Jahrhundert hinein hat sich in unserem Umgang mit Dingen, die man heute fast überall als Waren kaufen kann, ein zutiefst magisches Denken erhalten. Kein Wunder, dass sich eine Menge Sachbücher dieses Themas angenommen haben. So heißt es bei Karl-Heinz Kohl in "Die Macht der Dinge":
"Unabhängig von seinem praktischen Gebrauchswert nimmt der Tauschwert eines Gegenstandes (…) zu, wenn er früher einmal zu einem besonders begehrten, beneideten oder bedeutenden Menschen in Beziehung gestanden hat. Ähnlich wie in die Gabe der 'Geist' des Gebers scheint auch in diese besondere Kategorie von Waren der 'Geist' ihres ehemaligen Besitzers Eingang gefunden zu haben. Er verleiht der entsprechenden Ware eine magische Aura."
Was für eine Ironie der Geschichte, hatten doch die Aufklärer des 18. Jahrhunderts solchen (Aber-)Glauben als "Fetischismus" gebrandmarkt und den vermeintlich "primitiven" Kulturen an der Westküste Afrikas zugeschrieben. Der Ethnologe Karl-Heinz Kohl beschreibt ein koloniales Wechselspiel aus Selbst- und Fremdzuweisungen, mit denen sich europäische Aufklärer zu vernunftbegabten Subjekten erklären konnten. Abergläubische Tendenzen in der eigenen Kultur - man denke an den katholischen Reliquienkult, die Anbetung des Turiner Leichentuchs oder vermeintlicher Holzsplitter aus dem Kreuze Christi - schoben sie den unaufgeklärten "Anderen" in die Schuhe.
"An den Afrikanern konnte man die Gebräuche als kindisch abtun, die im Christentum lächerlich zu machen die Zensur verbot", heißt es in "Die Macht der Dinge."
Fetischismus gehört zur westlichen Kultur
Und der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme schreibt ergänzend in seinem Buch "Fetischismus und Kultur. Eine andere Geschichte der Moderne", dass die Aufklärer seit dem 18. Jahrhundert mit ihrem Kreuzzug gegen Objektkulte einen entscheidenden Aspekt übersehen hätten:
"Es kann gar nicht in den Blick kommen, dass der afrikanische Fetischismus ein komplexes System der Ordnungserzeugung, der Handlungssteuerung, der Grenzbewahrung, des Schutzes, der Angstbewältigung, der symbolischen Sinnstiftung und der rituellen Integration von Gemeinschaften wie Individuen darstellt. (…) Ebendies sind Mechanismen, auf die keine, auch keine aufgeklärte und moderne Gesellschaft verzichten kann."
Für den Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme ist der Fetischismus ein integraler Bestandteil der westlichen Kultur. Moderne Fetische wie Autos, Kleidungsstücke oder Autogrammkarten von Stars sind sozialer Klebstoff, der unsere Gesellschaften zusammenhält. Dinge sind demnach Ordnungssysteme, sie geben Orientierung, ein Gefühl der Zugehörigkeit. Ohne Dinge kämen wir nicht klar. Doch was sind Dinge überhaupt?
"Im Museum sagt man, es ist ein Objekt. Wenn man im Geschäft steht, ist es ein Produkt", sagt Renate Flagmeier, Kuratorin im Berliner "Museum der Dinge".
"Es sind immer verschiedene Bezeichnungen für dasselbe quasi, immer abhängig vom Kontext. Ethymologisch leitet sich das Ding ab vom ‚Thing', dem Ort der Verhandlung."
"Das passt ganz gut für uns, wir verstehen uns als eine Lern- und Arbeitsplattform, eben als ein Ort der Verhandlung, und dass es ja immer auch um die Beziehung vom Mensch zu den Objekten geht. Und das drückt sich im Begriff des Dings besser aus", sagt Flagmeier.
Im dritten Stock eines Kreuzberger Hinterhofs lassen sich Alltagsgegenstände aus dem 20. und 21. Jahrhundert bewundern. Die Sammlung beruht auf dem Archiv des Werkbundes, einer 1907 gegründeten Vereinigung, die über die Gestaltung von Alltagsobjekten wie Salzstreuer oder Teekessel bis zu späteren elektrischen Schreibmaschinen und volltransistorisierten Tischfernsehern nichts weniger als die "Erziehung des Menschen" vorantreiben wollte - ganz im Geiste der historischen Avantgarden. Renate Flagmeier bleibt vor einer Glasvitrine stehen, die die Überschrift "Geschmacksverirrungen" trägt:
"Das bezieht sich auf eine historische Sammlung. Das war ein Stuttgarter Museumsdirektor und Werkbündler, der hat schon 1909 begonnen, sogenannte 'Gestaltungsfehler', 'Geschmacksverirrungen' zu sammeln. Er hat eine 'Chamber of Horror' eingerichtet, da sollten sozusagen alle lernen, am Fehler, am - von seiner Warte aus - falschen oder fehlerhaften Objekt lernen, was man vermeiden soll."
Da steht zum Beispiel "Ornamentwut" und "Schmuckverschwendung" oder "unpassende Schmuckmotive" mit einer Spinne auf einer Blumenvase. Das ist wertend, auch ein bisschen moralisch?
"Ja, das ist eine stark moralisierende Argumentation und er war auch sehr heftig, hat ganz stark dagegen gekämpft. Das läuft alles unter dem Stichwort 'Dekorfehler'", sagt Flagmeier. "Er hat eine richtige Systematik von aus seiner Perspektive fehlerhafter Gestaltung entwickelt, solche Kategorien wie 'Ornamentwut', also überdekorierte Dinge, übertriebene Oberflächenbehandlung, falsche Patina oder auch Schachbrettmuster, das hat er dann rubriziert unter 'Dekorprimitivitäten'. Oder da, 'Zufall und Rezept', auch eine sehr schöne Kategorie, also wenn man das Dekor dem Zufall überlässt, anstatt alles vorher geplant zu haben. Oder sehr differenziert diese ganzen Kitsch-Kategorien, Reklame-Kitsch, religiöser Kitsch, Aktualitätskitsch, Hurra-Kitsch im Kontext des Ersten Weltkriegs."
Die moralische Dimension der Ordnung
"Es gibt eine wirklich interessante moralische Dimension beim Putzen und Aufräumen und ordentlich sein", bemerkt die britische Schriftstellerin Susannah Walker. Hinter dem Umgang mit Dingen steckt das Projekt einer moralischen Erziehung des Menschen.
"Das wird gesellschaftlich kaum wahrgenommen, weil in den 1920ern ein Schalter umgelegt wird: Plötzlich muss alles sauber und leer und weiß sein, das wird als 'besser' erachtet. Eine höhere Lebensform im Vergleich zu den Viktorianern mit ihren ganzen Nippes und den endlosen Objekten auf dem Klavier und in den Regalen. Dieser Glaube ist so tief verwurzelt in unserer Gesellschaft, dass ihn niemand infrage stellt. Andererseits verurteilen wir Menschen zutiefst moralisch, die sich nicht an diese Regeln halten. Meinen ganzen Recherchen zum Trotz verstehe ich immer noch nicht ganz, warum das so ist. Der Grund dafür, warum weniger Dinge zu besitzen plötzlich moralisch überlegen ist."
Das pompöse "Viktorianische Zeitalter" war den Modernisierern des 20. Jahrhunderts ein Dorn im Auge. Unter der Regentschaft Königin Viktorias von 1837 bis 1901 steigt London zum größten Handels- und Finanzzentrum der Welt auf. Wohlstand und Besitz wird in Privathäusern mit opulenten Wohnaccessoires und exotischen Dekorationen gefeiert. Luxuriöse Mahagoni-Sessel, Anrichten aus geschnitztem Nussholz, Gemälde, Orientteppiche, Porzellanfiguren, Marmor-Skulpturen. Der Glanz des Empires sorgte für eine Unzahl von Dingen, die das Selbstbild ausstellten und zugleich hervorbrachten. Doch damit war im 20. Jahrhundert erst mal Schluss. Eine Folge der Massenproduktion, meint Susannah Walker:
"Ich denke, es gab eine Reaktion auf die viktorianische Flut von Dingen, weil plötzlich so viele Dinge da waren, es gab einen kulturellen Aufschrei. Dekoration hört auf, attraktiv zu sein, wenn sie aufhört, teuer zu sein. Sobald eine Maschine sie ausstanzen kann, ist sie gewöhnlich geworden. Ich denke also, dass ein Teil eine Reaktion auf die Mechanisierung war, aber ich denke auch, dass es eine Reaktion auf den Konsum ist: Dass wir ein wenig Angst vor den Dingen haben, weil es so viele von ihnen gibt, weil wir ohne sie nicht leben können und dass wir sie deshalb unter Kontrolle halten müssen - ansonsten könnte die Welt der Dinge aufstehen und gegen uns rebellieren."
Gegenstände können Trost spenden
Haben wir insgeheim Angst vor den Dingen? Die moralische Entrüstung über Menschen, denen die Kontrolle über Dinge des Alltags entgleitet, hat die Britin am eigenen Leib erlebt. Als sie das völlig verschmutzte Haus ihrer Mutter ausräumt, spürt sie als Tochter Vorwürfe auf sich lasten: Wussten Sie eigentlich, wie Ihre Mutter da haust? Wie konnten Sie es nur so weit kommen lassen? Warum haben Sie nicht aufgeräumt?
Doch so einfach ist es nicht. Susannah Walker schüttelt den Kopf:
"Im Fall meiner Mutter denke ich, dass sie sich jedes Mal schlechter fühlte, wenn wir reingingen und alles aufräumten. Die Dinge sind zwar ein sichtbares Zeichen dafür, dass es dir nicht gut geht - aber sie spenden auch Trost. Sie sind wie ein Nest, eine Festung, um die Welt fernzuhalten und sie leisten auch Gesellschaft. Ich denke, dass Messies die Dinge beleben, weil sie Menschen zu furchterregend finden. Menschen können sterben oder sie verlassen. Jemand Brillantes meinte mal: Die Dinge sind langsam, die Dinge gehen nicht plötzlich weg, sie sind zuverlässig."
Mit Dingen fühlen wir uns weniger allein. Doch werden es zu viele, werden sie bedrohlich, sie nehmen überhand, stellen die Machtverhältnisse auf den Kopf und erdrücken uns. "Das Leben der Dinge", "Die Tücke der Dinge", "Das Parlament der Dinge", "Die Herrschaft der Dinge" - in Buchtiteln und Aufsätzen wie diesen scheint diese beunruhigende Vorstellung immer wieder durch. Dinge als Mittel der sozialen Distinktion, wie sie die Viktorianer als Kompass der eigenen gesellschaftlichen Stellung erschufen - diese Option scheint in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts in den Hintergrund zu rücken. In Zeiten der globalen Massenproduktion dient nur noch ein Bruchteil an Dingen der persönlichen Repräsentation.
Hans Peter Hahn schreibt in "Der Eigensinn der Dinge":
"Ausgehend von dem Befund, dass Einzelne und Familien in den sogenannten Konsumgesellschaften immer mehr materielle Gegenstände besitzen und in sehr vielen Fällen eine solche Menge Dinge angehäuft haben, dass sie überhaupt nicht mehr wissen, wie viele Dinge sie besitzen, ist es doch möglich, einige Regelmäßigkeiten anzugeben. So gibt es deutliche Hinweise, dass zumeist nur einige wenige Objekte im Sachbesitz als 'Identifikationsobjekte' gelten. (…) Wir sind heute weit von einer ‚Theorie des Sachbesitzes’ entfernt, auch wenn Texte diesem Thema mehr als andere die Gegenwart solcher Dinge mitberücksichtigen, die nicht besonders hoch geschätzt werden, die keine besondere Aufmerksamkeit erfahren und die möglicherweise eher ein Problem des 'Loswerdens' darstellen."
"Hello! I am Marie Kondo…"
Die Frage, wie man Dinge loswerden kann, beschäftigt heute ein weltweites Millionenpublikum. Die Netflix-Serie "Aufräumen mit Marie Kondo" machte die japanische Ordnungsberaterin und Bestseller-Autorin weltbekannt, ihre Bücher werden heute in 27 Sprachen verkauft. Im Kern empfiehlt die Japanerin, nur Dinge zu besitzen, die "Freude" bringen.
Menschen, Bäume, Sträucher, Häuser, Schreibtische, Kleiderbügel - sie alle sind für Marie Kondo belebt. Eine ihrer berühmtesten Ratschläge betrifft den Umgang mit Socken. Diese sollen keinesfalls zusammengerollt und auf links gedreht, sondern lediglich gefaltet werden. Nach einem anstrengenden Tag, an dem die Socken unermüdlich unsere Füße geschützt hätten, könnten sie so am besten ausruhen. Auch Socken haben eine Seele.
Jeder 20. leidet an "pathologischem Horten"
Auch Messies teilen eine solche "animistische" Vorstellung einer Belebtheit aller Dinge. Fast jeder Zwanzigste in Deutschland leidet Schätzungen zufolge an "pathologischem Horten" - schreiben die Psychologin Anne Katrin Külz und der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Ulrich Voderholzer in ihrem Fachbuch "Psychologisches Horten":
"Menschen mit pathologischem Horten leiden unter einem unwiderstehlichen Drang, große Mengen an Besitztümern anzusammeln, und fühlen sich nicht dazu in der Lage, sich von diesen wider zu trennen, auch wenn sie keinen monetären Wert oder praktischen Nutzen besitzen. (…) Dabei können ganz unterschiedliche Gründe für das pathologische Horten verantwortlich sein. So messen viele Betroffene den jeweiligen Gegenständen eine emotionale Bedeutung bei, weil sie sich an bestimmte Menschen oder Ereignisse aus ihrem Leben erinnert fühlen. Andere identifizieren sich so sehr mit den Besitztümern, dass es sich beim Wegwerfen für sie anfühlt, als würden sie einen Teil ihrer selbst vernichten."
"Pathologisches Horten" wurde im "Diagnostisch-statistischen Manual psychischer Störungen" DSM-5 der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft als eigenständiges Störungsbild aufgenommen. Wenn "Messies" allerdings Künstler sind, wird ihr Verhalten toleriert - zumindest wenn es sich um einen Superstar wie Andy Warhol handelt.
Andy Warhol - der vielleicht berühmteste Messie der Welt
Andy Warhol war ein "Messie": 610 Umzugskisten füllte er bis zu seinem Tod im Jahr 1987 mit Dingen, die ihm in seinem Atelier in die Finger kam. Ein Foto von Elvis Presley, Weihnachtspapier mit Geschenkbändern, ein geklauter Aschenbecher aus einem New Yorker Szene-Restaurant, Quittungsblöcke, Visitenkarten, abgeschnittene Fußnägel, eine von Mick Jagger signierte Grußkarte, ein benutztes Kondom, Essensreste, tote Ameisen, Schuhe von Clark Gable. Sobald ein Karton voll war, wurde er von Assistenten verschlossen und datiert. "Time Capsule" nannte Andy Warhol dieses Werk, "Zeitkapseln". Wie wird aus einer Umzugskiste voll mehr oder weniger unnützer Dinge Kunst?
Ein Fall für die Kunsthistorikerin und Sachverständige Heide Rezepa-Zabel, die aus der ZDF-Sendung "Bares für Rares" als versierte Expertin bekannt ist. Seit fünfzehn Jahren bietet sie auch jenseits des Fernsehbildschirms eine "Dingsprechstunde" an.
"Bei der Wertfindung spielen ganz viele Kriterien mit rein", sagt sie. "Also die Objekte für sich, jedes einzelne losgelöst aus seinem Zusammenhang, und darüber hinaus gibt es natürlich noch den Kontext. Es macht einen großen Unterschied, ob dieses Stück von Andy Warhol ist oder eben aus der Mülltonne. Da fällt mir ein, wie damals die Fettecke von Joseph Beuys weggeputzt wurde. Ist das Kunst oder kann das weg? Nein, das Stück war natürlich von Joseph Beuys und erzielte damals einen Versicherungswert, der bezahlt werden wollte, wenigstens der. Er muss als Gegenleistung dafür aufgebracht werden, um so etwas zu ersetzen. Der Hausmeister hat damals diese Fettecke nicht erachtet und einfach weggeräumt. Aber jemand, der mit Leidenschaft bei der Kunst ist, für den schwingt diese Aura des Kunstwerkes mit. Daraus erklären sich auch diese verrückten Preise, die dann der Kunstmarkt hervorbringt."
Dinge sind Verhandlungssache, es kommt auf ihre Geschichte an. Dinge sind, wozu wir sie erklären. Doch wer hat dabei die Deutungsmacht?
Heide Rezepa-Zabel weiß genau, wie stark die subjektiv empfundene Wertschätzung eines Dings und sein vermeintlich objektiver Marktwert auseinanderklaffen können. Eine Besucherin hat einen schweren Krug zur Schätzrunde ins "Museum der Dinge" mitgebracht. Das Detektivspiel um seine Geschichte beginnt.
"Ich gehe davon aus, dass er sehr alt ist. Er sieht für mich so vollkommen - auch die Metallteile - vollkommen handgefertigt aus", sagt die Besucherin.
"Ja, das stimmt. Ich glaube auch, dass der Deckel alt ist", bestätigt Heide Rezepa-Zabel. "Ich zweifle so ein bisschen an der Keramik. Man muss in der Regel immer sehr skeptisch sein gegenüber verschiedensten Dingen, deswegen meckere ich immer gleich. Ich zweifle so ein bisschen an der Keramik, zumal die Keramik hier nicht besonders gedreht ist."
"Aber der Deckel, für welche Epoche, für welche Zeitspanne?", fragt die Besucherin. - "Für das 17. Jahrhundert. 17., auch 18. Jahrhundert."
"Und der Krug?"
"Es sieht ein bisschen so aus, als wäre er nachgearbeitet worden", meint Rezepa-Zabel. "Sagen wir es mal so, gerade dieser Fayence-Bereich, der noch vor 30 Jahren sehr hoch geschätzt wurde, da wurden enorme Preise für solche Fayencen bezahlt. Der regte wiederum auch einen Fälschermarkt an."
Die Dinge in Schach halten
Ein Fälschermarkt für Fayencen: Willkommen im Zeitalter der Täuschung, des betrügerischen Imitats, der billigen Kopie. Willkommen im Zeitalter des Mülls - denn dort landen die Dinge, wenn sie niemand mehr haben will. Im Jahr 2018 waren die Vereinigten Staaten von Amerika mit über 600.000 Tonnen Müll pro Tag der größte Müllproduzent der Welt. Deutschland liegt in Europa an der Spitze und mit über 100.000 Tonnen pro Tag auf Platz fünf der weltweiten Rangliste. Irgendwann könnte der Müll die Produktion neuer Dinge überholen - oder hat sich die Waagschale längst in diese Richtung geneigt?
"Die vielleicht existentiellste Auswirkung unseres materiell aufwendigen Lebensstils ist diejenige auf den Planeten. Dieser Lebensstil beruht auf fossilen Brennstoffen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Kohlendioxidemission pro Person vervierfacht. Heute verursachen der Transport und größere, komfortablere Häuser und Wohnungen, ausgestattet mit vielen Haushaltsgeräten, knapp die Hälfte des globalen CO2-Ausstoßes. (…) Wie viel und was man konsumieren soll, ist eine der drängendsten, aber auch verzwicktesten Fragen unserer Zeit." So heißt es in Frank Tretmanns "Die Herrschaft der Dinge".
"Sie bekommt an einem Geburtstag mehr Zeug, als ich wahrscheinlich in fünf Jahren hatte", erzählt Susannah Walker über ihre zwölfjährige Tochter.
"Und so ist es eine Fähigkeit, dass man immer bewusst lernen muss, darüber nachzudenken, warum man Dinge behält, um nicht nur Dinge zu haben, um sie zu haben. Wenn man älter wird, betrifft das nicht nur die persönliche Ebene, sondern die planetarischen Ebene. Wir alle müssen unsere Vorstellung hinterfragen, was wir brauchen und was wir haben. Im Idealfall sollten wir uns, schon bevor wir zu dieser Wegwerfphase kommen, fragen: Brauche ich das wirklich? Am Ende müssen wir alle unsere Beziehung zu Dingen radikal verändern."
Von den machtvollen Dingen zum Müll. Natürlich gibt es noch Fetische: Die schnellen Autos, die Markenklamotten, die neuesten Smartphones. Doch die Ära der identitätsstiftenden Dinge scheint angezählt. Heute geht es vielmehr darum, die Dinge in Schach zu halten, bevor sie zu Müllbergen anwachsen.
"Eines der Dinge, die ich mit dem Buch erreichen wollte, ist, den Leuten klarzumachen, dass Menschen, die horten, nicht die 'seltsamen Anderen' sind, die von uns getrennt leben. Wir alle haben ein bisschen was davon. Wir sind alle in die Welt der Dinge verstrickt und das ist etwas, das wir selten anerkennen. Das sind keine Freaks da drüben, die sich von uns unterscheiden. Wir alle haben eine Beziehung zu Dingen und vielleicht sollten wir uns das einfach ein wenig gründlicher anschauen."
Die Messies: Das sind wir Menschen auf dem Planeten Erde, auf dem wir so viele Dinge produzieren, dass uns der Müll überdauern und an die Stelle des Menschen treten könnte. Der Müll: Vielleicht ist es das, was von uns bleibt, wenn sich niemand mehr daran erinnert, was uns die Dinge einmal bedeutet haben.
Autorin: Tabea Grzeszyk
Regie: Guiseppe Maio
Sprecherin/Sprecher: Tabea Grzeszyk, Meike Rötzer und Alexander Ebeert
Technik: Jan Fraune
Redaktion: Kim Kindermann