Kwame Anthony Appiah: "Identitäten - Die Fiktionen der Zugehörigkeit"
Aus dem Englischen von Michael Bischof
Hanser Berlin, 2019
336 Seiten, 24 Euro
Einheitliche Kulturen gab es nie
06:02 Minuten
Kwame Appiah, Professor an der New York University, widmet seinen Essay "Identitäten - Die Fiktionen der Zugehörigkeit" dem Lob der Vielfalt. Je genauer er die Vorstellung von gesicherten Identitäten untersucht, desto poröser werden sie.
"Der Begriff Identität ist so leer, dass er den Verdacht des Blödsinns erregen müsste." Für den österreichischen Philosophen Fritz Mauthner war der Fall schon Ende des 19. Jahrhunderts erledigt. Die Zweifel der Philosophie an dem Konzept haben es freilich nicht verhindert, dass Identität zur Zentralvokabel von Politik und Diskurs avanciert ist.
Der britisch-ghanaische Philosoph Kwame Appiah will die Gründe für diese erstaunliche Renaissance nicht erklären. "Identitäten" heißt das neue Buch des 1954 geborenen Professors an der New York University, weil er zeigen will, dass die Identitäten, die derzeit so vehement gegeneinander aufgefahren werden, keine "wahre Natur" haben, sondern immer "vielfältig sind und in komplizierter Weise miteinander interagieren".
Löchrige Kategorien der Identität
Je genauer Appiah dabei die fünf Schlüsselkategorien "Religion", "Land", "Hautfarbe", "Klasse" und "Kultur" in den Blick nimmt, desto poröser schauen sie auch tatsächlich zurück. Das Vorhandensein eines Y-Chromosoms, argumentiert der Wissenschaftler, mache aus seinem Träger noch keinen klassischen Mann. Keine Religion bewege sich auf einem gesicherten Textkanon.
Die scheinbar besonders homogene Nation Japan mit chinesischer Sprache, indischer Religion und 15 Landessprachen nimmt der Philosoph als Beleg für sein nicht ganz neues, aber plausibles Fazit: "Die Menschen leben nicht in Nationalstaaten mit einheitlicher Kultur, Religion und Sprache und haben dies nie getan."
Plädoyer gegen Reinheitspredigten
Appiahs Werk ist keine identitätspolitische Streitschrift und keine Sammlung donnernder Großthesen. "Identitäten" ist ein fein differenzierendes, kulturhistorisch brillant unterfüttertes Plädoyer gegen "organizistische Versuchungen", "Reinheitspredigten" und für "kulturellen Mischmasch".
Seinen Essay macht besonders, dass er das Untaugliche eherner Kategorien jeweils an einer konkreten Figur exemplifiziert. Das Beispiel Anton Wilhelms etwa, einem schwarzen Jungen von der afrikanischen Goldküste, der im Haushalt Herzog Augusts von Wolfenbüttel aufwuchs und in Sachsen Doktor der Philosophie wurde, widerlegt für ihn die Annahme des Aufklärers David Humes, nur Weiße könnten zivilisierte Nationen oder Intellektuelle hervorbringen.
Komplizierte Loyalitäten statt Treueschwüre
Ganz neu ist das Lob der Vielfalt nicht, auf das Appiah hinauswill. In seiner Apologie der "toleranten, pluralistisch gesinnten, selbstkritischen und kosmopolitischen Moderne" erinnert "Identitäten" ein wenig an sein 2007 erschienenes Werk "Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums".
Die großen Vorbilder des Wissenschaftlers sind der Schriftsteller Italo Svevo, der jüdische Deutsch-Italiener aus Triest, und der "kulturelle Gulasch" im islamischen Reich von al-Andalus im 10. Jahrhundert.
Fragt sich nur, ob Appiah ausgerechnet mit diesen Beispielen hartgesottene Identitäre überzeugen kann, ihre Horizonte um "Gemeinschaften zu erweitern, die größer sind als jene, in denen wir persönlich leben". Den "komplizierten Loyalitäten", denen laut Appiah jeder Mensch Rechnung tragen muss, ziehen sie bekanntlich Treueschwüre vor.