KZ Stutthof

Später Prozess gegen eine Sekretärin

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Blick auf das ehemalige Konzentrationslager Stuttfhof in der Nähe von Danzig. Zu sehen sind ein Wachturm und zwei Reihen Stacheldrahtzaun.
Mehr als 65.000 Menschen wurden im KZ Stutthof ermordet. Irmgard F. hat dort als Sekretärin des Lagerkommandanten gearbeitet. © picture alliance / ZUMAPRESS.com / Damian Klamka
Von Johannes Kulms · 30.09.2021
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Zwischen 1943 und 1945 war Irmgard F. Sekretärin des Lagerkommandanten im KZ Stutthof. Als Stenotypistin und Schreibkraft soll sie Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen geleistet haben. Dafür muss sich die heute 96-Jährige vor Gericht verantworten.
Itzak Oscherowitz hat den Nazi-Terror überlebt. Anders als seine Mutter und zwei seiner Geschwister. Alle drei wurden in Auschwitz ermordet. Zuletzt gesehen hat sich die Familie in Stutthof, jenem Konzentrationslager nahe Danzig, in dem während der NS-Zeit mehr als 65.000 Menschen ermordet wurden.
Wenn Itzak Oscherowitz an die Leute denkt, die die Tötungsmaschinerie der Nazis am Laufen hielten, dann kommen ihm Aussagen in den Sinn, die nach 1945 oft zu hören waren in Nachkriegsdeutschland: "Man hat mir gesagt, ich soll das machen und genau deswegen habe ich es gemacht."
"Die haben die Herzen vergessen, wo sie sind! Sie haben keine Herzen gehabt!" Das sagte Oscherowitz vor zwei Jahren einem ARD-Team in Israel, wo er inzwischen lebt. Oscherowitz ist Nebenkläger im Strafverfahren gegen Irmgard F.

Sie will nichts mitbekommen haben

Die 96-Jährige muss sich ab diesem Donnerstag vor dem Landgericht Itzehoe verantworten. Ihr wird Beihilfe zum Mord in mehr als 11.412 Fällen vorgeworfen.
Irmgard F. war fast zwei Jahre in Stutthof Sekretärin des Lagerkommandanten. Der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungsamt sei über ihren Schreibtisch gegangen, hat Irmgard F. selbst gegenüber dem ARD-Reporter erklärt.
Doch davon, dass in Stutthof Zehntausende Menschen ermordet wurden, will Irmgard F. nichts mitbekommen haben. Für die Justiz gilt es nun zu klären, ob dies stimmen kann.
"Problematisch ist natürlich immer bei Gehilfen, ob die Erkennbarkeit der Haupttat gegeben war: Systematische Tötungen in einem Konzentrationslager; ob die erkannt werden sollten", sagt Thomas Will, Oberstaatsanwalt in Ludwigsburg und dort Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen.

Fokus der Justiz hat sich verändert

In den letzten Jahren sechs Jahren seien drei frühere KZ-Wachmänner verurteilt worden. Nun sei eine Frau angeklagt, die allerdings nicht im Wachdienst tätig war, sondern als Sekretärin, wie Thomas Will betont.
Nach allem, was bekannt ist, konnte Irmgard F. von ihrem Büro im Haus des Lagerkommandanten direkt auf das Gelände des Konzentrationslagers in Stutthof sehen.
"Die Tatnähe oder die Tatferne ist nicht das entscheidende Kriterium. Wichtig ist, dass das erkennbare Vorliegen von laufenden Vernichtungsaktionen gegeben war und ein bewusster und gewollter Beitrag geleistet wird", erklärt Thomas Will.
Für den obersten Ermittler zur Aufklärung von NS-Verbrechen zeigt der Prozess gegen die 96-jährige Angeklagte, wie sich der Fokus der Justiz in Deutschland verändert hat. Jahrzehnte lang seien nur Täter verfolgt worden, denen man zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Taten an bestimmten Opfern nachweisen konnte.
Doch das Urteil gegen den früheren KZ-Wachmann John Demjanjuk von 2011 habe in der deutschen Justiz vieles verändert, sagt Will.
"Für uns war das der Anlass, nochmal zu überlegen: Wenn in Konzentrationslagern Vernichtungsgeschehen systematisch erfolgt ist, dann ist es doch auch vergleichbar mit Vernichtungslagern."

Prozess kommt zu spät, sagen die Opfer

Und somit gerieten nun zunehmend Personen wie Irmgard F. ins Visier der Nazi-Jäger. Allerdings weiß Thomas Will, dass diese Entwicklung aus Sicht vieler Opfer und ihrer Angehörigen sehr spät kommt.
Der nun in Itzehoe beginnende Prozess komme viel zu spät, sagt Izak Oscherowitz, der das KZ Stutthof überlebt hat und seine Mutter und zwei Geschwister in Auschwitz
Beihilfe zum tausendfachen Mord könne auch vom Schreibtisch aus erfolgen, das hat der Verteidiger von Irmgard F. in einem Interview mit dem "Spiegel" eingeräumt.
Wegen des großen Interesses bei Zuschauern und Medien – 135 Journalist*innen haben sich angemeldet – findet der Prozess in Itzehoe in einem Logistikzentrum statt, wo eigens ein Raum für die Verhandlung hergerichtet wurde.
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