Vom Glück, in der Ära Castorf zu leben
Ein Zeugnisheft voller Einsen mit Sternchen ist das "Arbeitsbuch Castorf" über den "meist kopierten Regisseur der Theatergeschichte", Frank Castorf. Wut, Feuer oder Lust am Polemisieren sucht man darin vergeblich.
Man muss Prioritäten setzen, und Theater geht vor. Der polnische Regisseur Jan Klata jedenfalls berichtet, er habe seinerzeit unbedingt Frank Castorfs "Endstation Amerika"-Gastspiel in Breslau sehen müssen. Dass er dabei beinahe die Geburt seiner Tochter in Warschau verpasst hätte – das war es ihm wert. Dafür, dass deutsche Kritiker an Volksbühnenabenden rummäkeln, hat er dann auch so gar kein Verständnis: "Denn wahrlich, ich sage Euch, Ihr habt Glück, in der Ära Castorf leben zu dürfen", so Klata.
Ja, sie ist im vollen Gange, diese Ära – vielleicht mehr denn je. Nun, wo man Castorf die Berliner Volksbühne nimmt, herrscht Verlustangst. Droht das zeitgeistige Kunstestablishment an die Stelle des renitenten Widerstands zu treten? Das "Arbeitsbuch", das die Zeitschrift "Theater der Zeit" jetzt herausgegeben hat, kommt also im richtigen Moment. Eine üppige Materialsammlung ist es geworden, vor allem aber ein Zeugnisheft voller Einsen mit Sternchen und jeder Menge Lobhudeleien.
Das "schwarze Licht des Todes" erblickt
Die Herausgeber, Dorte Lena Eilers, Thomas Irmer und Harald Müller, haben Theatermacher aus aller Welt gebeten, ihre Erfahrungen mit Castorf zu schildern. Und mit Feuereifer machen sie sich ans Werk, feiern die künstlerische Sprengkraft des, Zitat, "meist kopierten Regisseurs der Theatergeschichte". Anatoli Koroljow berichtet, wie die Volksbühnenadaptionen von Bulgakow und Tschechow in Moskau für Empörungsfurore gesorgt haben. Und der chinesische Regisseur Meng Jinghui schwärmt davon, wie er in der aktuellen "Karamasow"-Inszenierung das "schwarze Licht des Todes" erblickt hat. Anschließend ist er dann in sein Berliner Hotel geflüchtet, hat jede Menge heißes Wasser getrunken, zwei Grippetabletten geschluckt und ist "in tiefen Schlaf" gefallen. Verstehen kann man's.
Es ist Stefanie Carp, zukünftige Intendantin der Ruhrtriennale, die vielleicht am klarsten auf den Punkt bringt, was die Castorf'sche Volksbühne auszeichnet – und was bei ihrer aktuellen Abwicklung auf dem Spiel steht: "Sie wurde und wird von Künstlern erfunden und gemacht, die sie nicht als Betrieb oder Firma leiten, sondern als Gesamtkunstwerk verstehen." Und: "Als Stadttheater hat sie über 25 Jahre lang ästhetisch und sozial Stadttheater verweigert und damit die größten Erfolge gehabt."
Auf den gut 180 Seiten des Arbeitsbuches finden sich viele Betrachtungen, Abschiedsworte und Erinnerungen. An Castorfs Jahre in Anklam zum Beispiel, daran, wie er dort als "Berliner Eierkopf" auftauchte, um sich mit den Mächtigen anzulegen.
Alle sind aufs Langweiligste einverstanden
Selbstverständlich kommt der Großmeister auch selbst zu Wort. In der Rede, die er anlässlich der Verleihung des Großen Kunstpreises der Stadt Berlin im März gehalten hat, zum Beispiel. Darin sagt er: "Es gibt vieles, bei dem ich mir unsicher bin, aber eins ist klar, wir sind zu konsensbedürftig geworden." Recht hat er, wie so oft.
Denn beim Lesen fragt man sich schon: Wo sind eigentlich die Wut und das Feuer, die Lust am Polemisieren, am nicht zufrieden sein? Da draußen gehen die offenen Briefe hin und her und über die Volksbühne wird gestritten, was das Zeug hält, in dieser weihevollen Publikation aber sind alle aufs Langweiligste einverstanden. Immerhin: Durs Grünbein sorgt für Bodenhaftung. Am 13. Dezember 1981 hat er in einem NVA-Regimentskulturhaus Frank Castorfs Anklamer Inszenierung von Heiner Müllers "Die Schlacht" gesehen – als einer von fünf Zuschauern. Beeindruckt hat's ihn, aber dann stellt er doch noch einmal fest, dass alle Bühnenkunst vergänglich ist: "Theater funktioniert wie die Klospülung", sagt Durs Grünbein. "Gut, dass es das gibt, gut, dass alles immer heruntergespült, heruntergespielt wird." Und das – ja, das klingt doch schon eher nach Castorfs Volksbühne.