"La Bohème" im Altersheim

Von Uwe Friedrich |
Die Handlung um die sterbenskranke Stickerin Mimi an der Neuköllner Oper in Berlin wird ins Altersheim verlegt. In der gelungenen Premiere von "Ihre Bohème" zeigen die Sänger im Rentenalter mit großer Würde die Spuren gelebten Lebens. Die Komische Oper hat mit "La Bohème" eine eher dekorative Inszenierung mit viel Schnee ins Bild gesetzt.
Die Bühne ist leer und bleibt leer. Das Publikum muss sich schon selber vorstellen, wie schön das Leben der Boheme sein kann. Das gilt sowohl für die Komische Oper als auch für die Neuköllner Oper. An beiden Orten gibt es allerdings ein Zentralrequisit. In der Behrenstraße ist es ein riesiger Weihnachtsbaum, denn Puccinis Oper spielt am Jahresende. In der Neuköllner Oper ist es der Essenswagen, mit dem der Zivildienstleistende die Mahlzeit bringt, denn an Berlins kleinstem Opernhaus wird die Handlung kurzerhand ins Altersheim verlegt.

Dieser drastische Schritt erweist sich als Geniestreich, denn schließlich geht es in der sentimentalen Geschichte um die sterbenskranke Stickerin Mimi um verpasste Chancen, um die Unmöglichkeit der großen Liebe, weil niemand so recht mit den ganz großen Gefühlen umgehen kann. In Neukölln werden die Hauptpersonen von Sängern im Rentenalter dargestellt. Selbstverständlich gibt es im ersten Akt noch die eine oder andere Schrecksekunde, wenn sie sich mit Mut auf die Spitzentöne werfen, die nicht mehr so schön klingen wie von einem 30-Jährigen. Doch alle zeigen mit großer Würde die Spuren gelebten Lebens, die sich halt auch auf die Stimmbänder niedergeschlagen haben.

Wie sich die gestandene Gabriele Schwabe in die schüchterne Mimi verwandelt, der eher unscheinbare James Clark in den plötzlich doch recht draufgängerischen Rodolfo, das zeugt von großem handwerklichem Können. Spätestens wenn Renate Dasch ihre Musetta irgendwo zwischen netter Oma und strenger Domina ansiedelt, werden die Grenzen zwischen Altersheim-"Realität" und Vergangenheitsverklärung verwischt, gewinnt der Abend erschütternde Tiefe und künstlerische Wahrheit.

Die Altersverhältnisse sind nun umgekehrt. Eigentlich hat sich die junge Musetta einen reichen Gönner geangelt, hier aber führt die strenge Domina ihren jungen Verehrer am Halsband Gassi. So wird so umwerfend komisch und gleichzeitig tief anrührend in den Abgrund menschlicher Leidenschaften geschaut, so dass der Zuschauer nicht recht weiß, ob er vor Lachen oder vor Entsetzen weint. In dem Arrangement für eine Handvoll Musiker verliert Puccinis Musik alles Sämige, allen Streicherschmelz und die allzu kalkulierten Effekte. Der Rohbau der Komposition ermöglicht unter der Dirigentin Kristiina Poska den Blick auf den Rohbau der Gefühle.

Vor dem Schluss der Oper, wenn es denn wirklich ans Sterben geht, schrecken die Neuköllner leider zurück. Gerade hier hätten wir die Schmerzgrenze von der großen Kunst zu den Fragen des Lebens mit diesen großartigen Künstlern gerne überschritten.

Dieser Grenze nähert sich Andreas Homoki in seiner dekorativen Inszenierung an der Komischen Oper gar nicht erst an. Es schneit bereits, wenn das Publikum in den Saal kommt, und es wird immer mal wieder schneien, um die Kälte der menschlichen Beziehungen aufzuzeigen. Ähnlich deutlich bleibt der gesamte Symbolfundus des Abends. Da wird ein riesiger Weihnachtsbaum phallisch zum Fest der Liebe errichtet, und wir ahnen, jetzt geht es gleich um Sex. Da wird der Weihnachtsmann von gierigen Kindern entkleidet, und wir ahnen, es geht um Konsumterror.

Der Weihnachtsbaum kippt wieder um, und wir ahnen, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis Mimi sich verröchelt hat. Leider bleibt es aber bei dieser Ahnung, weil Homoki die emotionalen Verwerfungen nicht genau nachzeichnet. Im letzten Akt haben die Männer den Absprung aus der mittellosen Boheme in den Erfolg geschafft und es ist allen etwas peinlich, dass Mimi zum Sterben vorbeikommt. Das ist eine hübsche Idee, doch verkleistert sie den Hauptgedanken der Oper, nämlich dass die Hauptpersonen die Chance auf die große Liebe unwiderruflich verpasst haben.

Trotz einer sehr engagierten Brigitte Gellert als Mimi lässt diese langweilige "Bohème" an der Komischen Oper den Betrachter völlig kalt, auch weil Timothy Richards letztendlich musikalisch leicht überfordert bleibt. Allerdings zeigt sich der designierte Generalmusikdirektor Carl St. Clair als Begleiter nicht besonders flexibel. Beinahe alle Sänger wollen fortdauernd schneller vom Fleck als der Dirigent. Als hätten sie noch etwas Besseres vor an diesem recht uninspirierten Abend.