Autor: Heiner Kiesel
Sprecher: Karim Cherif
Regie: Roman Neumann
Ton: Andreas Stoffels
Redaktion: Martin Mair
Wie wirksam Konsumenten Politik machen können
29:57 Minuten
Der Konsum wird zur Sphäre der politischen Handlung: Hunderte von Labels auf den Produkten sollen den kritischen Verbrauchern dabei helfen, das Richtige zu tun. Aber wird der Kampf um eine bessere Welt wirklich an der Ladenkasse entschieden?
Ein bisschen scheint das hier schon der Ort zu sein, wo alles richtig ist. Ein genossenschaftlich organisierter Supermarkt in Berlin-Kreuzberg. Draußen die regennasse graue Metropole, Lärm, Abgase, Staub - drinnen freundliche sandgelbe und rostrote Farbtöne und nur Sachen im Regal, bei denen man nichts falsch machen kann. Der Markt bewirbt sich selbst als Bio-Paradies.
Axel steht zwischen den hüfthoch gestapelten Getränkekästen gleich beim Eingang: "Bei den anderen Läden weiß man immer nicht, muss man überall kucken, ist es das oder das Label - oder ist überhaupt keines drauf. Hier ist auf jeden Fall eines drauf: Es gibt das einfache EU-Bio, es gibt hochwertige von vielen deutschen Verbänden. Deswegen muss man da auch schon mal kucken. Aber man hat einen Grundlevel der schon mal höher ist."
Drei Biosiegel auf einem Produkt
Er greift sich eine Flasche aus einem Kasten. Auf der Banderole sind gleich drei Labels aufgedruckt. Naturland und EU-Biosiegel in Grün, dann noch ein blaues Ökosiegel aus Bayern. Axel zögert.
"Manchmal nehme ich auch das vom einfachen Label, wenn das regional ist", sagt er. "Das ist auch ein Konflikt, zu sagen, was ist jetzt wichtiger, weil auch der Energieverbrauch beim Transport so eine Sache ist."
Weiter hinten im Gang steht der Kaffee, sauber aufgereiht. Unterschiedliche Bio-, Öko-, und Nachhaltigkeitszeichen, na klar, aber auch: Zahlreiche Siegel, die ethischen und sozialverträglichen Handel versprechen. Die Biopizza im Tiefkühlfach liefert ein gemeinwohlorientiertes Unternehmen.
Es gibt jede Menge Zusatzzeichen auf den Packungen - neben den gesetzlich vorgeschriebenen Angaben. Viele Kundinnen und Kunden im Laden nehmen das nur als eine Art Grundrauschen wahr. Einige entpuppen sich aber als Experten in der Labelflut.
"Also das ist für mich ein ganz wichtiger Wegweiser", sagt einer von ihnen. "Also ich bin schon seit 1995 mit dem Bioeinkauf beschäftigt und wenn ich einkaufe, dann nehme ich immer Demeter als oberstes, qualitativ hochwertigstes Biokennzeichen wahr und dann geht es in einer Abstufung weiter, Bioland, was auch eine gute Qualität ist. Und dann Naturland, dann gibt es ein paar regionale aus Bayern, Erntekreis und ganz zum Schluss das europäische Biolabel, was ja die niedrigste Eingangsstufe ist für Biosachen."
Klar ist: Wer hier seinen Einkaufswagen füllt, will meist mehr als Grundbedürfnisse befriedigen. Hier geht es nicht mehr nur um Hunger, Durst und ein gutes Preis-Leistungsverhältnis. Es geht ums große Ganze.
"Nachhaltiger Einkauf - man sagt ja enkeltauglicher Einkauf mittlerweile", erklärt ein Kunde. "Einfach generationenschützend, sodass diese Erde eigentlich erhalten bleibt."
"Hoffentlich ein Stück weit, das hoffe ich", sagt eine Kundin. "So einkaufen, dass die Umwelt möglichst wenig geschädigt wird, dass es nachhaltig ist und möglichst wenig Pestizide."
Kaum ein Einkauf ohne Label
Selbst wenn es nicht ums Weltretten geht: Kaum ein Einkauf ohne Labels. Sie sind rund, eckig, einfarbig oder bunt und sollen den Konsumenten Wareneigenschaften kommunizieren, die nicht so ohne weiteres ersichtlich sind. Es gibt sie schon lange.
Der Klassiker ist wohl das "Made in Germany", das die Briten Ende des 19. Jahrhunderts einführten. Nicht als Qualitätssiegel, sondern um vermeintlich minderwertige Ware aus dem Kaiserreich zu kennzeichnen. Oder der Blaue Engel. Er wurde 1978 als weltweit erstes Umweltkennzeichen eingeführt.
In den 1980er und 90er-Jahren begann der Labelboom, wie eine Studie des Bundesamtes für Risikobewertung zeigt. Es ist - ganz passend, wie sich noch zeigen wird - die Zeit, in der aus rebellischen Alternativ- und Ökobewegungen eine grüne Partei entsteht, die in die Parlamente einzieht.
Nur einige sind gesetzlich vorgeschrieben
Deutschland ist, so legt die Studie nahe, ein Land, in dem es mehr Qualitätssiegel gibt als anderswo. Tendenz steigend, besonders im Lebensmittelbereich. Mittlerweile existieren mehr als 1000 Produktsiegel. Einige davon sind gesetzlich vorgeschrieben: Das CE-Zeichen für EU-Konformität, Recycling- und Entsorgungsinformationen oder das bunte EU-Energylabel bei den Elektrogeräten. Die Mehrheit aber ist freiwillig. Einige überwachen Behörden, andere private Organisationen und Institute. Manche kontrolliert niemand.
Theoretisch kann jeder sich sein eigenes Label gestalten und seine Ware oder Dienstleistung damit auszeichnen. Die Verbraucher finden die zusätzlichen Angaben auf den Produkten mehrheitlich sinnvoll, zeigen Umfragen. Sie sind von der schieren Zahl gleichzeitig ziemlich verwirrt. Aber es gibt Hilfe.
"Also da haben wir jetzt eine Kiste mit Produkten", sagt Georg Abel. Eine App, wie könnte Hilfe heutzutage auch anders aussehen. "Mein Name ist Georg Abel, ich bin der Geschäftsführer der Verbraucherinitiative."
Er trägt einen Karton mit Lebensmitteln in den Besprechungsraum des gemeinnützigen Vereins. Startet die Label-App auf dem Smartphone. Die greift auf die Fotolinse zu.
"Also ich nehme jetzt den Barcode von Tomatenstücken", erklärt er, "und dieses Produkt kommt von Alnatura und hier steht jetzt: Alnatura, das Label - besonders empfehlenswert. Das kann ich jetzt mit allen Produkten machen."
App und Portal zum Überprüfen der Gütesiegel
Abel räumt die Kiste wieder beiseite. Seine Organisation beschäftigt sich schon seit ihrer Gründung 1985 mit Gütesiegeln, gibt Broschüren heraus und hat unter anderem das Transfair-Label mitinitiiert. Die App findet der Verbraucheraktivist eine ganz nette Spielerei. Aber direkt im Laden mit dem Handy Labels checken - das machen dann doch nur wenige, gibt er zu. Weitaus mehr Suchanfragen laufen über die Web-Plattform Label-Online.de, eines von zahlreichen Siegel-Portalen im Netz.
"Wir sind aber mit Sicherheit insofern alleinstehend, dass wir Europas größtes, umfassendstes Instrument, was das Thema Label angeht, sind", sagt Georg Abel. "Wir haben die meisten Label, 800 sind es, die wir beschreiben, in 16 verschiedenen Produktkategorien. Wir sind das Älteste am Start, wir gehen nicht nur auf nachhaltige Labels, wir gehen auf alle Labels, stellen aber die nachhaltigen Labels besonders heraus."
Abel führt das am Laptop vor: Labels alphabetisch, nach Produktgruppen, immer mit Beschreibung und weiterführenden Informationen. Bis auf wenige Ausnahmen werden sie alle nach einem 12-Punktesystem bewertet.
"Die zwölf Punkte haben was mit Anspruch, Transparenz, Kontrolle zu tun", sagt Georg Abel.
Bei voller Punktzahl gibt es die Note "besonders empfehlenswert". Diese Bewertung erhalten immerhin zwei Drittel. Das liegt auch an der Vorauswahl, die die Leute von der Verbraucherintiative treffen. Es soll um relevante und zugleich anspruchsvolle Qualitätssiegel gehen. Abel will den Konsumenten mit seinem Angebot ermöglichen, beim Einkauf Weichen zu stellen: Für bessere Produkte, mehr Lebensqualität und Nachhaltigkeit.
"Wir Verbraucher haben Macht"
"Erstmal würde ich festhalten wollen, wir Verbraucher haben Macht - wir entscheiden nämlich über Erfolg und Misserfolg von Produkten und Unternehmen", sagt Georg Abel. "Und wir wählen auch den Einkaufsweg. Wir haben erstmal gute Voraussetzungen. Das hat sich positiv verändert für uns Verbraucher. Wir haben mehr Macht als früher, wir tauschen uns besser aus, wir haben mehr Zugang zu Informationen. Das heißt aber auch, wenn ich das einsetzen will, diese Macht - ich muss mich schlau machen!"
Informierte Verbraucher können viel effizienter als Gesetze und Verordnungen sein, glaubt der Verbraucheraktivist: "Also bis ein Gesetz sich ändert in diesem Lande, da kommen alle möglichen Lobbyistengruppen zum Ziel, zum Zuge erstmal, das dauert viel zu lange. Also ich setze auf den schnellen motivierten Verbraucher. Ich setze auf schnelle und engagierte Unternehmen. Gemeinsam sind wir stark und gemeinsam schaffen wir auch mehr. Das ist meine Philosophie."
Siegel könnten da einen guten Dienst leisten, aber es gibt einfach zu viele davon. Abel fände es ganz gut, wenn sich Labelgeber mit gleichen Zielen zusammenschließen würden. UTZ und Rainforest, beide zertifizieren Nachhaltigkeit, zeigen, dass das gehen kann.
"Wir müssen kucken, dass wir den Labeldschungel in den Griff kriegen", sagt Georg Abel.
Neue freiwillige Kennzeichen, so wie sie die Bundesregierung gerade anschiebt, sieht er skeptisch. Das Geld dafür sollte lieber genutzt werden, wichtige bestehende Label bekannter zu machen. Daran hapert es.
"Am Ende wird aber nicht stehen", sagt Georg Abel, "dass ich jemanden morgens wecke und der Verbraucher sagt mir dann die drei wichtigsten Punkte beim Blauen Engel auf, sondern am Ende wird ein Gefühl stehen, 'irgendwie gut zur Umwelt'. Und wenn wir das schaffen, dann haben wir in dieser medienüberfluteten Welt etwas sehr Kostbares erreicht."
Konsumverhalten ist sehr unterschiedlich
Daniel Hanß ist Professor für Umweltpsychologie und Nachhaltigkeit an der Hochschule Darmstadt.
"Also erstmal muss man sagen, dass es nicht den Konsumenten oder die Konsumentin gibt", sagt er, "sondern Menschen sich sehr stark darin unterscheiden, was einem in Bezug auf Konsum, Einkaufsentscheidungen wichtig ist."
Und er ergänzt: "Ich glaube, dass man nur bedingt von Privatpersonen erwarten kann, dass sie im Detail wissen, welche Eigenschaften solche Produkte in Bezug auf Umweltschutz, Klimaschutz, Sozialverträglichkeit haben. Man kann eigentlich nur erwarten, dass Menschen da mit Daumenregeln arbeiten. Wir sprechen da von Heuristiken."
Einkaufen, vor allem das alltägliche, ist eigentlich eine Zumutung: Einkaufsort wählen, Produkte vergleichen, aussuchen, anstehen, bezahlen, nach Hause bringen. Wir verbringen immer mehr Zeit damit.
Daniel Hanß beschreibt, was wir als Verbraucher tun, um mit dem Konsumstress zurechtzukommen: "In ganz vielen Fällen, in denen man den Laden kennt, das Sortiment kennt und auch mit der Produktkategorie vertraut ist, greift man zu dem Produkt, dass man schon häufig vorher gekauft hat, mit dem man zufrieden war. Das sind dann Gewohnheiten, die da eine Rolle spielen. Und erst dann, wenn man in einen Laden kommt, den man nicht kennt, vor einem Regal steht, das man so noch nicht kennt, wenn da vielleicht neue Produkte stehen, erst dann, häufig erst dann kommt es zu einer bewussten Auseinandersetzung mit den Produkten, die da im Regal stehen."
Preis und Qualität als Hauptkriterien
Uns Konsumenten da neu zu orientieren ist schwer. Nach wie vor sind die entscheidenden Kaufkriterien der Preis und die Qualität. Erst ein ganzes Stück später kommen Ethik und Nachhaltigkeit ins Spiel. Oft ist der korrekte Konsum teurer – wir aktivieren deshalb psychologische Mechanismen, die uns den Mehrpreis irgendwie erträglicher erscheinen lassen.
"Beispielsweise gibt es Untersuchungen, dass Produkte mit einem Fairtradelabel auch als kalorienärmer als dasselbe Produkt ohne dieses Label, oder dass ein Produkt mit irgendeinem Label für irgendein Ziel nachhaltiger Entwicklung als besser im Geschmack bewertet wird, als ohne das Label", sagt Daniel Hanß.
Beim Einkaufen reden wir uns permanent Produkte schön, die wir eigentlich nicht anrühren sollten, beobachtet der Wirtschaftspsychologe. Wir verzichten nicht gerne auf irgendetwas. Dann ist das Gummibärchen eben gut für die Knochen und das neue Auto unbedingt notwendig und sowieso das sparsamste in der Allrad-Mittelklasse.
Produkte für Status und Selbstwertgefühl
"Es ist eine Grundtendenz, dass wir Dinge vereinfachen", sagt Daniel Hanß. "Und dass wir auch neue Dinge so wahrnehmen, dass sie zu unseren bestehenden Überzeugungen passen. Ein Produkt, das mir gefällt, das mir Spaß macht - da kann es natürlich auch sein, dass ich mir das auch in anderer Hinsicht schönrede. Kognitive Dissonanz, das beschreibt ja, dass wir Überlegungen, die im Widerspruch stehen, versuchen zu vermeiden, oder wenn sie entstehen, Strategien haben, das abzuschwächen. Das Auto, das mir gefällt, das ich gerne fahre und die Erkenntnis, das Auto ist klimaschädlich - dann habe ich möglicherweise Strategien parat, mir das dann schöner zu reden und diese kognitive Dissonanz, die da entsteht und die auch als sehr negativ empfunden wird, zu reduzieren."
Außerdem können nachhaltige Produkte unser Selbstwertgefühl als Konsument stärken. Wer sie kauft, demonstriert damit einen gewissen ökonomischen und kulturellen Status. Auch ganz schön: Ich kann mich zum Vorbild für andere machen. Aber das Beste: Als Konsument bekomme ich die Befriedigung sofort, die ich mir als Bürger sehr mühsam erkämpfen muss, mit Diskussionen, auf Demos, mit Zeitaufwand.
"Und da können Produktkennzeichnungen auch eine wichtige Rolle spielen und Menschen das Gefühl geben, dass sie Kontrolle über wichtige Dinge in ihrem Leben haben, über wichtige Entscheidungsbereiche haben", sagt Daniel Hanß. "Wir sprechen da von Empowerment, wir ermöglichen es Menschen, Dinge, die ihnen wichtig sind im Alltag dann umzusetzen und das ist ganz wichtig. Wenn das Gefühl entsteht, wir haben diese Möglichkeit nicht, dann führt das zu Frustrationen."
Tipps aus den Bundesministerien
"Ich kaufe bei Lidl, ich habe einen Boss-Anzug, ich habe eine Outdoor-Hose von Vaudee und trage Unterwäsche von Trigema. Was ich machen kann, mache ich", sagt Gerd Müller. Der Entwicklungshilfeminister gibt den Ton vor: Der Einzelne, der für sich genommen ganz wichtig ist und entscheidend zum Ganzen beiträgt, wann und wo er will. Das gehört zum Grundgefühl des modernen Individualismus.
Im Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung trägt man dem Rechnung. Dort hat man entschieden: "Du entscheidest". Im Empfangsraum des Ministeriums liegt eine kleine bunte Broschüre mit diesem Titel aus. Darin gibt es Tipps für nachhaltiges Leben, Bienenfütterung, den Genuss von Schoko ohne Reue und Müllvermeidung.
Die Ministerin Julia Klöckner verspricht im Vorwort: "Damit leben wir nicht nur selbst nachhaltiger, sondern wir nehmen Einfluss." Es ist ein Ansatz, der allen viel Freiheit lässt - den Konsumenten, den Herstellern und auch der Politik. Labels spielen dabei eine wichtige Rolle.
"Mein Name ist Hermann Onko Aeikens, ich bin ausgebildeter Landwirt von der Herkunft und habe immer im Bereich Landwirtschaft und Umwelt dem Staat gedient."
Lange als CDU-Minister in Sachsen-Anhalt, zuletzt bis vor wenigen Wochen als Staatsekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium. Der Beamte schaut beim Einkaufen selbst ganz gerne etwas genauer auf die Joghurtverpackung, oder auf die Banderole auf der Wurst.
"Wir haben einen guten Mix aus Pflichtangaben und freiwilligen Angaben", sagt er. "Wir sollten es der Wirtschaft nicht verwehren, wenn sie es für richtig hält, mit freiwilligen Angaben auch durchaus Werbung zu machen - was zum Beispiel das Regionalfenster angeht, eine absolut freiwillige Sache. Oder wenn es besondere Produktmerkmale angeht, aus der Bioproduktion, oder gentechnikfreie Produkte. Wir haben guten Grund, zum Beispiel die Nährwerttabelle zu haben. Eine Pflichtkennzeichnung, um den Konsumenten auch darüber zu informieren, welche Inhaltsstoffe ein bestimmtes Produkt hat."
Und der Konsument soll noch besser informiert werden. Noch mehr Labels.
"Was soll der Gesetzgeber darüber hinaus noch tun?", fragt Hermann Onko Aeikens. "Er versucht jetzt über einen Nutri-Score - zugegebenermaßen freiwillig - über ein Tierwohlkennzeichen, dem Konsumenten weitere Informationen zu geben, um es dem Konsumenten zu erleichtern, seiner Verantwortung gerecht zu werden."
Nutri-Score, Tierwohlsiegel, Grüner Knopf – alles freiwillig
Die fünfstufige Lebensmittelampel Nutri-Score und das dreistufige Tierwohlsiegel sind nicht die einzigen Labelprojekte dieser Bundesregierung. So hat auch das Entwicklungshilfeministerium ein Label angeschoben: den Grünen Knopf. Der darf auf Textilien stehen, deren Hersteller bestimmte soziale Standards einhalten. Noch ist er freiwillig - auch wenn die Drohung im Raum steht, es könne ein Gesetz folgen, wenn nicht mindestens die Hälfte der Textilunternehmen mitmacht.
Auf die Freiwilligkeit der Unternehmen hoffen – kann das funktionieren? Angesichts der Zustände in der Massentierhaltung, einem dramatischen Insektensterben, einer überzuckerten Bevölkerung, der Kinderarbeit in fernöstlichen Nähereien und verarmten Kaffeebauern in Südamerika? Warum müssen wir uns extra auf dem Warenetikett vergewissern: Das Zeug ist ok, das wir kaufen?
"Wir werden immer wieder gefragt, warum macht ihr das nicht verpflichtend", sagt Hermann Onko Aeikens. "Sie können Standards in der jeweiligen nationalen Gesetzgebung höher setzen, das ist richtig. Sie müssen aber auch die Auswirkungen auf den Wettbewerb beachten, wenn sie in einem gemeinsamen Markt leben, innerhalb der Europäischen Union, und die Nachbarstaaten dieses nicht tun. Wenn Standarderhöhungen, dann muss man in einem gemeinsamen Markt in allen Staaten etwas Derartiges realisieren."
Das braucht natürlich viel Zeit, gibt der ehemalige Staatssekretär Aeikens zu bedenken. Und man müsse berücksichtigen, dass nicht alle die gleichen Ansprüche an die Umwelt-, Gesundheits- und Sozialeigenschaften eines Produkts haben.
Der Markt bietet nach Aeikens Darstellung ein viel präziseres Instrument, um den Willen der Mehrheit abzubilden: "In einer Marktwirtschaft entscheidet auch der Konsument, wie nachhaltig wir leben. Das ist ja nicht nur im Bereich der Ernährung der Fall, sondern auch in anderen Produktbereichen entscheidet der Konsument: Kauft er umweltfreundlichere Autos, oder kauft er Autos, die sehr viel Kraftstoff verbrauchen. Wirft der Konsument nach dreimaligem Tragen die neuerworbene Kleidung weg. Also hier gibt es ja völlig unterschiedliche Verhaltensmuster."
Die man lieber mit Informationskampagnen als mit Gesetzen beeinflussen will.
Appell an Verantwortung der Verbraucher
"Wir würden uns auch wünschen, dass der Verbraucher zu mehr höherwertigen Produkten greift, die dann auch mehr Wertschöpfung beim Landwirt belassen", sagt Hermann Onko Aeikens.
Der Appell an die Verantwortung des Konsumenten entlastet die Politik. Aber er hat auch etwas Schmeichelhaftes. Eine verführerische Suggestion: Wir haben die Macht, ständig, bei jedem Einkauf. Und tatsächlich hat sich einiges getan. Bleiben wir bei der Ernährungsindustrie: Der Umsatz mit Biolebensmitteln hat sich in den vergangenen zehn Jahren etwa verdoppelt - auf 10 Milliarden Euro. Biosiegel gibt es inzwischen auf 80.000 Produkten.
Aber reicht das, um eine Agrarwende zu erreichen, wenn die EU jedes Jahr konventionelle Bauern mit 58 Milliarden Euro subventioniert? Oder wie steht es mit den jährlich 50 Milliarden Euro an umweltschädlichen Förderungen, die - nach Berechnungen des Bundesumweltamtes - allein in Deutschland geleistet werden?
Und die Klimakatastrophe? Foodwatch hat nachgerechnet. Selbst wenn sich die gesamte Bevölkerung auf Biokost umstellen würde, vermeidet diese gigantische Veränderung gerade mal so viel CO2, wie die Abschaltung eines einzigen Braunkohlekraftwerks.
Wie also konnte es soweit kommen, dass wir uns in der Rolle des kritischen Käufers so wohl fühlen?
"Als Soziologin nehme ich erstmal wahr", sagt Marianne Heinze, "dass immer mehr Menschen, diese Ansprüche, etwas Sinnvolles zu bewirken, mit ihren Konsumhandlungen verbinden möchten - also, dass sie immaterielle Werte dadurch befriedigen möchten und kann mir dann anschauen, wo das herkommt und meine Vermutungen anstellen."
Der Konsument als Retter der Welt?
Wir sind wieder zurück in der heilen Welt, im Bioparadies vom Anfang. Im Bistrobereich sitzt Marianne Heinze vor einer heißen Tasse fairem Kaffee. Sie forscht an der TU Dresden: "Also genauer am Fachbereich Kultursoziologie und Theorien der Soziologie. Ich promoviere zurzeit zum Thema warenästhetische Subjektivität, Verschiebungen und Erneuerungen von Diskursen alternativen Konsums."
Die vielen Labels überall, das Vertrauen in den Konsumenten, der es schon richten wird und die Welt vor dem Untergang rettet - das hat alles eine Vorgeschichte. Sie reicht zurück in die 60er-Jahre in die Zeit der Studentenrevolte. Erstmal ziemlich konsumkritisch.
"Dieses Protestmilieu in Westdeutschland richtete sich gegen die Konsumgesellschaft", sagt Marianne Heinze. "Man hat die Konsumenten in der Zeit, die in Warenhäuser gingen, aus linker Perspektive mit passiven, uninteressierten, also politisch uninteressierten Akteuren assoziiert und wollte sie mit den Aktionen aufrütteln. Es gab einige Kaufhausanschläge, mit denen aber vor allem aufmerksam gemacht wurde auf andere Probleme, wie den Krieg in Vietnam. Und Ende der 60er hat sich das dann gewandelt. Zunehmend wollte man da auch Alternativen schaffen, also nicht nur dagegen sein, sondern auch Utopien verwirklichen."
Die alternativen Visionäre arbeiteten in Kollektiven und kleinen autonomen Bauernhöfen. Sie zogen in Kommunen und versuchten dort, traditionelle Familien- und Diskursmodelle aufzubrechen.
"Darüber ist man sich auch bewusst, dass es bestimmte abgegrenzte Bereiche sind, die parallel zur kapitalistischen Gesellschaft existieren", erklärt Marianne Heinze. "Aber man hat die Hoffnung, dass es eine Verallgemeinerung gibt, dass es ganz viele andere gibt, die das attraktiv finden, wie das gelebt wird, diese Selbstversorgerhöfe, diese selbstverwalteten Betriebe und dass es Nachahmer findet und irgendwann die gesamte Gesellschaft ändert."
Alternativer Marsch durch die Institutionen
Aber die Mehrheit geht den Weg nicht mit. Das ist frustrierend und eine neue Strategie wird erprobt. Das alternative Milieu bedient sich zunehmend der vorhandenen Instrumente, um einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Es entstehen Interessenverbände, alternative Parteien, der Marsch durch die Institutionen beginnt. Und die Rebellen freunden sich mit der Marktwirtschaft an.
"Dieses Bedürfnis allerdings, andere Dinge, die darüber hinausgehen, also über den Preis und die Haltbarkeit zu befriedigen, nämlich Dinge zu erreichen, wie fairere Löhne, oder für umweltverträglichere Produktionsbedingungen zu sorgen, das entsteht meines Erachtens erst in den 70er-Jahren", sagt Marianne Heinze.
Dritte Welt Läden machen in den Städten auf, Methoden des Ökolandbaus werden verbreitet, Anbauverbände gegründet. Im richtigen Geschäft kann man die guten Dinge erwerben. Mit steigendem Wohlstand wird das immer einfacher. An der Ladenkasse bezahlen wir etwas mehr, aber gleichzeitig unterstützen wir ja auch nachhaltige Projekte. Ein gutes Gefühl beim Bezahlen.
Was in einer Nische begann, ist inzwischen allgegenwärtig: Fast überall können wir uns mit Geld ein gutes Gefühl erkaufen. Im Discounter, beim Buchen einer Fernreise, oder beim Kauf eines zweieinhalb Tonnen schweren SUV von einem kriminellen Autokonzern. "Die Welt ist in Schieflage, deshalb erheben sich immer mehr Menschen für mehr Nachhaltigkeit", heißt es in einer Autowerbung.
Vom kritischen Bürger zum kritischen Konsumenten
Die Protestbewegung hat einen weiten Weg zurückgelegt - vom brennenden Kaufhaus bis zum Bioregal. Aus dem kritischen Bürger ist ein kritischer Konsument geworden. Damit macht sich auch ein fragwürdiges Verständnis von Teilhabe an der politischen Willensbildung breit. Wer kaufen kann, bestimmt, wo es lang geht. Aber die Welt retten? Das kann nicht funktionieren, fürchtet die Soziologin. Der Kaffee in ihrer Tasse ist inzwischen kalt geworden.
"Die Idee, über den Einkaufswagen etwas grundlegend an der Warenökonomie zu ändern, muss fehl laufen", sagt Marianne Heinze. "Weil das, was auf der Verkäuferseite ankommt, wenn ich ein nachhaltiges Produkt kaufe, ist: Es besteht eine Nachfrage im Sinne der Angebots- und Nachfragelogik des Marktes. Und ich kann mehr Produkte herstellen und damit mehr Käufer bedienen und kann dadurch meinen Umsatz und meine Möglichkeiten, dieses Marktsegment zu vergrößern, ausweiten. Aber diese Logik schneidet sich überhaupt nicht mit der konventionellen Profitlogik."
Es ist die Fundamentalkritik, die den kritischen Konsum seit seinen Anfängen begleitet. Das Misstrauen gegen die Dynamik von Markt, Gewinnstreben und Wachstum - das sind schließlich die Mechanismen, die hinter Umweltzerstörung und Ausbeutung stehen. Sie wirken weiter - auch unter dem Versprechen der Nachhaltigkeit. Ob mit oder ohne Label.
Dieser Beitrag ist eine Wiederholung und wurde erstmals am 18.02.2020 gesendet.