"Dieser Film ist ein Aufschrei"
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"Zeigen, was in den Banlieues los ist": Dieses Ziel verfolgt der Filmemacher Ladj Ly mit seinem Film "Les Misérables". Wie Victor Hugos gleichnamiger Roman spielt der Film im Pariser Vorort Montfermeil. Doch die heutigen Probleme dort sind andere.
Patrick Wellinski: Wie der Roman von Victor Hugo spielt ihr Film "Les Miserables" im Pariser Vorort Montfermeil. Wie wichtig ist ihnen der Bezug zum Roman? Beziehungsweise was ist die Parallele für Sie?
Ladj Ly: Man darf meinen Film "Les Miserables" nicht als eine Verfilmung von Victor Hugos Roman missverstehen. Der Titel ist eher eine Art Augenzwinkern. Wir haben uns daran erinnert, dass ein Teil von Hugos Roman im Vorort Montfermeil spielt, so wie mein ganzer Film. Aber so wie das Buch erzählt auch mein Film von einer Misere der Bewohner, die über ein Jahrhundert nach den Ereignissen, die Hugo beschrieben hat, in Montfermeil immer noch an der Tagesordnung ist.
Wellinski: Ist das Elend dasselbe, aber die Ursachen sind andere?
Ladj Ly: Das ist anderthalb Jahrhunderte später natürlich nicht die gleiche Misere. Das kann ja gar nicht die gleiche sein. Wir leben in einer anderen Epoche. Es sind andere Menschen, es sind andere Formen von Elend, unter der die Bevölkerung leidet. Insofern ist es auch nicht vergleichbar. Aber den Menschen geht es schlecht, so viel steht fest. Sie leben elendig.
Franzosen zweiter Klasse
Wellinski: Sie beginnen Ihren Film mit sehr eindrücklichen Bildern vom WM-Sieg der Französischen Nationalmannschaft 2018. Alle sind auf der Straße, alle feiern, ein Volk, eine Einheit, man sieht die Euphorie. Und dann nutzen Sie zwei Stunden Ihres Films dazu, diese Einheit zu dekonstruieren. War es Ihnen wichtig, die Einheit zu Beginn des Films als Selbstlüge einer Nation zu zeigen?
Ladj Ly: Ja, der WM-Sieg 2018, der Jubel des ganzen Landes: Das waren in der Tat sehr starke Bilder, die sich bei mir intensiv eingeprägt haben. Zwanzig Jahre zuvor – 1998 – wurde Frankreich ja auch schon Fußball-Weltmeister, und da war ich gerade 18 Jahre alt, und das war damals wirklich ein Frankreich, in dem plötzlich die Hautfarbe kaum eine Rolle spielte. Man unterschied nicht mehr zwischen "schwarz" oder "weiß", man sagte nur "blau-weiß-rot". Die Trikolore, die sämtliche Mischformen der Hautfarbe dargestellt, ein Begriff, der auch die Zugewanderten miteinschloss. Und das war ein wunderbares Ereignis. Wir waren alle eins! Wir waren alle zusammen! Wir waren ein Frankreich! Alle waren Franzosen, unterschiedslos, egal, wo sie oder ihre Eltern geboren wurden.
Aber das währte nicht lange. Man zeigt uns sehr häufig, dass wir letztendlich doch keine Franzosen sind. Oder nur zur Hälfte. Franzosen zweiter Klasse. Und genau das ist etwas, was in Frankreich ein ziemliches Problem darstellt, weil Frankreich bis heute noch ein großes Problem mit seiner eigenen Vergangenheit hat, mit der eigenen Vergangenheit als Kolonialherren und Sklavenhalter. Frankreich möchte sich letztendlich nicht an diese Geschichte erinnern. Frankreich will sich seinen Irrtümern und seiner Schuld überhaupt nicht stellen, und das führt dazu, dass das bis heute letztendlich auch verdrängt wird.
Das bringt mich zu den Jubelbildern der WM 2018. Das war dann doch wieder sehr ähnlich wie 1998, und deswegen war es mir wichtig, diese Jungs im Rausch zu zeigen. Diese Teenager, die ganz in blau-weiß-rote Fahnen gehüllt waren. Die zwei Stunden Fahrzeit aus einem Vorort in die Innenstadt von Paris auf sich nehmen, um da in einem Café mit anderen Leuten zusammen das Finale zu sehen. Und alle sind selig und trunken vor Glück. Alle sind eins. Und dann fahren die Jungs zurück in ihren Vorort. Und nur zwei Tage später ist alles wieder beim Alten und nichts hat sich geändert. Ich finde das sehr bedauerlich.
Ein Hilferuf an die Politik
Wellinski: Sie zeigen ja eine Art Mikrokosmos, in dem sich die ganzen Konfliktlinien entladen, die Sie gerade geschildert haben. Sie zeigen den ersten Arbeitstag eines Polizisten in einer Spezialeinheit. Er begegnet Muslimbrüdern. Es gibt einen Raub in einer Roma-Wanderzirkusfamilie. Wir begegnen vielen Menschen, die sich aber auch häufig an der Grenze zum Recht befinden und diese Grenze auch mal gerne überschreiten. Dennoch suchen Sie keine Schuldigen. Sie zeigen alle, auch die Polizisten, als Opfer eines Systems. Gibt es innerhalb dieses Systems nur Opfer?
Ladj Ly: Ja, der Film ist ein großer Aufschrei. Ein Aufschrei und ein Hilferuf, der sich an die Politik richtet. Die Politiker haben in den letzten 30 Jahren diese Viertel nahezu aufgegeben und sich nicht weiter darum gekümmert. Und jetzt geht es darum, Lösungen zu suchen, am besten gemeinsam. Ich zeige im Film die komplexe Lage und die unterschiedlichen Gruppen mit ihren Partikularinteressen. Aber hinter allem muss gesellschaftspolitisch das große gemeinsame Ziel stehen, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen.
Wie Teenager die Banlieues erleben
Wellinski: Im Fokus des Films stehen interessanterweise die Jugendlichen. Und wenn Sie sagen, man solle Lösungen für eine Zukunft finden, meinen Sie dann auch die Zukunft, die diese Jugendlichen darstellen? Denn die interessieren Sie am meisten?
Ladj Ly: Ja, der Film will zeigen, wie Kinder und Teenager die Situation in den Banlieues erleben. Daher auch mein Fokus auf die Kindheit der Protagonisten, die von den anderen Bewohner liebevoll-abschätzig "Mikroben" genannt werden. Sie sind aber die Zukunft dieser Viertel. Für sie ist es ganz besonders wichtig, dass die Situation in den französischen Vororten nicht aus dem Ruder läuft. Für sie müssen sich die Erwachsenen zusammenraufen und gemeinsam eine Lösung finden.
Ein Autodidakt im Kino
Wellinski: Sie inszenieren sehr intensiv, sind sehr nah mit der Kamera an den Menschen dran. Sie kleben förmlich an den Figuren. Warum war Ihnen das wichtig oder anders gefragt: Wie haben Sie am visuellen Konzept von "Les Miserables" gearbeitet? Man kennt ja die unterschiedlichen Banlieue-Filme aus Frankreich. Da gibt es durchaus unterschiedliche Herangehensweisen, Sie haben sich jetzt für die sehr intensive ja sehr schnelle Art und Weise des Erzählens entschieden?
Ladj Ly: Ich habe über zehn Jahre Dokumentarfilme gemacht. Lauter Dokumentarfilme, die nie von einem Fernsehsender gekauft oder gesendet wurden. Ich kann da schon von einer Form der Zensur sprechen. Ich habe meine Filme im Internet veröffentlicht, damit sie etwas mehr Sichtbarkeit bekommen. Ich möchte ja mit meinen Filmen auch Leute erreichen, und um das zu schaffen, habe ich mich jetzt dem Spielfilm zugewandt. Aber mein Regiestil ist noch sehr im Dokumentarischen verankert. Das heißt, wie Sie schon richtig beschrieben haben, der Einsatz der Handkamera, die Betonung der Nähe, des Direkten, das dominiert. Aber das sind alles Dinge, die ich aus dem dokumentarischen Arbeiten gelernt habe, und in diesem Spielfilm wurde das gewissermaßen meinem Markenzeichen.
Wellinski: Das ist ja wirklich spannend. Denn wenn man den Film sieht, spürt man eine Nachbarschaft zu Jacques Audriard oder Spike Lee, die nicht gerade vom Dokumentarfilm kommen. Ist das vielleicht auch ein Kino, das Sie inspiriert oder ist nur diese dokumentarische Linie, die Sie verfolgen?
Ladj Ly: Das mag jetzt sehr komisch erscheinen, aber ich habe da eigentlich gar keine Referenzen, keine Namen, die ich nennen könnte. Ich gehe relativ wenig ins Kino und habe da auch keine klassischen Vorbilder. Natürlich kenne ich die Filmgeschichte. Und ich mag auch das ein oder andere. Ich bin aber im Wesentlichen ein Autodidakt und das Filmemachen, das Inszenieren, das Schneiden, all das habe ich mir selbst beigebracht. Und für mich geht es vor allem immer darum, meine Geschichten zu erzählen.
Zeigen, was in den Banlieues los ist
Wellinski: Abschließend die Frage: Wenn Sie Ihren Film als Intervention begreifen, was wollen Sie mit "Les Miserables" erreichen? Soll es etwas verändern, oder nur eine Diskussion in Frankreich anstoßen. Was ist Ihr Ziel? Haben Sie eins?
Ladj Ly: Mir geht es darum, der Politik klar zu zeigen, was in den Banlieues los ist. Ich möchte der Politik die Ergebnisse ihres Handelns - oder vielmehr ihres Nicht-Handelns - vor Augen führen. Ich möchte, dass wir als Gesellschaft wieder eine Diskussion aufnehmen, dass wir öffentlich diskutieren, sowohl über diese Vorstadtsiedlungen also auch über andere schwierige Wohnviertel in Frankreich. Da gibt es viel zu tun, und da ist auch schon viel versucht worden, aber ohne Ergebnis. Ich will, dass Präsident Macron diesen Film sieht. Macron hatte einen Plan für die Verbesserung der Lebenssituation in den Vororten entwickelt, der wurde dann aber ganz kurzfristig fallengelassen. Es ist Zeit, dass wir in Frankreich gemeinsam ganz viele Lösungen finden für die vorhandenen Probleme.
Ladj Ly: Mir geht es darum, der Politik klar zu zeigen, was in den Banlieues los ist. Ich möchte der Politik die Ergebnisse ihres Handelns - oder vielmehr ihres Nicht-Handelns - vor Augen führen. Ich möchte, dass wir als Gesellschaft wieder eine Diskussion aufnehmen, dass wir öffentlich diskutieren, sowohl über diese Vorstadtsiedlungen also auch über andere schwierige Wohnviertel in Frankreich. Da gibt es viel zu tun, und da ist auch schon viel versucht worden, aber ohne Ergebnis. Ich will, dass Präsident Macron diesen Film sieht. Macron hatte einen Plan für die Verbesserung der Lebenssituation in den Vororten entwickelt, der wurde dann aber ganz kurzfristig fallengelassen. Es ist Zeit, dass wir in Frankreich gemeinsam ganz viele Lösungen finden für die vorhandenen Probleme.