Wer vor lauter Arbeit nicht dazu kommt, sich zu informieren und sich auszutauschen, kann sich auch politisch nicht aktiv beteiligen.
Längere Wochenarbeitszeit
Raus aus der Krise durch Extrarunden im Hamsterrad? Pauline Pieper meint: Immer mehr Arbeit ist auch keine Lösung. © Getty Images / iStockphoto / serikbaib
Teilhabe statt Mehrarbeit
03:58 Minuten
Gasknappheit, Inflation, Fachkräftemangel: Um unseren Wohlstand zu erhalten, müssten wir länger arbeiten, mahnen derzeit einige – zuletzt Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel. Das zeugt von einem verkürzten Arbeitsbegriff, kommentiert Pauline Pieper.
Wer den Wohlstand erhalten wolle, der müsse auch Bereitschaft zeigen, sich ein bisschen mehr anzustrengen, so vor kurzem der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel: Wir müssen mehr arbeiten – immerhin stehen uns harte Zeiten bevor. Eine Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit hatten zuvor bereits Vertreter der deutschen Wirtschaft gefordert.
Wohlstand braucht nicht nur Lohnarbeit
Ganz praktisch ließe sich dagegen einwenden, dass eine längere Arbeitszeit nicht zwangsläufig zu mehr Produktivität führt – im Gegenteil zeigen Studien, dass die Qualität der Arbeit entscheidend ist und eine kürzere Arbeitszeit die Produktivität sogar steigern kann.
Darüber hinaus wirft der Arbeitsbegriff, der hinter Gabriels Forderung steht, aber auch grundlegende Fragen auf. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister geht anscheinend davon aus, dass es allein die produktive Lohnarbeit ist, die Wohlstand hervorbringt – und je mehr ge(lohn)arbeitet wird, desto besser.
Feministische Denkerinnen haben schon in den 70er-Jahren darauf hingewiesen, dass ein solcher Arbeitsbegriff verengt ist.
Denn damit eine Person überhaupt zur Arbeit gehen kann, muss schon eine Fülle an anderer, meist unbezahlter, Arbeit verrichtet worden sein: Essen muss zubereitet, die Wohnung geputzt, Kleidung gewaschen und der Nachwuchs versorgt sein. Diese sogenannte reproduktive Arbeit ist für die Erzeugung des Wohlstands mindestens so wichtig wie die produktive Lohnarbeit – und braucht Zeit und Energie.
Politische Teilhabe braucht Muße
Aber nicht nur Hausarbeit und Kindererziehung halten das gesellschaftliche Leben auch außerhalb der entlohnten Arbeit aufrecht. Dazu tragen auch nachbarschaftliche Aktivitäten bei, die stets hochgelobten Ehrenämter und nicht zuletzt: die politische Beteiligung.
Zu demokratischer Teilhabe zu befähigen, ist aber gerade eine grundlegende Funktion von Arbeit. So sieht es jedenfalls der Sozialphilosoph Axel Honneth. Er betont, dass die Lohnarbeit deshalb nicht nur zeitlich begrenzt sein müsse. Sie solle auch selbst so strukturiert sein, dass sie Mitbestimmung ermögliche, die Erfahrung von Kooperation und sozialer Anerkennung. Denn wessen Meinung im Job nicht zählt, wer sich nicht wertgeschätzt und auf sich allein gestellt fühlt, wird auch sein Recht auf politische Mitbestimmung weniger wahrnehmen.
Bessere Arbeit statt mehr Arbeit
Anstatt also die Arbeitszeit noch zu erhöhen, sollten wir uns lieber Gedanken darüber machen, wie die Arbeit insgesamt besser verteilt und organisiert werden kann. Dass hier Veränderungen bitter nötig sind, zeigen nicht zuletzt die Streiks und die Personalflucht in der Pflege und an den Flughäfen.
Der Wohlstand einer Gesellschaft hängt nicht nur von der Menge der bezahlten Arbeitsstunden ab, sondern auch von der Qualität der Arbeit selbst – sowohl der produktiven als auch der reproduktiven Arbeit, die unsere Gesellschaft im Hintergrund am Laufen hält.
Wenn betont wird, dass sich zur Bewältigung dieser Krisenzeiten alle mehr anstrengen müssen, dann kann man dem nur zustimmen: Der Klimawandel macht deutlich, dass wir unsere Art zu leben und zu wirtschaften grundlegend ändern müssen. Nachhaltig müssen wir nicht nur mit den Ressourcen der Natur umgehen, sondern auch mit unseren menschlichen Ressourcen. Man kann nur hoffen, dass die Koalition, die sich den sozial-ökologischen Fortschritt auf die Fahnen geschrieben hat, innovativere Ideen auf Lager hat als die Erhöhung der Arbeitszeit.