Lärm und Stille (3)

Stille im Plural

Der Gerichtssaal des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
Stille im Gerichtssaal - hier beim Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg © Rainer Jensen, dpa picture-alliance
Von Kathrin Röggla |
"Lärmkrieg" heißt ein Theaterstück der österreichischen Autorin Kathrin Röggla. In den Originaltönen dieser Woche befasst sie sich nicht nur mit Lärm, sondern auch dem Gegenteil: der Stille.
Es gibt die behauptete Stille, die konkret erlebte, die uns aufoktroyierte. Die Recherchestille, die Stille nach dem Schuss, die abwartende Stille, die Stille zwischen zwei und drei, die Stillarbeitszeit der Hausaufgaben, die kleine Stille direkt neben der großen, die heiß ersehnte – dann die Krankenhausstille, darunter die Frühchenstille oder die Sterbezimmerstille – es gibt die gefakte Stille, die mit Musikuntermalung simulierte, mit Gescharre und Mikrophonräuspern, die politische Stille, die aus dem plötzlichen Schweigen, dem sogenannten Totalschweigen der unterschiedlichen Parteien resultiert, aus den Interessenskollisionen.
Es gibt die aus dem schweigendem Abzug der Streikenden hervorgerufene Stille, die mündliche Stille und die schriftliche, die Radiostille, die es nicht geben darf und schon den Schrecken von Nationen zur Folge hatte, die sogenannte Funkstille, die uferlose und die markierte Stille, die ansonsten nicht aufgefallen wäre, die Stille, die sich versteckt in einem Lächeln, einem bitteren Zug, die Stille, die mich von hinten angefallen hat und die, die mich gar nicht erst erreichen konnte. Die Stille der anderen und die eigene, die widerstreitende Stillen sind und besonders den Kindern auffallen. Die Stille, die man nicht benennen kann, die aber niemand als friedlich bezeichnen würde, eben eine Stille, die zerrissen werden kann jeden Moment von einem unheimlichen Geräusch.
Die Stille bleibt im Raum zurück
Es gibt / die Stille, die im Raum zurückbleibt, nachdem die Zeugen diesen verlassen haben, die das Geschehen beobachtende Stille, die mit Geräuschlosigkeit nichts am Hut hat, sowie die Computerstille, die niemand auswendig lernen will, es gibt sogar eine Geschwindigkeit der Stille, die man aber schlecht messen kann, der Druck, den sie ausübt auf alle Beteiligten, ist jedenfalls immer unterschiedlich groß. Es gibt sie nicht, die Stille im Netz, von der manchmal die Rede ist, eher schon die Stille, die fordernd ist, eben die drückende Stille, die wir schon mal hatten und die uns jetzt langsam auf den Nerv zu gehen beginnt, weil sie sich hier so ausbreitet - kann denn niemand was sagen? Die Stille, die direkt aus der Beleidigtheit der Schwester herauszukommen scheint, und eine ganz andere, die direkt in ihren Ehemann hineingeht – Die Stille, die sich mittlerweile, kaum, dass wir es bemerkt haben dupliziert verdreifacht, vervierfacht hat in diesem Verhandlungsraum, in diesem Abhandlungsraum, und jetzt sitzen wir da mit Lärmschulden.

Andere Lärmschulden als jene, die aus der Verlagerung des Industrielärms in andere Länder resultiert.

- aber jetzt bitte ich mal wirklich darum, dass hier wie bei den Simultandolmetschern der Stilleknopf gedrückt wird, d.h. die Räuspertaste, die bisher immer einwandfrei funktioniert hat!

Die Autorin Kathrin Röggla wurde 1971 in Salzburg geboren. Sie studierte Germanistik und Publizistik in Salzburg und Berlin. Im Jahr 1992 entstanden die ersten Bücher sowie Kurzprosa. Seit 1998 verfasst und produziert sie auch Radioarbeiten – Hörspiele, akustische Installationen, Netzradio. Seit 2002 schreibt sie Theatertexte. Für die Reihe "Originalton" schreibt sie in dieser Woche über Lärm und Stille.

© dpa / picture alliance / Fredrik von Erichsen
"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart". Wir bitten Schriftsteller jeweils für eine Woche um einen kurzen Text. Er soll kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen.
Mehr zum Thema