Lambsdorff: Finanzieller, aber kein moralischer Schlussstrich
Otto Graf Lambsdorff hat die Arbeit der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" zur Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter gewürdigt. Man habe getan, was getan werden konnte, sagte der ehemalige Verhandlungsführer der Bundesregierung für die Zwangsarbeiterentschädigung. "Es hat einen finanziellen Schlussstrich gegeben. Einen moralischen Schlussstrich unter diese Sache kann und darf es niemals geben."
Brink: Die Geschichte der Entschädigung der Zwangsarbeiter unter dem nationalsozialistischen Regime war eine langwierige, mühsame Geschichte. Etwa 5 Milliarden Euro wurden – nach langem Ringen - von der Wirtschaft aufgebracht und in die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" eingezahlt. Heute wird die Arbeit der Stiftung im Rahmen einer Feierstunde beim Bundespräsidenten offiziell beendet.
Otto Graf Lambsdorff wurde im Jahr 1999 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder gebeten, die Verhandlungen mit der Wirtschaft über die Entschädigung der nationalsozialistischen Zwangsarbeiter zu führen. Wir sind jetzt mit ihm verbunden, und meine erste Frage an ihn: Herr Lambsdorff, sind denn alle Zwangsarbeiter nun entschädigt worden?
Otto Graf Lambsdorff: Ja, alle Zwangsarbeiter, die sich gemeldet haben und die sich haben registrieren lassen und Ansprüche angemeldet haben, sind entschädigt worden, in unterschiedlichen Größenordnungen, auch von Land zu Land ein bisschen unterschiedlich. Aber alle, die wir erreichen konnten, sind entschädigt worden.
Brink: Hat man denn alle erfassen können?
Graf Lambsdorff: Nein, die Frage kann man ganz gewiss nicht mit ja beantworten, aber man kann sie auch nicht mit nein beantworten. Wir wissen es natürlich nicht, ob es nicht doch noch irgendwo Menschen in der weiten Welt gibt, die sich nicht gemeldet haben, die die ganzen Auslobungen und Ankündigungen übers Fernsehen, über Internet usw. nicht verfolgen konnten und nicht gesehen haben. Da bleibt immer eine gewisse Grauzone und ein gewisser Unsicherheitsfaktor, den kann man nicht aus der Welt schaffen. Wir haben das getan, was wir tun konnten, und das konnten wir natürlich nur noch auf finanzielle Weise tun. Und das haben wir auch in einem Umfang und einer Größenordnung getan, die sich sehen lassen kann und die respektabel war und manierlich.
Brink: Es waren bislang ja 1,66 Millionen Opfer, denen bis zu 7.500 Euro ausgezahlt worden sind. Heißt das, dass jetzt keine Anträge mehr gestellt werden können, wenn die Stiftung ihre Arbeit heute offiziell beendet?
Graf Lambsdorff: Nein, das ist nicht neu, Frau Brink, es können schon seit einiger Zeit keine Anträge mehr gestellt werden. Man musste ja einen Überblick haben, wie viel Zwangsarbeiter und Anspruchsberechtigte es überhaupt gibt. Die mussten bis zu einem Verfalldatum, das ist sicher jetzt schon zwei Jahre her, ihre Ansprüche anmelden, und danach konnte man nicht mehr anmelden. Wie sollten wir anfangen auszuzahlen und das Geld aufzuteilen, wenn man nicht die endgültige Zahl der Antragsteller kennt. Das ist geschehen, das ist also vorbei, und jetzt können Anträge nicht mehr gestellt werden, sie können auch kein Geld mehr bekommen.
Brink: Gerhard Schröder sprach über die Entschädigung von Zwangsarbeiter als vom letzten noch offenen Kapitel der deutschen Geschichte. Ist das Kapitel nun wirklich abgeschlossen?
Graf Lambsdorff: Dieses Kapitel ist abgeschlossen, aber es wird nicht das letzte Kapitel der deutschen Geschichte - das wage ich nicht so ganz zu beurteilen -, aber das Kapitel Sklaven- und Zwangsarbeiter ist abgeschlossen in der Form, wie wir es eben jetzt besprochen haben.
Brink: In der finanziellen Form?
Graf Lambsdorff: Es geht immer darum, und das ist, was ich immer wieder unterstreiche. Es hat einen finanziellen Schlussstrich gegeben. Einen moralischen Schlussstrich unter diese Sache kann und darf es niemals geben.
Brink: Es gab ein Unbehagen auch auf Ihrer Seite über die Summe, die ja im Zweifelsfalle nur eine symbolische Summe sein kann. Haben Sie weiterhin dieses Unbehagen angesichts dieser Summe?
Graf Lambsdorff: Ja, das habe ich immer gehabt, aber es geht doch nicht nur ums Geld und um die Summe, sondern es geht auch einfach um die Frage, wie kann ich denn gestohlene Jahre meines Lebens, wie kann ich die durch Geld entschädigen. Das haben auch manche der Zwangsarbeiter, die jetzt entschädigt worden sind, gesagt: Ihr könnt mir Geld geben, aber ihr könnt mir natürlich nicht das wiedergeben, was ihr mir genommen habt. Das ist leider richtig. Und dieses Unbehagen bleibt, aber dem ist auch nicht abzuhelfen.
Brink: Sie waren der Verhandlungsführer zwischen der Industrie und der Bundesregierung und beteiligt am Zustandekommen der deutsch-amerikanischen Regierungsvereinbarung über den Rechtsschutz für deutsche Unternehmen. Warum im Rückblick hat sich denn die deutsche Wirtschaft so schwer getan, das Geld, das waren insgesamt fünf Milliarden, zusammenzubringen?
Graf Lambsdorff: Einmal muss ich sagen, wenn es nur die Bundesregierung und die deutsche Industrie wären, mit denen ich zu verhandeln gehabt hätte, da wäre es noch einfach gewesen. Aber da waren auch die Amerikaner, da war die Jewish Claims Conference, da waren Partnerorganisationen in Osteuropa, da saßen 100 Menschen im Saal ...
Brink: Aber erst mal war es ja eine deutsche Vereinbarung, dass die Bundesregierung und die deutsche Wirtschaft sich geeinigt haben, okay, wir haben die Summe von fünf Milliarden.
Graf Lambsdorff: Die Einigung musste man ja auch erst mal herstellen, und man musste aber auch mit der anderen Seite, also mit den Anspruchstellern und deren Organisationen ... Ich sag noch einmal ... zum ersten Mal zu der Sitzung nach Washington kam, saßen da 100 Menschen im Saal, mit denen mussten wir Einigkeit erzielen, ob der Betrag, den wir erreichen konnten, denn überhaupt ausreichend sei, um von denen akzeptiert zu werden. Noch 14 Tage, bevor wir uns auf die zehn Milliarden DM einigten, haben amerikanische Anwälte mit mir in Frankfurt am Flughafen gesessen und wollten 24 Milliarden Dollar haben und sagten, das sei ihre unterste Grenze. Also es war ein schwieriger Verhandlungsmarathon nach allen Seiten hin.
Die deutsche Wirtschaft hat sich schwergetan, das ist richtig, weil manche Unternehmen nicht einsehen wollten, dass es auch in ihrem Interesse lag, die Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen in Amerika zu erreichen. Das war ja das Ziel der Wirtschaft bei dieser ganzen Operation. Dieser moralische Aspekt wurde gesehen, aber es wurde auch der geschäftliche Aspekt gesehen, und das geht nun in dieser Welt immer mal Hand in Hand, dass man sich vor weiteren Klagen wegen Zwangsarbeiter und Sklavenarbeit in den Vereinigten Staaten schützen wollte. Und das war das Argument, mit dem der Verhandlungsführer der Wirtschaft dann auch dafür sorgen konnte, dass am Ende die zehn Milliarden zustande kamen, einfach war das aber nicht.
Brink: Noch mal nachgehakt: Das waren am Anfang nur 1,8, als die Stiftung eigentlich ihre Arbeit aufgenommen hat. Warum haben die sich so schwergetan?
Graf Lambsdorff: Also erstens muss ich mal dazu sagen, es war nicht meine Aufgabe. Das hat Herr Dr. Gentz, der Finanzvorstand von DaimlerChrysler, weil der ja für die Wirtschaft das Geld eingesammelt hat. Ich habe mit vielen Unternehmen zur damaligen Zeit auch gesprochen, und viele waren bereit, sich zu beteiligen. Einige haben gesagt, unser Unternehmen hat doch zur Nazi-Zeit noch gar nicht bestanden. Das konnte aber auch nichts helfen. Es musste die gesamte deutsche Wirtschaft sehen, dass es hier eine solidarische Aufgabe gab, und davon musste man sie überzeugen. Das ist uns nicht in allen Fällen gelungen. Viele, auch mittlere Unternehmen, die haben gesagt, wir haben doch damit gar nichts zu tun gehabt, wir haben überhaupt nie Zwangsarbeiter gehabt. Manche haben gesagt, wir haben keine Zwangsarbeit gehabt während der Nazi-Zeit und dann erstaunt in ihren Büchern festgestellt, ach du lieber Himmel, wir hatten ja doch welche.
Es ging aber nicht nur darum, dass sich die beteiligten, die Zwangsarbeiter hatten, denn die, die keine ... dann hätten wir niemals das Geld zusammenbekommen können. Es musste wie gesagt die gesamte Wirtschaft wirklich bereit sein, diese Operation mitzumachen, zu finanzieren und noch einmal, auch um eben Ruhe vor amerikanischen Klagen, vor amerikanischen Gerichten zu haben.
Brink: Sie sind ja nun wahrlich versiert in Wirtschaftsdingen. Hat das denn Ihr Bild von der deutschen Wirtschaft verändert?
Graf Lambsdorff: Nein. Ich hatte nicht viel anderes erwartet. Ich war sehr beeindruckt davon, dass viele Unternehmen und auch viele persönliche Unternehmer, mit denen ich damals gesprochen habe, bereit waren, sich dafür einzusetzen und sich dafür stark zu machen und das Geld zur Verfügung zu stellen. Aber mich hat es auch nicht gewundert, dass andere gesagt haben, nein, das wollen wir nicht, haben wir nichts mit zu tun. So sind die Menschen nun mal, und auch deutsche Unternehmer sind nicht alle edelmütig und alle von der Caritas beseelt.
Brink: Der SPD-Abgeordnete Dieter Wiefelspütz, der im Stiftungskuratorium der Stiftung sitzt, hat einmal gesagt, es gab Phasen, da hat das mich bedrückt, dass man ständig über Geld redete und nicht über Schicksale. Wie ging es denn Ihnen?
Graf Lambsdorff: Das ist richtig, aber ich kann eigentlich das nicht ganz voneinander trennen. Wir haben über Geld geredet, aber über Geld haben wir geredet wegen der erlittenen Schicksale. Und die erlittenen Schicksale sind uns schon sehr vor Augen getreten. Es hat ja viele Bücherveröffentlichungen darüber gegeben. Man musste sich erst mal darüber informieren, wie das denn in den so genannten festen Lagern aussah, wie das in den Ghettos aussah. Von Konzentrationslagern wusste man das schlimmerweise, aber in manchen Orten wusste man das nicht. Die Bedingungen in diesen Unterbringungen waren auch ein Grund dafür zu sagen, du bist Sklavenarbeiter oder du bist Zwangsarbeiter. Und Sklavenarbeiter haben wir höher entschädigt als Zwangsarbeiter. Das musste aber erst alles einvernehmlich geregelt und vorher dafür erforscht werden.
Brink: Haben Sie etwas Neues erfahren, auch was Sie noch mehr erschreckt hat, was Sie nicht schon wussten?
Graf Lambsdorff: Ja, ich habe Neues wohl erfahren, die zum Teil wirklich abenteuerlich - das ist ein milder Ausdruck - schlechte Behandlung von Zwangsarbeitern. Nicht überall. Die abenteuerlich schlechte Behandlung der Zwangsarbeiter in manchen Industriebereichen war schon unmenschlich, menschenunwürdig und wirklich niederziehend.
Auf der anderen Seite gab es diejenigen ... Ich habe auch einen erlebt, der hat mir gesagt, ich war als Zwangsarbeiter - ein Ukrainer war das - in Bayern in der Landwirtschaft, das war die schönste Zeit in meinem Leben. Da gab es sehr unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Aspekte.
Aber überwiegend war natürlich, dass die Zwangsarbeiter misshandelt wurden, schlecht ernährt wurden, ausgebeutet wurden und viele von ihnen, ja nicht zu Tode gearbeitet wurden, weil die Nazis das nicht wollten, sie brauchten nämlich die Arbeitskräfte, aber bis an den Rand der Erschöpfung, bis an den Rand des Todes arbeiten mussten.
Brink: Die Arbeit der Stiftung ist vom heutigen Tag an offiziell beendet. Bei den Leistungen für die Zwangsarbeiter sind 3,7 Millionen Euro übrig geblieben, und es gibt noch den so genannten Zukunftsfonds. Dieser Fonds finanziert internationale Projekte, etwa für die Begegnung zwischen Jugendlichen und Zeitzeugen oder auch für Demokratieerziehung. Die Gelder dieses Fonds wurden bislang auch vom Kuratorium der Stiftung verteilt. Nun soll dieses Gremium verändert werden und ein neuer Stiftungsrat gegründet werden, in dem nur noch Vertreter der Wirtschaft und einige Vertreter von Regierungen sitzen sollen, aber nicht, wie bislang auch üblich, keine Vertreter mehr aus Osteuropa. Warum denn?
Graf Lambsdorff: Einen solchen Gesetzentwurf gibt es nicht. Es gibt Diskussionen ...
Brink: Es gibt Diskussionen darüber.
Graf Lambsdorff: Ja, aber es gibt keinen Gesetzentwurf, und Überlegungen, die auch gestern in der Kuratoriumssitzung besprochen worden sind, das ist alles noch im Stadium der Diskussion. Klar ist, es ist eine deutsche Stiftung und es ist deutsches Geld und daraus ergeben sich gewisse Konsequenzen. Klar ist aber ebenso, dass der internationale Charakter der Stiftung - und das geschieht dann durch die Zusammensetzung des Kuratoriums - gewährleistet sein muss. Also das wird weitergehen und da sind wir noch nicht am Ende. Am Schluss kann das Stiftungsgesetz ja nur durch den Gesetzgeber, durch den Deutschen Bundestag geändert werden, denn auch das Stiftungsgesetz, mit dem wir jetzt arbeiten, ist seinerzeit einstimmig vom Bundestag beschlossen worden. Also das hat noch Zeit.
Aber richtig ist wohl auch, denn der größte Teil der Aufgaben, am Finanzvolumen gemessen, sind von den damals zehn Milliarden DM nur noch 700 Millionen DM für den Zukunftsfonds übrig geblieben. Wenn man es am Finanzvolumen misst, dann muss man schon sagen, ein großer Apparat war dafür notwendig für die Auszahlungen, jetzt brauchen wir den nicht mehr. Und wenn man den Apparat verkleinert, muss man wohl auch daran denken, dass man das Aufsichtsgremium verkleinert.
Brink: Aber immerhin kann man ja verändern, also zum Beispiel, es war ja bislang so, dass auch Vertreter von Osteuropa (dort) saßen, immerhin hat der SPD-Abgeordnete Wiefelspütz, der ja auch im Kuratorium sitzt und für den Bundestag spricht, dort wird ja auch dann die Entscheidung über die Zusammensetzung des Kuratoriums fallen, gesagt, nein, wir wollen einfach daraus eine rein deutsche Angelegenheit machen. Da fragt man sich doch, warum?
Graf Lambsdorff: Herr Wiefelspütz hat das gestern in der Kuratoriumssitzung nicht so gesagt ...
Brink: Aber vorab.
Graf Lambsdorff: Das weiß ich nicht, vorab war auch mancher da, der eine oder andere dieses sagen oder jene Überlegung haben. Es soll im Oktober noch mal eine Sitzung des Kuratoriums stattfinden, die sich genau mit diesem Problem zu beschäftigen hat. Es ist ganz sicher so, dass einige die Stiftung dann und auch das Kuratorium verlassen müssen. Ich gehöre übrigens auch dazu. Es reicht jetzt, ich hab's jetzt lang genug gemacht, und es könnten auch mal Jüngere und andere machen. Vielleicht ist es auch gar nicht nötig, dass überhaupt jemand an meiner Stelle das macht.
Brink: Vielen Dank, Otto Graf Lambsdorff, und wir sprachen mit ihm über die Arbeit der Stiftung für die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern, die heute offiziell beendet wird.
Otto Graf Lambsdorff wurde im Jahr 1999 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder gebeten, die Verhandlungen mit der Wirtschaft über die Entschädigung der nationalsozialistischen Zwangsarbeiter zu führen. Wir sind jetzt mit ihm verbunden, und meine erste Frage an ihn: Herr Lambsdorff, sind denn alle Zwangsarbeiter nun entschädigt worden?
Otto Graf Lambsdorff: Ja, alle Zwangsarbeiter, die sich gemeldet haben und die sich haben registrieren lassen und Ansprüche angemeldet haben, sind entschädigt worden, in unterschiedlichen Größenordnungen, auch von Land zu Land ein bisschen unterschiedlich. Aber alle, die wir erreichen konnten, sind entschädigt worden.
Brink: Hat man denn alle erfassen können?
Graf Lambsdorff: Nein, die Frage kann man ganz gewiss nicht mit ja beantworten, aber man kann sie auch nicht mit nein beantworten. Wir wissen es natürlich nicht, ob es nicht doch noch irgendwo Menschen in der weiten Welt gibt, die sich nicht gemeldet haben, die die ganzen Auslobungen und Ankündigungen übers Fernsehen, über Internet usw. nicht verfolgen konnten und nicht gesehen haben. Da bleibt immer eine gewisse Grauzone und ein gewisser Unsicherheitsfaktor, den kann man nicht aus der Welt schaffen. Wir haben das getan, was wir tun konnten, und das konnten wir natürlich nur noch auf finanzielle Weise tun. Und das haben wir auch in einem Umfang und einer Größenordnung getan, die sich sehen lassen kann und die respektabel war und manierlich.
Brink: Es waren bislang ja 1,66 Millionen Opfer, denen bis zu 7.500 Euro ausgezahlt worden sind. Heißt das, dass jetzt keine Anträge mehr gestellt werden können, wenn die Stiftung ihre Arbeit heute offiziell beendet?
Graf Lambsdorff: Nein, das ist nicht neu, Frau Brink, es können schon seit einiger Zeit keine Anträge mehr gestellt werden. Man musste ja einen Überblick haben, wie viel Zwangsarbeiter und Anspruchsberechtigte es überhaupt gibt. Die mussten bis zu einem Verfalldatum, das ist sicher jetzt schon zwei Jahre her, ihre Ansprüche anmelden, und danach konnte man nicht mehr anmelden. Wie sollten wir anfangen auszuzahlen und das Geld aufzuteilen, wenn man nicht die endgültige Zahl der Antragsteller kennt. Das ist geschehen, das ist also vorbei, und jetzt können Anträge nicht mehr gestellt werden, sie können auch kein Geld mehr bekommen.
Brink: Gerhard Schröder sprach über die Entschädigung von Zwangsarbeiter als vom letzten noch offenen Kapitel der deutschen Geschichte. Ist das Kapitel nun wirklich abgeschlossen?
Graf Lambsdorff: Dieses Kapitel ist abgeschlossen, aber es wird nicht das letzte Kapitel der deutschen Geschichte - das wage ich nicht so ganz zu beurteilen -, aber das Kapitel Sklaven- und Zwangsarbeiter ist abgeschlossen in der Form, wie wir es eben jetzt besprochen haben.
Brink: In der finanziellen Form?
Graf Lambsdorff: Es geht immer darum, und das ist, was ich immer wieder unterstreiche. Es hat einen finanziellen Schlussstrich gegeben. Einen moralischen Schlussstrich unter diese Sache kann und darf es niemals geben.
Brink: Es gab ein Unbehagen auch auf Ihrer Seite über die Summe, die ja im Zweifelsfalle nur eine symbolische Summe sein kann. Haben Sie weiterhin dieses Unbehagen angesichts dieser Summe?
Graf Lambsdorff: Ja, das habe ich immer gehabt, aber es geht doch nicht nur ums Geld und um die Summe, sondern es geht auch einfach um die Frage, wie kann ich denn gestohlene Jahre meines Lebens, wie kann ich die durch Geld entschädigen. Das haben auch manche der Zwangsarbeiter, die jetzt entschädigt worden sind, gesagt: Ihr könnt mir Geld geben, aber ihr könnt mir natürlich nicht das wiedergeben, was ihr mir genommen habt. Das ist leider richtig. Und dieses Unbehagen bleibt, aber dem ist auch nicht abzuhelfen.
Brink: Sie waren der Verhandlungsführer zwischen der Industrie und der Bundesregierung und beteiligt am Zustandekommen der deutsch-amerikanischen Regierungsvereinbarung über den Rechtsschutz für deutsche Unternehmen. Warum im Rückblick hat sich denn die deutsche Wirtschaft so schwer getan, das Geld, das waren insgesamt fünf Milliarden, zusammenzubringen?
Graf Lambsdorff: Einmal muss ich sagen, wenn es nur die Bundesregierung und die deutsche Industrie wären, mit denen ich zu verhandeln gehabt hätte, da wäre es noch einfach gewesen. Aber da waren auch die Amerikaner, da war die Jewish Claims Conference, da waren Partnerorganisationen in Osteuropa, da saßen 100 Menschen im Saal ...
Brink: Aber erst mal war es ja eine deutsche Vereinbarung, dass die Bundesregierung und die deutsche Wirtschaft sich geeinigt haben, okay, wir haben die Summe von fünf Milliarden.
Graf Lambsdorff: Die Einigung musste man ja auch erst mal herstellen, und man musste aber auch mit der anderen Seite, also mit den Anspruchstellern und deren Organisationen ... Ich sag noch einmal ... zum ersten Mal zu der Sitzung nach Washington kam, saßen da 100 Menschen im Saal, mit denen mussten wir Einigkeit erzielen, ob der Betrag, den wir erreichen konnten, denn überhaupt ausreichend sei, um von denen akzeptiert zu werden. Noch 14 Tage, bevor wir uns auf die zehn Milliarden DM einigten, haben amerikanische Anwälte mit mir in Frankfurt am Flughafen gesessen und wollten 24 Milliarden Dollar haben und sagten, das sei ihre unterste Grenze. Also es war ein schwieriger Verhandlungsmarathon nach allen Seiten hin.
Die deutsche Wirtschaft hat sich schwergetan, das ist richtig, weil manche Unternehmen nicht einsehen wollten, dass es auch in ihrem Interesse lag, die Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen in Amerika zu erreichen. Das war ja das Ziel der Wirtschaft bei dieser ganzen Operation. Dieser moralische Aspekt wurde gesehen, aber es wurde auch der geschäftliche Aspekt gesehen, und das geht nun in dieser Welt immer mal Hand in Hand, dass man sich vor weiteren Klagen wegen Zwangsarbeiter und Sklavenarbeit in den Vereinigten Staaten schützen wollte. Und das war das Argument, mit dem der Verhandlungsführer der Wirtschaft dann auch dafür sorgen konnte, dass am Ende die zehn Milliarden zustande kamen, einfach war das aber nicht.
Brink: Noch mal nachgehakt: Das waren am Anfang nur 1,8, als die Stiftung eigentlich ihre Arbeit aufgenommen hat. Warum haben die sich so schwergetan?
Graf Lambsdorff: Also erstens muss ich mal dazu sagen, es war nicht meine Aufgabe. Das hat Herr Dr. Gentz, der Finanzvorstand von DaimlerChrysler, weil der ja für die Wirtschaft das Geld eingesammelt hat. Ich habe mit vielen Unternehmen zur damaligen Zeit auch gesprochen, und viele waren bereit, sich zu beteiligen. Einige haben gesagt, unser Unternehmen hat doch zur Nazi-Zeit noch gar nicht bestanden. Das konnte aber auch nichts helfen. Es musste die gesamte deutsche Wirtschaft sehen, dass es hier eine solidarische Aufgabe gab, und davon musste man sie überzeugen. Das ist uns nicht in allen Fällen gelungen. Viele, auch mittlere Unternehmen, die haben gesagt, wir haben doch damit gar nichts zu tun gehabt, wir haben überhaupt nie Zwangsarbeiter gehabt. Manche haben gesagt, wir haben keine Zwangsarbeit gehabt während der Nazi-Zeit und dann erstaunt in ihren Büchern festgestellt, ach du lieber Himmel, wir hatten ja doch welche.
Es ging aber nicht nur darum, dass sich die beteiligten, die Zwangsarbeiter hatten, denn die, die keine ... dann hätten wir niemals das Geld zusammenbekommen können. Es musste wie gesagt die gesamte Wirtschaft wirklich bereit sein, diese Operation mitzumachen, zu finanzieren und noch einmal, auch um eben Ruhe vor amerikanischen Klagen, vor amerikanischen Gerichten zu haben.
Brink: Sie sind ja nun wahrlich versiert in Wirtschaftsdingen. Hat das denn Ihr Bild von der deutschen Wirtschaft verändert?
Graf Lambsdorff: Nein. Ich hatte nicht viel anderes erwartet. Ich war sehr beeindruckt davon, dass viele Unternehmen und auch viele persönliche Unternehmer, mit denen ich damals gesprochen habe, bereit waren, sich dafür einzusetzen und sich dafür stark zu machen und das Geld zur Verfügung zu stellen. Aber mich hat es auch nicht gewundert, dass andere gesagt haben, nein, das wollen wir nicht, haben wir nichts mit zu tun. So sind die Menschen nun mal, und auch deutsche Unternehmer sind nicht alle edelmütig und alle von der Caritas beseelt.
Brink: Der SPD-Abgeordnete Dieter Wiefelspütz, der im Stiftungskuratorium der Stiftung sitzt, hat einmal gesagt, es gab Phasen, da hat das mich bedrückt, dass man ständig über Geld redete und nicht über Schicksale. Wie ging es denn Ihnen?
Graf Lambsdorff: Das ist richtig, aber ich kann eigentlich das nicht ganz voneinander trennen. Wir haben über Geld geredet, aber über Geld haben wir geredet wegen der erlittenen Schicksale. Und die erlittenen Schicksale sind uns schon sehr vor Augen getreten. Es hat ja viele Bücherveröffentlichungen darüber gegeben. Man musste sich erst mal darüber informieren, wie das denn in den so genannten festen Lagern aussah, wie das in den Ghettos aussah. Von Konzentrationslagern wusste man das schlimmerweise, aber in manchen Orten wusste man das nicht. Die Bedingungen in diesen Unterbringungen waren auch ein Grund dafür zu sagen, du bist Sklavenarbeiter oder du bist Zwangsarbeiter. Und Sklavenarbeiter haben wir höher entschädigt als Zwangsarbeiter. Das musste aber erst alles einvernehmlich geregelt und vorher dafür erforscht werden.
Brink: Haben Sie etwas Neues erfahren, auch was Sie noch mehr erschreckt hat, was Sie nicht schon wussten?
Graf Lambsdorff: Ja, ich habe Neues wohl erfahren, die zum Teil wirklich abenteuerlich - das ist ein milder Ausdruck - schlechte Behandlung von Zwangsarbeitern. Nicht überall. Die abenteuerlich schlechte Behandlung der Zwangsarbeiter in manchen Industriebereichen war schon unmenschlich, menschenunwürdig und wirklich niederziehend.
Auf der anderen Seite gab es diejenigen ... Ich habe auch einen erlebt, der hat mir gesagt, ich war als Zwangsarbeiter - ein Ukrainer war das - in Bayern in der Landwirtschaft, das war die schönste Zeit in meinem Leben. Da gab es sehr unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Aspekte.
Aber überwiegend war natürlich, dass die Zwangsarbeiter misshandelt wurden, schlecht ernährt wurden, ausgebeutet wurden und viele von ihnen, ja nicht zu Tode gearbeitet wurden, weil die Nazis das nicht wollten, sie brauchten nämlich die Arbeitskräfte, aber bis an den Rand der Erschöpfung, bis an den Rand des Todes arbeiten mussten.
Brink: Die Arbeit der Stiftung ist vom heutigen Tag an offiziell beendet. Bei den Leistungen für die Zwangsarbeiter sind 3,7 Millionen Euro übrig geblieben, und es gibt noch den so genannten Zukunftsfonds. Dieser Fonds finanziert internationale Projekte, etwa für die Begegnung zwischen Jugendlichen und Zeitzeugen oder auch für Demokratieerziehung. Die Gelder dieses Fonds wurden bislang auch vom Kuratorium der Stiftung verteilt. Nun soll dieses Gremium verändert werden und ein neuer Stiftungsrat gegründet werden, in dem nur noch Vertreter der Wirtschaft und einige Vertreter von Regierungen sitzen sollen, aber nicht, wie bislang auch üblich, keine Vertreter mehr aus Osteuropa. Warum denn?
Graf Lambsdorff: Einen solchen Gesetzentwurf gibt es nicht. Es gibt Diskussionen ...
Brink: Es gibt Diskussionen darüber.
Graf Lambsdorff: Ja, aber es gibt keinen Gesetzentwurf, und Überlegungen, die auch gestern in der Kuratoriumssitzung besprochen worden sind, das ist alles noch im Stadium der Diskussion. Klar ist, es ist eine deutsche Stiftung und es ist deutsches Geld und daraus ergeben sich gewisse Konsequenzen. Klar ist aber ebenso, dass der internationale Charakter der Stiftung - und das geschieht dann durch die Zusammensetzung des Kuratoriums - gewährleistet sein muss. Also das wird weitergehen und da sind wir noch nicht am Ende. Am Schluss kann das Stiftungsgesetz ja nur durch den Gesetzgeber, durch den Deutschen Bundestag geändert werden, denn auch das Stiftungsgesetz, mit dem wir jetzt arbeiten, ist seinerzeit einstimmig vom Bundestag beschlossen worden. Also das hat noch Zeit.
Aber richtig ist wohl auch, denn der größte Teil der Aufgaben, am Finanzvolumen gemessen, sind von den damals zehn Milliarden DM nur noch 700 Millionen DM für den Zukunftsfonds übrig geblieben. Wenn man es am Finanzvolumen misst, dann muss man schon sagen, ein großer Apparat war dafür notwendig für die Auszahlungen, jetzt brauchen wir den nicht mehr. Und wenn man den Apparat verkleinert, muss man wohl auch daran denken, dass man das Aufsichtsgremium verkleinert.
Brink: Aber immerhin kann man ja verändern, also zum Beispiel, es war ja bislang so, dass auch Vertreter von Osteuropa (dort) saßen, immerhin hat der SPD-Abgeordnete Wiefelspütz, der ja auch im Kuratorium sitzt und für den Bundestag spricht, dort wird ja auch dann die Entscheidung über die Zusammensetzung des Kuratoriums fallen, gesagt, nein, wir wollen einfach daraus eine rein deutsche Angelegenheit machen. Da fragt man sich doch, warum?
Graf Lambsdorff: Herr Wiefelspütz hat das gestern in der Kuratoriumssitzung nicht so gesagt ...
Brink: Aber vorab.
Graf Lambsdorff: Das weiß ich nicht, vorab war auch mancher da, der eine oder andere dieses sagen oder jene Überlegung haben. Es soll im Oktober noch mal eine Sitzung des Kuratoriums stattfinden, die sich genau mit diesem Problem zu beschäftigen hat. Es ist ganz sicher so, dass einige die Stiftung dann und auch das Kuratorium verlassen müssen. Ich gehöre übrigens auch dazu. Es reicht jetzt, ich hab's jetzt lang genug gemacht, und es könnten auch mal Jüngere und andere machen. Vielleicht ist es auch gar nicht nötig, dass überhaupt jemand an meiner Stelle das macht.
Brink: Vielen Dank, Otto Graf Lambsdorff, und wir sprachen mit ihm über die Arbeit der Stiftung für die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern, die heute offiziell beendet wird.