Was wird aus der Demokratie am Hindukusch?
Prognosen über die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Landes hält Marion Regina Müller von der Heinrich-Böll-Stifung derzeit für "vermessen". Dass Wahlen überhaupt stattfinden, sei ein "sehr großer Schritt". Ein Engagement des Westens in Afghanistan bleibe aber notwendig.
Liane von Billerbeck: Afghanistan wählt am kommenden Samstag einen neuen Präsidenten – weil Hamid Karzai nicht mehr antreten darf, wird es der erste demokratische Machtwechsel sein. Die Lage allerdings ist alles andere als ruhig, wie die Überfälle der Taliban zeigen, wie kürzlich der Anschlag auf ein Kabuler Luxushotel. Der Terror, so bedeutet das, wird von ihnen in die Städte getragen. Auch die Lage der Frauen und Mädchen könnte dadurch nach einigen Erfolgen wieder schlechter werden.
Marion Regina Müller kennt sich in dem Land am Hindukusch aus. Sie ist in Kabul Büroleiterin der dortigen Dependance der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. Ich grüße Sie!
Marion Regina Müller: Guten Tag!
von Billerbeck: Seit etwas mehr als einem Jahr leiten Sie das Büro der Böll-Stiftung Kabul aus Sicherheitsgründen von Berlin aus, Sie sind aber alle sechs Wochen in Afghanistan, zuletzt vor zwei Wochen. Wie haben Sie die Situation Ihrer Mitarbeiter so kurz vor den Wahlen erlebt?
Langsam bildet sich eine Zivilgesellschaft
Müller: Ich habe eigentlich in allererster Linie eine sehr anregende Diskussionskultur erfahren, zum einen über die Debatten, die von den hauptsächlichen Präsidentschaftskandidaten über die Fernsehstationen übertragen wurden, wo vor großem Publikum Fragen gestellt wurden, zu denen sich die Präsidentschaftskandidaten äußern mussten, und diese Debatten haben sich dann auch am Tag danach bei Gesprächen widergespiegelt mit meinen Arbeitskollegen, mit Partnerorganisationen, mit denen wir zusammenarbeiten.
Es ist tatsächlich so, dass man das Gefühl hat, dass die Bevölkerung sehr an den Wahlen interessiert ist, sich sehr mit dem vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Wahlprogramm der Präsidentschaftskandidaten auseinandersetzen und überlegen, welche Forderungen sie stellen können. Das war eine sehr, sehr anregende Atmosphäre, trotz der sich stets verschlechternden Sicherheitslage, muss ich sagen. Davon haben sich die Leute, mit denen ich gesprochen habe, nicht beeindrucken lassen. Ganz im Gegenteil hatte man eher das Gefühl, dass sich immer mehr Leute aus der Zivilgesellschaft, auch jüngere Leute, wirklich vehement dafür einsetzen, dass sie an diesen Wahlen teilnehmen wollen.
von Billerbeck: Nun haben Sie das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Kabul 2006 aufgebaut, waren zwischenzeitlich in Pakistan, haben lange auch im Land gelebt. Wenn Sie jetzt ein Resümee ziehen: Wie hat sich die Situation gewandelt, insbesondere so in den letzten Jahren, seit auch klar ist, dass die NATO-Truppen abziehen?
Müller: Ich finde, auch da lässt sich eigentlich ein vorwiegend positives Resümee ziehen. Ich denke, dass … Wir arbeiten seitens der Heinrich-Böll-Stiftung hauptsächlich oder fast ausschließlich mit der Zivilgesellschaft und mit Forschungsinstitutionen, und ich habe jetzt festgestellt, dass während … kurz nach der internationalen Intervention, also 2002 bis 2003, das waren eigentlich eher Organisationen, mit denen man zusammengearbeitet hat, und inzwischen hat sich eigentlich eine Zivilgesellschaft gebildet, bildet sich langsam. Es findet ein Generationenwechsel statt und es kommen immer wesentlich mehr eigene Ideen. Es gründen sich verschiedene Netzwerkorganisationen, die sich einsetzen für Ökologie zum Beispiel, das ist bei uns als Stiftung sehr, sehr wichtig, für Frauenrechte, für Menschenrechte, für Demokratie, für die Wahlen. Das ist sehr interessant zu sehen.
Auch gerade die junge Generation der ersten Abgänger der Universitäten, also der ersten Absolventen der Universitäten in Kabul, hat wieder eine ganz andere Vorstellung davon, wie das Land aussehen soll und meldet sich immer mehr zu Wort und versucht, diese Vorstellungen auch einzubringen. Das ist eine sehr, sehr positive Entwicklung.
von Billerbeck: Gerade die Lage der Frauen und Mädchen unter den Taliban, die war ja katastrophal und auch ein Grund dafür, dass da eingegriffen wurde. Mädchen sollten die Schule besuchen können, Frauen sich frei bewegen können. Jetzt haben Sie das eben so auch in der Antwort als sehr positiv beschrieben. Ist das denn jetzt so? Können sich Frauen frei bewegen? Wie ist die Lage für die Mädchenschulen?
Gewalt gegen Frauen wird öfter angezeigt
Müller: Im Vergleich zu dem Taliban-Regime und auch zu der Anfangszeit nach dem Taliban-Regime hat sich auch hier sehr, sehr viel getan. Es gibt Millionen von Mädchen, die zur Schule gehen, es gibt Frauen im Parlament, es gibt drei Ministerinnen im Kabinett, es gibt eine Gouverneurin, eine weibliche Gouverneurin, also es hat sich sehr, sehr viel getan. Ich denke, die Situation derzeit ist mit der Situation von vor zehn, elf Jahren nicht zu vergleichen. Wir haben seitens der Heinrich-Böll-Stiftung über das letzte Jahr hin das afghanische Frauennetzwerk dabei begleitet, eine Studie durchzuführen, die nannte sich „Women Vision 2024“, da gibt es eigentlich darum, zu definieren: Was wollen die Frauen oder die Frauenrechtsaktivistinnen eigentlich, wie wollen sie ihr Land sehen?
Und da – auch in den Provinzen – wurde das noch mal sehr, sehr deutlich, dass die Frauen gesagt haben: Unsere Situation ist mit vor zehn Jahren nicht mehr zu vergleichen, aber wir dürfen uns jetzt auf gar keinen Fall darauf ausruhen, also wir haben noch nicht genug erreicht und die Fortschritte, die wir gemacht haben, sind sehr, sehr fragil. Es hängt sehr, sehr viel ab von der Sicherheit in den jeweiligen Provinzen und in den jeweiligen Distrikten, inwieweit Frauen jetzt zum Beispiel am öffentlichen Leben teilnehmen können und damit dann eben zur Schule gehen können oder eine Ausbildung machen können oder am Berufsleben teilnehmen können oder sich politisch engagieren können.
von Billerbeck: Trotzdem hat man ja immer das Gefühl, dass es da auch so eine Auf-und-Ab-Bewegung gegeben hat und dass das in den letzten Jahren eher wieder schlechter geworden ist. Teilen Sie diese Auffassung?
Müller: Jein. Ich würde sagen, wenn man zum Beispiel sagt, dass es einen Anstieg gibt von Gewalt gegen Frauen, ich will das nicht negieren, aber dann bedeutet das eben auch, dass es inzwischen mehr Möglichkeiten gibt, solche Vorfälle zu registrieren bei der Polizei oder zum Beispiel in Büros der afghanischen Menschenrechtskommission. Vorher gab es diese Möglichkeit nicht und es gab einfach eine große Unklarheit deshalb, zum Beispiel, wie viele Fälle von Gewalt gegen Frauen es jetzt in den Provinzen gibt oder im Norden oder im Westen des Landes gibt. Und inzwischen gibt es einfach die Möglichkeit für Frauen, diese Fälle auch anzuzeigen, und automatisch steigt dann natürlich auch die Anzahl der Fälle von Gewalt gegen Frauen.
Es gab immer wieder Rückschritte im Bereich der Entwicklung von Gesetzen. Das afghanische Familienrecht zum Beispiel, da gibt es Aktivitäten schon seit dem Jahr 2008, die bisher nicht erfolgreich gewesen sind, und auch an den Beispielen des Gesetzes der Verringerung von Gewalt gegen Frauen … Das war ja eine Verordnung, die Präsident Karzai erlassen hatte, und bei dem Versuch, das in ein Gesetz zu transformieren, haben einfach sofort konservative Kräfte die Möglichkeit genutzt, ihre Punkte wieder einzubringen. Also man hat das Gefühl, es sind zwei Schritte vorwärts und ein Schritt zurück, aber ich würde trotzdem sagen, dass sehr, sehr viel erreicht wurde.
von Billerbeck: Bei den Wahlen, da tritt ja keine einzige Frau an, drei männlichen Kandidaten werden Chancen eingeräumt. Aber wie sehen Sie das? Hat ein Präsident in Afghanistan überhaupt die Kraft und die Macht, den Weg zur Demokratie mit zu beschreiten, zu bereiten? Denn man hat ja erlebt, dass der jetzige Präsident Karzai oft, wenn es um Wichtiges ging, dann eben doch lieber die Loja Dschirga gefragt hat, also die Ratsversammlung traditioneller Würdenträger, statt das Parlament.
Müller: Die drei Hauptkandidaten, die jetzt im Moment als die drei Hauptkandidaten für die Wahlen gewertet werden, einer davon, das ist der Zalmay Rassoul, der tritt ja mit einer Frau …
von Billerbeck: Der frühere Außenminister.
Die Regierung tut alles, dass die Wahlen stattfinden
Müller: .. der frühere Außenminister, genau, der tritt ja mit einer Frau in seinem Kandidatenteam an, das ist die Gouverneurin, von der ich vorhin gesprochen habe aus der Provinz Bamiyan. Es gibt keine Präsidentschaftskandidatin an sich, das ist richtig. Also ich glaube, die demokratischen Wahlen an sich sind schon ein sehr großer Schritt hin zu Demokratie, und sollten die Wahlen entsprechend von der Bevölkerung akzeptiert werden – das wissen wir natürlich nicht am Tag nach den Wahlen, sondern das wird noch eine Weile dauern, bis die Ergebnisse veröffentlicht werden und bis sich darstellen wird, inwieweit der neue Präsident von der Bevölkerung akzeptiert wird –, das ist, denke ich, irgendwie schon ein großer Schritt hin zu Demokratie.
von Billerbeck: Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP, die hat in einem Szenario ausgemalt, was geschieht, wenn die Wahlen scheitern – wegen massiver Manipulation beispielsweise. Die Taliban haben zudem Anschläge angekündigt. 750 Wahlbüros sollen aus Sicherheitsgründen geschlossen bleiben. Und in dieser Studie der SWP, da kamen die Experten zu dem Schluss, dass dann, wenn diese Wahl scheitert, das Engagement des Westens insgesamt infrage gestellt wird und ja damit alles seit 2001 Erreichte. Was würde das bedeuten?
Müller: Ich meine, es gibt im Moment natürlich sehr viele Prognosen, was nach den Wahlen passieren soll, die gehen von einem ausbrechenden Bürgerkriegsszenario bis hin zur Spaltung des Landes bis hin zur Rückkehr der Taliban.
von Billerbeck: Wie sehen Sie das?
Müller: Ich würde denken, dass das vermessen ist, nach wie vor vermessen ist, ein Szenario zu prognostizieren. Ich denke, dass im Moment die afghanische Regierung wirklich alles dafür tut, dass diese Wahlen stattfinden werden am kommenden Samstag, und wie gesagt, ich hatte das auch vorhin schon gesagt, das ist sehr, sehr wichtig, dass der neue Präsident von der Bevölkerung entsprechend akzeptiert wird und die Bevölkerung das Ergebnis der Wahlen mitträgt. Dann wird sicherlich auch immer noch sehr, sehr viel Engagement vom Westen notwendig sein, ganz einfach auch, um die wirtschaftliche Kraft des Landes zu steigern, aber ich denke, dass das ein sehr, sehr wichtiger Schritt sein wird.
von Billerbeck: Marion Regina Müller vor den am Wochenende beginnenden Präsidentschaftswahlen in Afghanistan. Sie leitet derzeit von Berlin aus das Kabuler Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. Danke Ihnen für das Gespräch!
Müller: Sehr, sehr gerne!
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