Land der Sehnsucht
Dieter Richter geht mit seinem Buch einer Faszination nach: Er fasst den "Süden" nicht einfach geografisch, sondern fragt, was diese Himmelsrichtung in unserem Wissen und unserer Einbildung für eine Bedeutung hat.
"Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn,
im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?"
Eine Frage an Wilhelm Meister - in Goethes Roman. Wilhelm muss nicht lange überlegen: "Es muss wohl Italien gemeint sein!" Selbstverständlich kennt und liebt er dieses Land.
"Über Jahrhunderte hinweg war Europas mentale Geographie um eine Nord-Süd-Achse zentriert, und 'der Süden' bedeutete ein klares Ziel: Italien!","
… stellt Dieter Richter fest. Zur Goethezeit war Italien das Synonym für blauen Himmel, Sonne, Sinnlichkeit - und Kunst. Richter hat nachgeforscht, wie Italien diesen Ruf erworben hat, und führt exemplarisch zwei Denker ins Feld, die das Italienbild des europäischen Bildungsbürgers im 18. Jahrhundert entscheidend geprägt haben: Charles Baron de Montesquieu und Johann Joachim Wickelmann.
Montesquieu war ein weitgereister Mann, er kannte die italienischen Staaten bis in den tiefen Süden des Königreiches Neapel. Sein Beitrag zum Italien-Enthusiasmus seiner Zeit war eher unfreiwillig. Er hat nämlich eine Theorie der Mentalität südlicher Völker entworfen, die er als den nördlichen unterlegen empfand. Im Süden, mokiert sich der Baron, habe er viel Laster und wenig Tugend gesehen.
""Es gibt Himmelsstriche, wo die Natur so mächtig ist, dass die Sittenlehre beinah nichts vermag! Man lasse einen Mann mit einer Frau zusammen, und die Versuchung wird sie zu Fall bringen."
Was Montesquieu mit Widerwillen erfüllte, haben seine Leser offensichtlich als Einladung empfunden. Die Sprösslinge des europäischen Adels bereisten hinfort auf ihrer "Grand tour" nicht mehr nur Venedig und Rom, sondern machten sich nach Neapel und Sizilien auf. Oft mit einem Buch in der Tasche, das – im Gegensatz zu Montesquieu - geradezu schwärmte vom italienischen Süden und seinen schönen Menschenkindern: Winckelmanns "Geschichte der Kunst des Altertums". Dort heißt es:
"Neapel, welches einen sanften Himmel genießt, hat häufig Formen, die zum Modell eines schönen Ideals dienen können. Unter den Weibern würde es nicht schwer sein, hier auch an den geringsten Orten ein Bild zu einer JUNO zu finden!"
In zwölf Kapiteln erzählt uns der Autor die Geschichte des menschlichen Aufbruchs nach dem Süden – angefangen von den phönizischen Seefahrern, die um 600 vor Christus die Südspitze Afrikas umrundet haben, über die Italien-Schwärmer der Goethezeit bis hin zum "Kampf um den Südpol", ausgetragen anno 1911/ 1912 zwischen Roald Amundsen und seinem unglücklichen Rivalen Robert Falcon Scott. – Dieter Richter zitiert aus dessen Tagebuch:
"Wir brachen um 7 Uhr 30 auf, denn keiner von uns hatte in dieser schauderhaften Nacht geschlafen. Die Luft ist voll von jener seltsamen kalten Feuchtigkeit, die binnen weniger Augenblicke das Mark in den Knochen erstarren lässt. – Großer Gott! und an diesen entsetzlichen Ort haben wir uns mühsam hergeschleppt und erhalten als Lohn nicht einmal das Bewusstsein, die ersten zu sein!"
Amundsen hatte den Wettlauf zum Südpol für sich entschieden. Scott und seine Gefährten kamen auf dem Rückweg ums Leben.
Der fremde Süden ist nicht immer das geträumte Paradies gewesen, sondern manchmal auch eine Hölle, die alle bösen Erwartungen übertraf. Die Spannung in Dieter Richters Buch lebt geradezu davon, dass immer wieder Bilder, Atmosphären und Ideen konterkariert werden. Eben noch haben wir Montesquieus naserümpfenden Gestus über die Völker des Südens belächelt, schon serviert man uns die hochmütige Epistel eines Römers über die nördlichen Völkerstämme:
"Die nördliche Zone ist ein Unglücksboden! Die Kälte bewirkt bei den Menschen eine weiße, eisige Haut und blonde, herunterhängende Haare. Allein rings um das 'Meer des Mittellandes' sind die Sitten sanft, die Sinne scharf, der Geist fruchtbar und fähig, die ganze Natur zu erfassen","
… schreibt Plinius, ein römischer Gelehrter, im ersten Jahrhundert nach Christus.
Bei aller Gegensätzlichkeit der Erfahrung: "Der Süden" ist, zumindest für Europäer, und von denen ist mehrheitlich die Rede in diesem Buch, immer ein Land der Neugier und der Sehnsucht gewesen. Dieter Richter:
""Ein Märchen wird also erzählt. Das Märchen vom gelobten Land, der Anderswelt. Der Süden liegt dort, wo alle Märchenländer liegen: in der Macht des Wünschens."
Dieter Richters Werk ist ein Sachbuch von literarischer Qualität, beinah ein kulturgeschichtliches Epos.
Besprochen von Susanne Mack
Dieter Richter: Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung
Klaus Wagebach Verlag, Berlin 2009
208 Seiten, 24,90 Euro
im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?"
Eine Frage an Wilhelm Meister - in Goethes Roman. Wilhelm muss nicht lange überlegen: "Es muss wohl Italien gemeint sein!" Selbstverständlich kennt und liebt er dieses Land.
"Über Jahrhunderte hinweg war Europas mentale Geographie um eine Nord-Süd-Achse zentriert, und 'der Süden' bedeutete ein klares Ziel: Italien!","
… stellt Dieter Richter fest. Zur Goethezeit war Italien das Synonym für blauen Himmel, Sonne, Sinnlichkeit - und Kunst. Richter hat nachgeforscht, wie Italien diesen Ruf erworben hat, und führt exemplarisch zwei Denker ins Feld, die das Italienbild des europäischen Bildungsbürgers im 18. Jahrhundert entscheidend geprägt haben: Charles Baron de Montesquieu und Johann Joachim Wickelmann.
Montesquieu war ein weitgereister Mann, er kannte die italienischen Staaten bis in den tiefen Süden des Königreiches Neapel. Sein Beitrag zum Italien-Enthusiasmus seiner Zeit war eher unfreiwillig. Er hat nämlich eine Theorie der Mentalität südlicher Völker entworfen, die er als den nördlichen unterlegen empfand. Im Süden, mokiert sich der Baron, habe er viel Laster und wenig Tugend gesehen.
""Es gibt Himmelsstriche, wo die Natur so mächtig ist, dass die Sittenlehre beinah nichts vermag! Man lasse einen Mann mit einer Frau zusammen, und die Versuchung wird sie zu Fall bringen."
Was Montesquieu mit Widerwillen erfüllte, haben seine Leser offensichtlich als Einladung empfunden. Die Sprösslinge des europäischen Adels bereisten hinfort auf ihrer "Grand tour" nicht mehr nur Venedig und Rom, sondern machten sich nach Neapel und Sizilien auf. Oft mit einem Buch in der Tasche, das – im Gegensatz zu Montesquieu - geradezu schwärmte vom italienischen Süden und seinen schönen Menschenkindern: Winckelmanns "Geschichte der Kunst des Altertums". Dort heißt es:
"Neapel, welches einen sanften Himmel genießt, hat häufig Formen, die zum Modell eines schönen Ideals dienen können. Unter den Weibern würde es nicht schwer sein, hier auch an den geringsten Orten ein Bild zu einer JUNO zu finden!"
In zwölf Kapiteln erzählt uns der Autor die Geschichte des menschlichen Aufbruchs nach dem Süden – angefangen von den phönizischen Seefahrern, die um 600 vor Christus die Südspitze Afrikas umrundet haben, über die Italien-Schwärmer der Goethezeit bis hin zum "Kampf um den Südpol", ausgetragen anno 1911/ 1912 zwischen Roald Amundsen und seinem unglücklichen Rivalen Robert Falcon Scott. – Dieter Richter zitiert aus dessen Tagebuch:
"Wir brachen um 7 Uhr 30 auf, denn keiner von uns hatte in dieser schauderhaften Nacht geschlafen. Die Luft ist voll von jener seltsamen kalten Feuchtigkeit, die binnen weniger Augenblicke das Mark in den Knochen erstarren lässt. – Großer Gott! und an diesen entsetzlichen Ort haben wir uns mühsam hergeschleppt und erhalten als Lohn nicht einmal das Bewusstsein, die ersten zu sein!"
Amundsen hatte den Wettlauf zum Südpol für sich entschieden. Scott und seine Gefährten kamen auf dem Rückweg ums Leben.
Der fremde Süden ist nicht immer das geträumte Paradies gewesen, sondern manchmal auch eine Hölle, die alle bösen Erwartungen übertraf. Die Spannung in Dieter Richters Buch lebt geradezu davon, dass immer wieder Bilder, Atmosphären und Ideen konterkariert werden. Eben noch haben wir Montesquieus naserümpfenden Gestus über die Völker des Südens belächelt, schon serviert man uns die hochmütige Epistel eines Römers über die nördlichen Völkerstämme:
"Die nördliche Zone ist ein Unglücksboden! Die Kälte bewirkt bei den Menschen eine weiße, eisige Haut und blonde, herunterhängende Haare. Allein rings um das 'Meer des Mittellandes' sind die Sitten sanft, die Sinne scharf, der Geist fruchtbar und fähig, die ganze Natur zu erfassen","
… schreibt Plinius, ein römischer Gelehrter, im ersten Jahrhundert nach Christus.
Bei aller Gegensätzlichkeit der Erfahrung: "Der Süden" ist, zumindest für Europäer, und von denen ist mehrheitlich die Rede in diesem Buch, immer ein Land der Neugier und der Sehnsucht gewesen. Dieter Richter:
""Ein Märchen wird also erzählt. Das Märchen vom gelobten Land, der Anderswelt. Der Süden liegt dort, wo alle Märchenländer liegen: in der Macht des Wünschens."
Dieter Richters Werk ist ein Sachbuch von literarischer Qualität, beinah ein kulturgeschichtliches Epos.
Besprochen von Susanne Mack
Dieter Richter: Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung
Klaus Wagebach Verlag, Berlin 2009
208 Seiten, 24,90 Euro