Reinhard Kaiser-Mühlecker: Zeichnungen - Drei Erzählungen
S. Fischer Verlag, Frankfurt / Main 2015
301 Seiten, 19, 99 Euro
Wenn niemand spricht und Unheil droht
Verrat und Rache unter Landwirten, Rückzug ins Seehaus, Landflucht: Die Erzählungen von Reinhard Kaiser-Mühlecker handeln von archaischen Konstellationen im ländlichen Österreich.
Immer wieder ragt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein und bestimmt die Geschicke der jungen Männer. Dem einen kommt die Ehefrau abhanden, er zieht sich über Monate in sein Haus zurück, arbeitet nicht, erlebt den Wechsel der Jahreszeiten und beginnt, einen anderen Mann am gegenüberliegenden Ufer eines Sees zu beobachten, bis er dem Jahrzehnte zurückliegenden Verschwinden seiner geheimnisvollen Mutter auf die Spur kommt und plötzlich begreift, was es mit dem Fremden auf sich hat.
Ein anderer hört zu, wie ein alter Landwirt von Verrat und Rache erzählt und davon, wie seine Bösartigkeit, mit der er die untreue Verlobte eines gefallenen Kameraden erpresste, am Ende auf ihn zurückschlug.
Ein dritter bricht wegen Gerüchten, die den Lebenswandel seiner Eltern betreffen, mit seiner Herkunft, verlässt den väterlichen Hof und entwirft einen kühnen Lebensplan, der vollends aufzugehen scheint: Er heiratet in eine Unternehmerfamilie ein, räumt seinen Schwager aus dem Weg, gewinnt an Macht und Einfluss, bis seine Frau psychisch erkrankt und ihm klar wird, wer er in Wahrheit ist.
Archaische Konstellationen
Es sind archaische Konstellationen, die Reinhard Kaiser-Mühlecker in seinen großartigen Erzählungen variiert: "Spuren“, "Male“ und "Zeichnungen“ sind die jeweils knapp hundertseitigen drei Geschichten überschrieben. Die letzte dieser eindrucksvollen Variationen über Schuld, Sühne, Rache und Vergebung gibt dem neuen Band seinen Titel: Zeichnungen.
Es sind archaische Konstellationen, die Reinhard Kaiser-Mühlecker in seinen großartigen Erzählungen variiert: "Spuren“, "Male“ und "Zeichnungen“ sind die jeweils knapp hundertseitigen drei Geschichten überschrieben. Die letzte dieser eindrucksvollen Variationen über Schuld, Sühne, Rache und Vergebung gibt dem neuen Band seinen Titel: Zeichnungen.
Und im Grunde unternimmt der 1982 in Kirchdorf an der Krems geborene Schriftsteller, der mittlerweile in Stockholm zu Hause ist, genau das: Er zeichnet präzise Skizzen, Fallstudien, und selbst der Ich-Erzähler und Held der Titelgeschichte, der von seiner Autonomie überzeugt ist und alles einer perfiden Idee von Macht unterstellt, verstrickt sich wie Ödipus immer tiefer in Bindungen aus Hass, Liebe und Sehnsucht.
Der Schauplatz: das ländliche Österreich
Die Schauplätze der Erzählungen sind das ländliche Österreich, ein Bauernhof, ein kleines Dorf, in dem das Wissen um die Sünden der anderen Generationen zurückreicht, und eine mittelgroße Stadt, die mit dem Buchstaben W. abgekürzt wird. Das Milieu ist ebenfalls ländlich, oft bestimmt jahrelanges Schweigen die Beziehungen, und die Sprache scheint nicht das angemessene Mittel, um den Versehrungen eine Gestalt zu geben. Wer Kaiser-Mühleckers Romane Roter Flieder (2012) und Schwarzer Flieder (2014) kennt, entdeckt Verknüpfungen und nimmt die Sippe der Goldbergers noch einmal aus einer anderen Perspektive wahr, was den Echoraum verstärkt, aber keine Voraussetzung für die Lektüre ist.
Denn das Verblüffende an dem Band ist, wie zeitgenössisch die Geschichten anmuten, obwohl es um schicksalhafte Vorherbestimmung geht und um den Mut, sich selbst auf den Grund zu gehen. Dass der Autor dem Band ein Motto von Botho Strauss voranstellt, "War ich der Traum des Toten: diese Wolke Gedächtnis zu sein, die heimatlos über das Land zieht?“, deutet die Schlagrichtung schon an. Häufig werden seine Helden von Ahnungen befallen, dunkle Empfindungen von etwas, das im Untergrund zu arbeiten scheint und tiefe Bindungen plötzlich lösen kann.
Genau wie die Natur scheint auch das menschliche Dasein einem bestimmten Rhythmus unterworfen zu sein. Dass die Geschichten eine so große Spannkraft entfalten, liegt nicht zuletzt an seiner ruhig dahin fließenden, temperierten und zugleich kraftvollen Sprache und seinen pointierten Bildern. Reinhard Kaiser-Mühleckers Helden stechen sich nicht die Augen aus – sie erzählen.