Kämpfer für Holocaust-Opfer steht vor Gericht
Dass ein Justizminister einen Richter verklagt, ist in Deutschland ein seltener Vorgang. Wenn der Richter sich zudem Verdienste um Holocaust-Opfer erworben hat, droht daraus ein internationales Politikum zu werden.
Vor dem Landgericht Düsseldorf herrscht ein großes Presseaufgebot. Mehrere Kamerateams, Hörfunk- und Zeitungsjournalisten warten auf Jan Robert von Renesse. Der Richter am Landessozialgericht NRW wird wegen Rufschädigung der Sozialgerichtsbarkeit vom Justizminister verklagt. Ausgerechnet der deutsche Richter, der wie kein anderer dafür kämpfte, dass ehemalige Ghettoarbeiter die Rente vom deutschen Staat bekamen, wird heute selbst auf der Anklagebank sitzen.
Die Geschichte, um die es heute geht, begann vor 14 Jahren. Im Jahr 2002 beschloss der Bundestag ein Gesetz, das Überlebenden der Ghettos Rentenansprüche in Aussicht stellte, wenn sie damals im Ghetto einer freiwilligen Arbeit gegen eine Entlohnung nachgingen. 88 000 ehemalige Ghettoarbeiter aus der ganzen Welt haben Rentenanträge gestellt. Auch Kurt Einhorn aus Düsseldorf. Mit zwölf hatte Einhorn im Ghetto Mogilev in Transnistrien Leichen zum Ghettofriedhof mit einer Schubkarre gefahren und ab und zu in einer Fabrik ausgeholfen. Für diese Arbeit hatte er theoretisch Anspruch auf eine Ghettorente. Dafür musste er einen langen Fragebogen ausfüllen.
Fast alle Rentenanträge von Holocaustüberlebenden abgelehnt
"Haben Sie in einem der Ziffer 4 Punkt 1 angegebenen Ghettos gearbeitet? Zeitraum von bis, Monat Jahr, Arbeitsstelle, Arbeitgeber, Art der Arbeit."
"Als hätte ich damals Tagebuch geführt von jedem Tag, was ich gemacht habe. Ich wusste nicht, ob ich am nächsten Tag noch am Leben sein werde. Und das schickt man alten Menschen, die keine Ahnung haben, was sie sagen sollen, was das bedeutet. Die sind auf Hilfe angewiesen, um aufs Klo zu gehen - wie sollen die mit so einem Formular fertig werden?!"
Ähnlich wie Kurt Einhorn verzweifelten viele Holocaustüberlebende an den Formularen. Fast alle ihre Anträge wurden von der deutschen Rentenversicherung abgelehnt. Nur wer beweisen konnte, ohne Bewachung und freiwillig im Ghetto gearbeitet zu haben und Geld dafür bekommen zu haben, wurde von der Rentenversicherung als Ghettoarbeiter anerkannt.
Es war Jan Robert von Renesse, der diese Rechtsprechungspraxis kippte. Seine Dienststelle, das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, ist für die Klagen der Ghetto-Überlebenden aus Israel als zweite Instanz zuständig. Anders als seine Kollegen begnügte sich Renesse nicht mit den Fragebögen. Er ist zu den Überlebenden nach Israel gereist, um sie dort persönlich anzuhören. Auch holte er historische Gutachten ein, um genaue Erkenntnisse über die Arbeitsbedingungen in den Ghettos zu erfahren. Dadurch konnte der Richter in etwa 60 Prozent der Fälle den Anspruch auf die Ghettorente bestätigen.
In Israel ein Held
Doch kaum ein Richterkollege in NRW folgte seinem Weg. Sie entschieden weiterhin nach Aktenlage und lehnten die Anträge zu 90 Prozent ab.
"Das schlimmste war, dass man sie nicht persönlich angehört hat. Ich habe gelernt, als ich Richter wurde, hat mir mal mein Präsident gesagt: 'Machen Sie ihre Gerichtsverfahren so, als wäre die Klägerin Ihre eigene Großmutter'. Und wenn ich mir vorstellen würde, meine Großmutter klagt auf Rente und kriegt höchstens ein Fragebogen zugeschickt und kann sich nie persönlich, direkt von Angesicht zu Angesicht äußern und ihr Leid klagen - dann würde ich sagen, es ist ein schreiendes Unrecht."
Die Arbeit von Renesse in Israel trägt Früchte. 2009 ändert das Bundessozialgericht in Kassel seine Rechtsprechung. Als freiwillige Arbeit gilt von nun an jede Beschäftigung, bei der der Antragsteller zwischen Arbeit und Hungertod entscheiden musste. Und zum "Entgelt" gehörten auch Brot oder Suppe. Alle abgelehnten Anträge sollten überprüft werden.
In Israel ist Renesse ein Held, der Überlebenden zu ihrem Recht verhalf. Unter Richtern aber nicht. Im Gericht stoßen seine Alleingänge auf Missgunst. Seit 2010 beschwert sich Renesse beim Justizministerium wegen Eingriffe in seine richterliche Unabhängigkeit: Seine Arbeit wurde behindert, Kollegen blockierten hinter seinem Rücken seine Beschlüsse, andere Richter änderten sie später sogar. Das Justizministerium streitet alle Vorwürfe ab. 2012 wendet sich der unbequeme Richter mit einer Petition an den Bundestag. Darin fordert er die Änderung des Ghettorentengesetzes, rückwirkende Auszahlung der Rente und prangert an, dass die israelischen Holocaustüberlebenden in NRW kein faires Verfahren erlebt haben sollen. Seine Petition ist erfolgreich, das Gesetz wird im Juni 2014 geändert. Für viele Holocaustüberlebende kamen die Nachzahlungen jedoch zu spät. Auch für Kurt Einhorn - er starb ein halbes Jahr zuvor.
Wegen dieser Petition an den Bundestag wird Renesse nun vom Justizministerium disziplinarisch verfolgt. Stellvertretender Pressesprecher des Justizministeriums Marcus Strunk:
"Das Fehlverhalten sehen wir konkret darin, dass er in einem Brief an den Bundestagspräsidenten, mit dem ein Petitionsverfahren eingeleitet werden sollte, geäußert hat, dass in der NRW-Justiz Absprachen und Handlungen getroffen werden, um bewusst Holocaustüberlebenden zu schaden. Das ist so nicht richtig, das kann die Justiz so nicht stehen lassen."
Gericht droht mit hoher Strafe
Wolfgang Meyer ist ehemaliger Senatsvorsitzender am Bundessozialgericht in Kassel. Bereits 2006 hat er ein wegweisendes Urteil für die erleichterte Anerkennung der Ghettorentenansprüche gefällt. Im Land NRW ist seiner Rechtsprechung außer Renesse kaum ein Richter gefolgt. Die Härte, mit der das Land NRW gegen Renesse vorgeht, ist ungewöhnlich, sagt Wolfgang Meyer.
"Ich war sehr überrascht davon, dass das Land NRW diesem ins besondere Maße um die NS-Aufarbeitung verdienten Richter mit einem Dienstverfahren überzieht. Dafür besteht, soweit ich das weiß, kein wirklich überzeugender Grund. Man darf auch als Richter seine Meinung sagen, man darf auch als Richter Umstände feststellen, die man als negativ bewertet. Und wenn man das objektiv feststellt, dann darf man das, dann ist es Meinungsäußerungsfreiheit, das muss jeder anderer Richter auch dulden, wie man selbst auch entsprechende Kritik an seiner Rechtsprechung dulden muss."
In Israel schlägt das Disziplinarverfahren gegen Richter Renesse hohe Wellen. Die Vorsitzende der Dachorganisation der Schoa-Überlebenden Colette Avital wandte sich bereits mit einer Protestpetition an die Ministerpräsidentin des Landes NRW Hannelore Kraft. Auch der Zentralratspräsident Josef Schuster betont in seinem Schreiben an Kraft, dass der Richter durch seine Arbeit zahlreichen Überlebenden auch einen Teil ihrer Würde zurückgegeben hat.
Ob die internationale Kritik und die Anwesenheit der Presse eine Rolle beim Verfahren gespielt hat? Jedenfalls nach knapp 40 Minuten war die Verhandlung abgebrochen: Nach dem Vorschlag eines beisitzenden Richters sollen sich die Seiten wieder an den Verhandlungstisch setzen, um sich doch "gütlich zu einigen". Bis zum 19. April haben der Richter und das Justizministerium dafür Zeit. Scheitern sie, hat das Gericht dem Richter mit einer womöglich noch höheren Strafe gedroht. Renesses Fazit:
"Heute hab ich geglaubt, dass es eine Entscheidung fällt und dass ich zu einer Buße von 5000 Euro verurteilt werde. Insofern ist die Tatsache, dass wir keine Entscheidung haben, etwas Gutes. Was ich nicht für möglich gehalten habe, war die Drohung, dass damit noch eine schlimmere Verurteilung geben könnte. Insofern ist der heutige Tag auch bedrückend. Ich kann jetzt nur hoffen, dass wir uns einigen. Und wenn wir uns nicht einigen, dann werde ich diesen bitteren Weg zu Ende gehen müssen, so traurig das ist. Mit vielen Jahren des Konflikts, ja. Und ich weiß nicht, wie lange meine Kraft da noch reicht - aber das ist vielleicht auch das, worauf gesetzt wird, ja?"