Land ohne Kinder

Jahrzehntelang ist die traurige Zukunft, der ein Land mit schrumpfender Bevölkerung entgegengeht, verdrängt und ignoriert worden, und manche wollen sie auch heute noch nicht wahrhaben. Doch diese Zeit geht offenbar zu Ende; die Suche nach den Gründen hat schon eingesetzt, verbunden mit der Frage, ob und wie das Debakel zu verhindern sei.
Hatten wir uns bisher mit der Auskunft getröstet, dass der Kinderwunsch zwar vorhanden sei, in seiner Ausführung jedoch behindert werde, so scheint auch dieses Alibi langsam zu verduften. Denn es sieht ganz so aus, als ob die Deutschen die Kinder, die sie nicht haben, auch gar nicht haben wollten. Der durchschnittliche Kinderwunsch liegt hierzulande weit unter dem anderswo üblichen Niveau.

Otto Schily, der Bundesinnenminister, drückt sich noch höflich aus, wenn er die Haltung, die sich in solchen Zahlen widerspiegelt, als eine Absage an das Leben interpretiert. Absage an die Zukunft, die doch von allen unseren Parteien endlos beschworen und beschrieben wird, wäre genauso treffend gewesen. Tatsächlich hatte Wolfgang Schäuble schon vor langer Zeit im Bundestag bemerkt, dass ein Volk, das nicht genügend Kinder hat, auch nicht an seine Zukunft glaubt. Soll man von einer neuen Art von kollektivem Selbstmord sprechen?

Wer in der Absicht, die Dinge besser zu machen, nach den Ursachen dieser fatalen Entwicklung fragt, sollte all das verwerfen, was offenbar nichts bringt. Das wären zunächst einmal alle Versuche, das familienfreundliche Klima, an dem es hierzulande fehlt, durch Anzeigenkampagnen, Werbespots und bunt beklebte Plakatwände herzustellen. So etwas kostet viel und bringt nur wenig. Erheblich wirksamer als solche weichen wären harte Mittel, die rechtzeitige und großzügige Ermäßigung der Beitrags- und der Steuerlast zum Beispiel, unter der die Familie leidet. Dass materielle Anreize immaterielle Folgen haben, ist eine Maxime, nach der die Regierung ja auch sonst verfährt.

Darüber hinaus sollte, wer Kindern etwas Gutes tun will, die Gegenpropaganda einstellen, die die Familie in die Defensive gedrängt und sie zur Lebensform einer Minderheit gemacht hat. Gemeint ist der Urschrei nach Arbeit, Arbeit, Arbeit. In diesem Punkt sind sich alle Parteien und Verbände, Arbeitgeber und Gewerkschaften erstaunlich einig: es gibt nur einen Weg, dem Leben Sinn und Bedeutung zu verleihen, und der führt über einen Arbeitplatz. Dass es daneben noch andere Arten von Arbeit gibt, die mehr verlangen und auch mehr hergeben als die ganztägige, außerhäusliche Lohnarbeit in abhängiger Stellung, ist ein Gedanke, der im modernen Weltbild, wie es an allen Straßenecken propagiert wird, keinen Platz mehr hat.

Die Deutschen haben alles an die Arbeit gehängt, nicht nur die Aussicht auf Lebenssinn und Lebensunterhalt, sondern auch die Zusage von Sicherheit in den bekannten Wechselfällen des Lebens, bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit, im Falle von Arbeitslosigkeit sowie im Alter. Wer berufstätig war, der hat Beiträge entrichtet, und wer das getan hat, ist im Sozialstaat fein raus. Wer nicht, der nicht. Und weil nach der amtlichen Sprachregelung, wie sie von den Sozialpolitikern sämtlicher Parteien sorgfältig beachtet wird, eine Frau, die ihren Kindern zuliebe zu Hause bleibt, eben keinen Beitrag leistet, hat sie das Nachsehen.

Deutlicher lässt sich die Missachtung, die eine Frau erfährt, die ihre Kinder selbst erzieht, kaum ausdrücken. Bis heute sind alle Mahnungen, Berufs- und Erziehungsarbeit einander gleichzustellen, in den Wind geschlagen worden. Die letzte Minderheit, über die politisch korrekt gespottet und gelästert werden darf, das sind die Frauen, die ihre Zeit den Kindern widmen, hat ein Kollege neulich behauptet; und damit hat er offensichtlich recht.

Wer eine Aufgabe, von deren sorgfältiger Erfüllung die Zukunft des Landes abhängt wie sonst von nichts, ernst nimmt, der ist in Deutschland, immer noch einem der reichsten Länder der Welt, arm dran. Über die Folgen darf man sich nicht wundern.

Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", jetzt arbeitet er für die "Welt". Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern" und "Die Republik dankt ab". Soeben erschienen: "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen"