Land ohne Nationalgefühl

Von Zafer Senocak |
Das Nationalgefühl in Deutschland ist heimatlos. Es darf nicht einmal Heimweh haben. Denn die Heimat dieses Gefühls liegt in Schutt und Asche. Könnte es nicht sein, dass diese Befindlichkeit eine Ursache für die Gewalt ist, die hierzulande immer wieder Menschen fremder Herkunft zur Zielscheibe macht?
Wir Deutschen, die die eigene Geschichte vorbildhaft aufgearbeitet haben, tun uns besonders schwer, wenn wir uns als Kollektiv wahrnehmen und verantworten müssen. Das Nationalgefühl aber ist die Muttersprache des Kollektivs. Diese kann gebrochen sein. Ganz vergessen und verlernt werden kann sie nicht.

Ich erinnere mich an meine ersten Jahre in Deutschland. Das waren die Siebziger Jahre. Ich wunderte mich, wie wenig nationale Symbole es in Deutschland gab. Im Schulhof hing keine deutsche Fahne. Im Zimmer des Direktors hing ein Porträt des Bundespräsidenten in Schwarz-Weiß. Wir hatten einige Kameraden, die sich mit deutscher Geschichte und Identität auseinandersetzten. Sie waren Außenseiter.

In der Türkei dagegen kochte das nationale Gemüt immer wieder hoch, erinnerte sich die Nation immer wieder an ihre Sternstunden. Bis zum Abwinken. Kritische Stimmen wurden unterdrückt. In Deutschland interessierte man sich für die Umwelt. Emotionen löste das Waldsterben aus oder die Rüstungspolitik, die die Existenz der Menschheit bedrohte. Ein sympathisches Land, das dem Einwanderer kaum mit eigener Identität entgegentrat. So habe ich aus dieser Zeit keinerlei feindliche Äußerungen und Handlungen gegen meine Person in Erinnerung. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass sich jemand für meine fremde, türkische Herkunft interessierte.

Grundlegend geändert hat sich diese Stimmung erst nach der Wiedervereinigung. Plötzlich war wieder ein deutscher Nationalstaat entstanden, eingebunden in Europa. Was aber bedeutete das? Hatte so etwas wie das Nationalgefühl in dieser Zeit überhaupt noch irgendeine Bedeutung, ein Gewicht? Schon ein Blick über die deutschen Grenzen gab dieser Frage eine eindeutige Antwort. Fast alle Nationen in Europa und vor allem die Nationen Osteuropas definierten sich als Nationalstaaten. Das Nationalgefühl wurde als Kitt der Gemeinschaft wahrgenommen.

In Deutschland aber blieben Staat und Öffentlichkeit nach wie vor Sperrbezirke für das Nationalgefühl. Die Deutschen hatten ihre Geschichte einbandagiert wie eine Wunde. Und so sehr man sich dabei über den deutschen Sonderweg wunderte und beschwerte, war man doch wieder ein Sonderling. Ein Volk, das nicht national denken und fühlen will, ein Volk, das aus seiner Geschichte gelernt hat.

Das alles klingt letztendlich wie ein Märchen, mit bösem, alptraumhaftem Verlauf, aber einem guten Ende. So wurde der deutsche Fußballsommer während der WM 2006 auch als Sommermärchen bezeichnet. Ein glückliches Land feierte sich selbst.

Doch dieses Sommermärchen hatte eine Kehrseite, nämlich die Realität. In der Realität vagabundiert das deutsche Nationalgefühl schon länger nicht nur auf dem Fußballfeld, und auch dort leider nicht immer friedlich. Es vagabundiert vor allem innerhalb eines angstbesetzten Themas, dem Thema der Einwanderung, der deutschen Identität, der Zugehörigkeit. Es ist ein uraltes und auch ein unheilvolles Thema. Das deutsche Nationalgefühl reißt Wunden auf. Vielleicht wird es auch deshalb von kritischer Reflektion weitgehend geschont.

Seine Negation, sein herbei gewünschtes Nichtdasein ist bequemer. Seine Existenz in Fragen, wie: Gehört der Islam zu Deutschland? Schafft sich Deutschland ab? Wie viel Fremde vertragen wir? - diese Existenz wird lieber ignoriert. Die Wahrnehmung des Fremden begleiten irrationale Ängste, die Schutzbedürfnisse auslösen.

Das Nationalgefühl aber reicht nicht mehr aus, um uns in der Welt zu orientieren. Die Abschottung gegenüber anderen ist ein verfallenes Rezept. Das moderne Deutschland braucht mehr Vertrauen in die eigene Stärke, die in den Werten der Aufklärung, in einer offenen und freien Gesellschaft wurzelt.


Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, schreibt regelmäßig für die tageszeitung sowie für andere Zeitungen wie die Berliner Zeitung und Die Welt. Arbeiten von Zafer Senocak wurden bislang ins Türkische, Griechische, Französische, Englische (u. Amerikanische), ins Hebräische und Niederländische übersetzt. Er erhielt mehrere Stipendien und 1998 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift Sirene wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben. Veröffentlichungen u. a. Gefährliche Verwandtschaft. Roman. München (Babel) 1998. Der Erotomane. Ein Findelbuch. München (Babel) 1999. Atlas des tropischen Deutschland. Essays. Berlin (Babel) 1992, 1993. War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas. Essays. Berlin (Babel) 1994. Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation. München (Babel) 2001. Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch, Berlin (Babel) 2006.
Der türkischstämmige Schriftsteller, Lyriker und Publizist Zafer Senocak.
Der türkischstämmige Schriftsteller, Lyriker und Publizist Zafer Senocak.© picture alliance / dpa / Hermann Wöstmann