Land ohne Perspektive
Fast täglich sterben in Dagestan Menschen bei Attentaten oder bei sogenannten Antiterror-Operationen der Sicherheitskräfte. Oft werden Polizisten und andere Vertreter des russischen Staates Opfer der Extremisten. Und obwohl im Nordkaukasus an Geheimdienstlern kein Mangel herrscht, werden Terroristen selten gefasst und der Terror geht weiter.
Machatschkala, die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Dagestan, am Abend. Ein örtlicher Schlagerstar hat ein Konzert gegeben, in kleinen Gruppen schlendern die Besucher durch das Stadtzentrum. Auf einem Parkplatz spielen Jungs Fußball. Männer laufen Inline-Skate. Alltag - trotz des beinahe täglichen Terorrs. Schamil Chadullajew bremst aus vollem Lauf und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
"Wir leben zwar in Machatschkala, aber von den Attentaten und Morden erfahren wir oft erst aus dem Fernsehen oder im Internet. Da sehen wir dann: Wieder haben Polizisten jemanden erschossen oder umgekehrt wurden Polizisten umgebracht."
Russische Behörden machen islamistische Kämpfer für die Anschläge verantwortlich. Dagestan ist zu 95 Prozent muslimisch. Traditionell pflegen die Menschen hier einen gemäßigten Islam, doch seit einigen Jahren sind die Salafisten auf dem Vormarsch. Besonders in den Dörfern entscheiden sich immer mehr Menschen für diese Richtung des Islam. Und es heißt, dass vor allem junge Salafisten in die Berge ziehen und sich den bewaffneten Untergrundkämpfern anschließen.
Gubden ist so ein Dorf: Anderthalb Stunden mit dem Auto von der Hauptstadt Machatschkala entfernt, in den Ausläufern des Kaukasus. Einfache Häuser aus hellem Stein, steile, staubige Schotterpisten. Etwa 11.000 Menschen leben hier.
Abduraschid Samadow wäscht sich die Hände vor dem Mittagsgebet und eilt zu einer der zahlreichen Moscheen. Er ist Mitte 40, arbeitslos. Früher einmal war er Fahrer. Samadow zeigt auf einen Steinhaufen, dort baut er ein Haus, direkt an das seines Nachbarn.
"Wenn mein Nachbar und ich uns streiten, zum Beispiel darüber, wo die Grenze zwischen unseren Grundstücken verläuft, dann gehen wir zum Imam. Er entscheidet nach der Scharia. Der Imam zeigt uns den richtigen Weg. Sich an ein russisches Gericht zu wenden, hat überhaupt keinen Sinn. Die russischen Richter wollen sich doch nur selbst bereichern."
In Gubden sind die russischen Gesetze außer Kraft gesetzt. Stattdessen gilt die Scharia. Die Regierung in Dagestan lässt das zu. Sie toleriert die Salafisten, solange sie nicht zu Gewalt aufrufen. Experten schätzen, dass sich in den dagestanischen Wäldern mehrere hundert sogenannte Bojewiki verstecken: Bewaffnete Untergrundkämpfer. Zumindest in der Vergangenheit waren darunter auch Männer aus Gubden. Die Sicherheitskräfte haben deshalb mehrere Antiterroroperationen in dem Ort durchgeführt, haben Gubden nach bewaffneten Untergrundkämpfern durchkämmt. Die Bewohner wollen nun schon lange keine Bojewiki mehr gesehen haben.
"Darüber weiß ich nichts. Ich habe hier keinen einzigen Kämpfer gesehen. Das behaupten zwar viele, aber die gibt es hier nicht."
Kaum einer redet in Dagestan über die Untergrundkämpfer, ihre Netzwerke und ihre Vorgehensweise. Dagestan ist eine traditionelle Gesellschaft, persönliche Loyalitäten, gegenseitige Abhängigkeiten, Unterordnung und Familienzusammenhalt spielen eine große Rolle. Die 40-jährige Saiganat Isajewa lebt in einem Dorf bei Kizljar, knapp drei Stunden Autofahrt von Machatschkala entfernt in Richtung Tschetschenien. Sajganat Isajeva soll einem polizeilich gesuchten islamistischen Bandenführer Unterschlupf gewährt haben und freiwillig dessen Gruppe beigetreten sein. Das war im Frühjahr 2011. Nach zwei Monaten wurde sie gefasst und zu einer Haftstrafe verurteilt. Sie selbst stellt das Geschehen anders dar. Sie habe nichts von den Machenschaften des Mannes gewusst. Die beiden waren nach islamischem Recht verheiratet. Er habe sie gezwungen, mit ihm in den Wald zu gehen.
"Er sagte zu mir: Wir müssen fort. Ich fragte: Wohin? - In den Wald. Ich wollte nicht mit, aber er meinte: Nach der Scharia bist du meine Frau. Du bist dazu verpflichtet. Ich habe das alles damals nicht verstanden. Aber ich hatte Angst vor dem Zorn Gottes. Denn ich war seine Frau, und ich musste mich unterordnen."
Sajganat Isajeva stellt sich selbst als Opfer dar. Wie stark der Rückhalt der Kämpfer in der Bevölkerung tatsächlich ist, vermag kaum jemand zu sagen. Rizvan Kurbanov ist Abgeordneter der russischen Staatsduma. Er kommt aus Dagestan. Naturgemäß stellt er die Situation etwas rosiger dar, als sie ist.
"In Dagestan leben drei Millionen Menschen. Diejenigen, die die Lage dort destabilisieren wollen, sind nur wenige, und sie haben nicht die Unterstützung der Massen.
Wenn jemand etwas anderes behauptet, dann frage ich immer: Würden Sie etwa jemanden unterstützen, der Sie an jedem beliebigen Ort töten kann? Bei einem Anschlag in der Stadt, wenn Sie zufällig gerade mit einem Kind in der Nähe sind oder mit dem Auto vorbeifahren? Würden Sie so jemanden unterstützen? Das ist Unsinn. Sie haben keine Unterstützung."
Bei der streng gläubigen Sajganat Isajeva hört sich das ganz anders an. Es sei die Pflicht von Muslimen, ihren Glaubensbrüdern zu helfen.
"Abends ging mein Mann immer fort, um etwas zu essen für uns zu besorgen. Die Dorfbewohner haben ihm natürlich geholfen. Wenn Ihnen etwas zustößt, dann helfen Ihnen Ihre Freunde doch auch, das ist selbstverständlich."
Vor allem Jugendliche sympathisieren mit den Untergrundkämpfern. Das liegt zum einen an der Propaganda im Internet. Zahlreiche Websites werben offen für den bewaffneten islamistischen Untergrund. Zum anderen haben die Jugendlichen kaum andere Perspektiven. Die Arbeitslosigkeit in Dagestan ist extrem hoch, räumt der Abgeordnete Rizvan Kurbanov ein.
"Dagestan hat prozentual mehr arbeitslose Jugendliche als jede andere Region Russlands. Die jungen Leute sind voller Energie, aber sie werden einfach nicht gebraucht."
Und noch etwas bringt die Menschen gegen die Staatsmacht auf: Die Brutalität der Sicherheitskräfte. Es sind lokale Polizisten ebenso wie föderale Sondereinheiten. Bei deren Antiterroreinsätzen kommen häufig auch Unbeteiligte zu Schaden. Obwohl im Nordkaukasus jede Menge Geheimdienstler unterwegs sind, gelingt es ihnen nicht, die Terroristen gezielt und ohne viel Aufsehen festzunehmen. Stattdessen riegeln die Sicherheitskräfte immer wieder ganze Viertel ab. Sie fahren mit Panzern auf, mähen die Verdächtigen schlicht nieder. Mit Rechtsstaatlichkeit hat das nichts zu tun. Zu den schärfsten Kritikern dieser Antiterroroperationen zählt Svetlana Gannuschkina von der Menschenrechtsorganisation Memorial.
"An den Einsätzen sind unglaublich viele Menschen beteiligt. Aber sie schaffen es nicht, einen einzelnen Bojewik lebend zu fassen. Das ist doch erstaunlich. Jeder gefangene Untergrundkämpfer ist eine potentielle Informationsquelle. Wir verschenken die Information, aufgrund derer wir eventuell den nächsten Anschlag verhindern könnten."
Menschenrechtler berichten zudem, dass bei den sogenannten Antiterror-Operationen Menschen verschwinden. Die Ermittler würden sie illegal festhalten und foltern, damit sie sich zu Verbrechen bekennen, die sie gar nicht begangen haben. In Dagestan ist die Zahl der Verschwundenen zuletzt sogar gestiegen. Im ersten Halbjahr 2012 wurden bereits doppelt so viele Menschen entführt wie im ganzen Jahr 2011 - mutmaßlich von Sicherheitskräften. Das heizt die Gewaltspirale weiter an.
"Wir leben zwar in Machatschkala, aber von den Attentaten und Morden erfahren wir oft erst aus dem Fernsehen oder im Internet. Da sehen wir dann: Wieder haben Polizisten jemanden erschossen oder umgekehrt wurden Polizisten umgebracht."
Russische Behörden machen islamistische Kämpfer für die Anschläge verantwortlich. Dagestan ist zu 95 Prozent muslimisch. Traditionell pflegen die Menschen hier einen gemäßigten Islam, doch seit einigen Jahren sind die Salafisten auf dem Vormarsch. Besonders in den Dörfern entscheiden sich immer mehr Menschen für diese Richtung des Islam. Und es heißt, dass vor allem junge Salafisten in die Berge ziehen und sich den bewaffneten Untergrundkämpfern anschließen.
Gubden ist so ein Dorf: Anderthalb Stunden mit dem Auto von der Hauptstadt Machatschkala entfernt, in den Ausläufern des Kaukasus. Einfache Häuser aus hellem Stein, steile, staubige Schotterpisten. Etwa 11.000 Menschen leben hier.
Abduraschid Samadow wäscht sich die Hände vor dem Mittagsgebet und eilt zu einer der zahlreichen Moscheen. Er ist Mitte 40, arbeitslos. Früher einmal war er Fahrer. Samadow zeigt auf einen Steinhaufen, dort baut er ein Haus, direkt an das seines Nachbarn.
"Wenn mein Nachbar und ich uns streiten, zum Beispiel darüber, wo die Grenze zwischen unseren Grundstücken verläuft, dann gehen wir zum Imam. Er entscheidet nach der Scharia. Der Imam zeigt uns den richtigen Weg. Sich an ein russisches Gericht zu wenden, hat überhaupt keinen Sinn. Die russischen Richter wollen sich doch nur selbst bereichern."
In Gubden sind die russischen Gesetze außer Kraft gesetzt. Stattdessen gilt die Scharia. Die Regierung in Dagestan lässt das zu. Sie toleriert die Salafisten, solange sie nicht zu Gewalt aufrufen. Experten schätzen, dass sich in den dagestanischen Wäldern mehrere hundert sogenannte Bojewiki verstecken: Bewaffnete Untergrundkämpfer. Zumindest in der Vergangenheit waren darunter auch Männer aus Gubden. Die Sicherheitskräfte haben deshalb mehrere Antiterroroperationen in dem Ort durchgeführt, haben Gubden nach bewaffneten Untergrundkämpfern durchkämmt. Die Bewohner wollen nun schon lange keine Bojewiki mehr gesehen haben.
"Darüber weiß ich nichts. Ich habe hier keinen einzigen Kämpfer gesehen. Das behaupten zwar viele, aber die gibt es hier nicht."
Kaum einer redet in Dagestan über die Untergrundkämpfer, ihre Netzwerke und ihre Vorgehensweise. Dagestan ist eine traditionelle Gesellschaft, persönliche Loyalitäten, gegenseitige Abhängigkeiten, Unterordnung und Familienzusammenhalt spielen eine große Rolle. Die 40-jährige Saiganat Isajewa lebt in einem Dorf bei Kizljar, knapp drei Stunden Autofahrt von Machatschkala entfernt in Richtung Tschetschenien. Sajganat Isajeva soll einem polizeilich gesuchten islamistischen Bandenführer Unterschlupf gewährt haben und freiwillig dessen Gruppe beigetreten sein. Das war im Frühjahr 2011. Nach zwei Monaten wurde sie gefasst und zu einer Haftstrafe verurteilt. Sie selbst stellt das Geschehen anders dar. Sie habe nichts von den Machenschaften des Mannes gewusst. Die beiden waren nach islamischem Recht verheiratet. Er habe sie gezwungen, mit ihm in den Wald zu gehen.
"Er sagte zu mir: Wir müssen fort. Ich fragte: Wohin? - In den Wald. Ich wollte nicht mit, aber er meinte: Nach der Scharia bist du meine Frau. Du bist dazu verpflichtet. Ich habe das alles damals nicht verstanden. Aber ich hatte Angst vor dem Zorn Gottes. Denn ich war seine Frau, und ich musste mich unterordnen."
Sajganat Isajeva stellt sich selbst als Opfer dar. Wie stark der Rückhalt der Kämpfer in der Bevölkerung tatsächlich ist, vermag kaum jemand zu sagen. Rizvan Kurbanov ist Abgeordneter der russischen Staatsduma. Er kommt aus Dagestan. Naturgemäß stellt er die Situation etwas rosiger dar, als sie ist.
"In Dagestan leben drei Millionen Menschen. Diejenigen, die die Lage dort destabilisieren wollen, sind nur wenige, und sie haben nicht die Unterstützung der Massen.
Wenn jemand etwas anderes behauptet, dann frage ich immer: Würden Sie etwa jemanden unterstützen, der Sie an jedem beliebigen Ort töten kann? Bei einem Anschlag in der Stadt, wenn Sie zufällig gerade mit einem Kind in der Nähe sind oder mit dem Auto vorbeifahren? Würden Sie so jemanden unterstützen? Das ist Unsinn. Sie haben keine Unterstützung."
Bei der streng gläubigen Sajganat Isajeva hört sich das ganz anders an. Es sei die Pflicht von Muslimen, ihren Glaubensbrüdern zu helfen.
"Abends ging mein Mann immer fort, um etwas zu essen für uns zu besorgen. Die Dorfbewohner haben ihm natürlich geholfen. Wenn Ihnen etwas zustößt, dann helfen Ihnen Ihre Freunde doch auch, das ist selbstverständlich."
Vor allem Jugendliche sympathisieren mit den Untergrundkämpfern. Das liegt zum einen an der Propaganda im Internet. Zahlreiche Websites werben offen für den bewaffneten islamistischen Untergrund. Zum anderen haben die Jugendlichen kaum andere Perspektiven. Die Arbeitslosigkeit in Dagestan ist extrem hoch, räumt der Abgeordnete Rizvan Kurbanov ein.
"Dagestan hat prozentual mehr arbeitslose Jugendliche als jede andere Region Russlands. Die jungen Leute sind voller Energie, aber sie werden einfach nicht gebraucht."
Und noch etwas bringt die Menschen gegen die Staatsmacht auf: Die Brutalität der Sicherheitskräfte. Es sind lokale Polizisten ebenso wie föderale Sondereinheiten. Bei deren Antiterroreinsätzen kommen häufig auch Unbeteiligte zu Schaden. Obwohl im Nordkaukasus jede Menge Geheimdienstler unterwegs sind, gelingt es ihnen nicht, die Terroristen gezielt und ohne viel Aufsehen festzunehmen. Stattdessen riegeln die Sicherheitskräfte immer wieder ganze Viertel ab. Sie fahren mit Panzern auf, mähen die Verdächtigen schlicht nieder. Mit Rechtsstaatlichkeit hat das nichts zu tun. Zu den schärfsten Kritikern dieser Antiterroroperationen zählt Svetlana Gannuschkina von der Menschenrechtsorganisation Memorial.
"An den Einsätzen sind unglaublich viele Menschen beteiligt. Aber sie schaffen es nicht, einen einzelnen Bojewik lebend zu fassen. Das ist doch erstaunlich. Jeder gefangene Untergrundkämpfer ist eine potentielle Informationsquelle. Wir verschenken die Information, aufgrund derer wir eventuell den nächsten Anschlag verhindern könnten."
Menschenrechtler berichten zudem, dass bei den sogenannten Antiterror-Operationen Menschen verschwinden. Die Ermittler würden sie illegal festhalten und foltern, damit sie sich zu Verbrechen bekennen, die sie gar nicht begangen haben. In Dagestan ist die Zahl der Verschwundenen zuletzt sogar gestiegen. Im ersten Halbjahr 2012 wurden bereits doppelt so viele Menschen entführt wie im ganzen Jahr 2011 - mutmaßlich von Sicherheitskräften. Das heizt die Gewaltspirale weiter an.