Land-WG statt Stadt-Heim
Die fünf Damen sind die älteste WG der Uckermark, bringen sie es doch zusammen auf mehr als 350 Jahre. Die Senioren-WG im 1000-Seelen-Ort Göritz hat Modellcharakter in Brandenburg. Die nötigen Haus-Umbauten wurden mit 350.000 Euro gefördert.
Die Seniorinnen sind allesamt pflegebedürftig, rund um die Uhr sind zwei Betreuerinnen im Haus. "Es ist aber kein Heim, sondern eine WG", betont der Chef der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft. Denn nur so lassen sich die baulich strengen Anforderungen, die für Altenheime gelten, umgehen. "Unser Ziel ist es, pflegebedürftigen Senioren in ihrer vertrauten Umgebung eine kostengünstige Alternative zum Heimplatz zu bieten". Denn sonst müssten viele von ihnen in eines der - weitaus teureren - städtischen Pflegeheime ziehen. In der WG aber bleiben sie in ihrer vertrauten ländlichen Umgebung...
Einmal links herum geht es, dann noch einmal links herum, dann auf die Landstraße, dann immer geradeaus. Hinaus über die Stadtgrenze von Prenzlau. Hinein in Hartmut Rolls Revier: Die Uckermark. "Eine Region immerhin so groß wie das Saarland", sagt Roll. Allerdings mit gerade mal 47 Einwohnern pro Quadratkilometer einer der am dünnsten besiedelten Landstriche der Republik. 1400 Wohnungen verwaltet hier die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Prenzlau Land. Roll ist ihr Geschäftsführer:
"Wir müssen leider über einen Leerstand von 19 Prozent reden, die wir im Bestand haben, das sind sehr schmerzhafte Größen, die natürlich auch starke finanzielle Einschnitte zur Folge haben."
Schnurgerade zieht sich die Straße durchs Land. Windkrafträder drehen sich gemächlich auf den Endmoränenhügeln. Das Ortschild Blindow taucht auf, Roll nimmt den Fuß vom Gas.
"In Blindow haben wir noch ein Gutshaus zu stehen, da ist auch noch etwas Sanierungsbedarf vorhanden, aber momentan beabsichtigen wir nicht, an diesem Haus eine größere Sanierung vorzunehmen."
Es fehlt schlicht das Geld - und die Mieter. Die werden in der Uckermark immer weniger. Rolls Wohnungsbestand aber bleibt konstant. Und das schafft Probleme. So wie in dem nächsten Örtchen mit dem sinnvollen Namen Dauer:
"Ein Block mit 32 Wohnungseinheiten, ein Wohnhaus steht hier in Dauer. Hier wäre es natürlich mein Wunsch, aber finanziell nicht darstellbar, dass man als alternative Wohnform im ländlichen Raum hier die Möglichkeit erhalten würde, diese oberen zwei Etagen abzutragen."
Aber auch dafür fehlt das Geld. Also bleibt ein Teil der Wohnungen leer stehen. Roll zuckt mit den Schultern, was soll er machen. Er blickt nach vorne. Auf die Landstraße, gibt Gas. Nach wenigen Minuten kommt das nächste Ortsschild in Sicht: Göritz. Ein Lächeln umspielt jetzt Rolls Lippen.
"So Göritz als Ort liegt etwa mittig zwischen Pasewalk und Prenzlau. Wir haben hier Autobahnanbindung über die A 20. Da drüben sehen Sie schon das gelbe Haus, bei der Eröffnung war der Kindergarten zugegen, hat dort seine Liedchen gesungen, das war eine schöne Sache."
Roll lächelt: Die Einweihung des gelben, zweistöckigen Altbaus als neues Zuhause für eine Wohngemeinschaft pflegebedürftiger Senioren. Eine Investition in die Zukunft. Eine Alten-WG für die neuen Zeiten. Das ganze Objekt ein Komplettumbau, konzipiert von Rolls Wohnungsbaugesellschaft. Mit knapp 350.000 Euro unterstützt vom brandenburgischen Agrar- und Umweltministerium. Das spendierte Fördermittel aus dem Topf für ländliche Entwicklung.
Entstanden sind zehn Wohnungen, in der Größe von 15 bis 24 Quadratmeter, dazu großzügige Gemeinschafts- und Sanitärräume, alles barrierefrei ausgelegt. Dazu hinter dem Haus ein großer Garten.
"Was es heute gibt? Fisch, Fisch, Fisch. Das ist unsere Beste, die kann das."
In der großen, hellen Wohnküche sitzen drei Rentnerinnen auf dem Sofa, kichern. Eine Mitbewohnerin im Rollstuhl wippt am Ende eines großen Esstisches auf und ab. Am Herd steht eine Pflegekraft, brät Fisch:
"Fisch mit Krautsalat und Salzkartoffeln gibt es heute."
Die drei älteren Damen auf dem Sofa grinsen und feixen. Mehr als 200 Jahre sitzen dort zusammen. An ihr genaues Alter erinnert sich kaum eine der Seniorinnen. Auch mit den Namen ist es manchmal ein bisschen schwierig, sagt die Pflegerin.
"Oben liegt noch ein Patient, der ist sehr schwer krank. Frau Malchow kommt heute aus dem Krankenhaus zurück. Frau Hübner kommt heute von der Kur, das ist die Krebspatientin. Und jetzt muss ick hier machen, sonst brennt es an."
Alle Mieter der Senioren-WG kommen aus der Region. Ihre Angehörigen leben fast alle in der Nähe. Regelmäßig – der Wochenplan hängt an der Tür – müssen die Verwandten für die Wohngemeinschaft einkaufen. Pflegerisches und hauswirtschaftliches Know-how von den Fachkräften, dazu Unterstützung von den Angehörigen – das ist einer der Grundideen der SeniorenWG.
"Man hat ein persönliches Verhältnis zu den Patienten, man hat mehr Zeit, man nimmt sich mehr Zeit, denke ick. Wir machen den Essensplan zusammen, die Einkaufsliste, das hat man ja sonst nicht, das kriegt man vorgesetzt."
Wie wesentlich dieser Unterschied ist, weiß die Pflegekraft aus eigener schmerzlicher Erfahrung:
"Meine Mutti hat selbst im Altenheim gelegen und ist verstorben. Da ist Massenabfertigung, muss man so sagen."
Aber darüber möchte sie nicht weiter reden. Jetzt kommt ihre Kollegin herein. Schwester Christel. An ihrer Seite der 78-jährige Fritz. Er ist heute der einzige Mann in der Wohnküche.
"Na Fritz, was ist, möchtest Du noch mehr zu trinken? Ich habe ja noch gar nischt gehabt, na komm, dann holen wir was."
Mit zitternder Hand hält Fritz das Glas. Schwester Christel schenkt ein:
Schwester Christel: "Halt mal schön fest."
Fritz: "Mach mal richtig voll."
"Aber bis zum Stehkragen."
"Ist ja noch nicht."
"Pass mal auf."
"Jut."
"Bitteschön, so prost."
Fritz ist an Alzheimer erkrankt. Wie einige der Bewohner hier. Von Pflegestufe eins bis drei ist alles vertreten, sagt Schwester Christel. Fritz hört zu und nickt. Die Krankenschwester lächelt. Die drei Damen auf dem Sofa feixen. Die Ergotherapeutin wendet den Fisch.
"Die Leute werden in Schwung gebracht. Dadurch, dass hier die große Wohnküche ist, sind sie hier ja auch immer mittendrin, wer auch nicht mehr so bewegungsmäßig ist und sich nicht mehr so beteiligen kann. Er hört, er sieht, wenn Frau Reichert und sie sagt bloß, "Was ist mit dem Kuchen?" Und sie, sie passt auf den Kuchen auf. Oder Gurken einlegen. Und sie gibt ein Rezept. Und so wird das dann gemacht. Und so trägt der eine was bei, der andere das, dann passt das letzten Endes wieder."
Seit sechs Uhr ist Christel im Dienst, hat Medikamente verteilt, das Frühstück organisiert, Wäsche aufgehängt. Gleich will sie mit Fritz Petersilie aus dem Garten holen.
"Wir waschen, wir kochen, wir machen sauber, wir putzen Fenster, wir machen alles. Wir machen alles, was da ist. Wa Fritz ? Jeder macht das, was er kann. Das ist ja auch sehr schön: der eine macht dieses gerne, der andere das, der eine sagt ich trockne halt ab, aber bei anderen Sachen lege ich mich lieber auf die Couch."
Jeder Bewohner zahlt knapp 300 Euro für sein Einzelzimmer und die Nutzung der Gemeinschaftsräume an die Wohnungsbaugesellschaft. Noch einmal dieselbe Summe geht für die Rund-um-die-Uhr Betreuung an den Pflegedienst. Hinzu kommen noch rund 150 Euro Verpflegungskosten. Macht summa summarum 750 Euro. Deutlich weniger, als in einem Pflegeheim als Eigenanteil zu zahlen wäre.
Im Potsdamer Arbeits- und Sozialministerium beugt sich Ulrich Wendte über einen Aktenordner, blättert, stoppt bei einem Schriftstück: "Verwaltungsvereinfachung und Entbürokratisierung des Heimrechts" steht auf dem Titelblatt. Wendte lächelt.
"Selbstbestimmte Wohnformen fallen nicht unter das Heimgesetz, der erste Eckpunkt aller guten Papiere."
Wendte ist Referent für Behindertenpolitik und Heimrecht. Und war jahrelang auch zuständig für die Pflegepolitik in Brandenburg. Er suchte nach neuen Wegen, um den Lebensabend für ältere Menschen in den ländlichen Regionen zu gestalten: die Lücke zwischen der Betreuung durch Angehörige zuhause und der Pflege im Heim zu schließen. Vor allem in den ländlichen Regionen steigt der Bevölkerungsanteil der älteren Menschen Jahr für Jahr an. Stärker als sonst in der Republik. Statistisch wird dieser Trend noch durch den Wegzug der jungen Bevölkerung beschleunigt…
"Und die Frage ist: Wie können wir erreichen, dass die Menschen im Alter, wenn sie nicht mehr alleine leben können nicht automatisch ins große Pflegeheim müssen? Welche Möglichkeiten gibt es, dass sie im Ort bleiben, das Menschen zusammen wohnen und dort gemeinsam von Angehörigen und professionellen Diensten versorgt werden?"
Eine Antwort könnten die Senioren-WGs sein. Kleine Wohngemeinschaften vor Ort. In der Nähe der Angehörigen. Betreut von Pflegediensten. Die sich viele Anfahrtswege sparen, da etliche Patienten in einem Haus leben.
"Es gibt einen deutlichen Zuwachs von Projekten. Nur leider ist die Qualität nicht überall so, wie wir uns die wünschen. Also wir wünschen uns, dass die Wohngemeinschaften nicht nur kuschelige kleine Pflegeheime sind, sondern wirklich einen Versorgungsmix darstellen, wo die Angehörigen eine ganz andere Rolle spielen als im Pflegeheim. Sie sollen zu einen mitbestimmen und sie sollen zum anderen mithelfen."
Die Beteiligung und die Mitsprache der Angehörigen ist für Ulrich Wendte eine der Grundvoraussetzungen für die Organisationsform der Senioren-WG. Denn nur sie garantiert eine ausreichend starke Verhandlungsposition gegenüber dem beteiligten Pflegedienst.
"Die meisten Menschen ziehen in eine Wohngemeinschaft, wenn sie zuhause nicht mehr zurechtkommen. Meistens ist das auslösende Moment die Demenz, die brauchen eine Betreuung rund um die Uhr. Und das klappt nur, wenn alle Bewohner denselben Pflegedienst beauftragen. Nur dann kann ich eine solche Betreuungsdichte gewährleisten. Das ist eines der großen Probleme auch. Der Pflegedienst hat dadurch, dass er der einzige ist, der diese Menschen betreut, eine sehr absolute Stellung."
Lange Zeit hat Wendte über eine maßgeschneiderte Lösung gegrübelt. Um die Selbstbestimmtheit in den Wohngemeinschaften, sprich die größtmögliche Unabhängigkeit vom Pflegedienst zu garantieren.
"Deshalb haben wir die Idee der Auftraggebergemeinschaft entwickelt. Die Angehörigen schließen sich zusammen und sagen: Wir entscheiden gemeinsam, welchen Pflegedienst wir beauftragen, und wir entscheiden auch mit Mehrheit gegebenenfalls und im schlimmsten Fall, den Pflegedienst zu wechseln. Wenn diese Struktur vorhanden ist, dann verhandelt die Auftraggeber-Seite auf gleicher Augenhöhe mit dem Pflegedienst Und der Pflegedienst weiß, wie überall im Leben, er kann sich dieser Kunden nicht bedingungslos sicher sein und er weiß, er muss sich Mühe geben, um diese Kunden zu behalten."
Die Auftraggebergemeinschaft - ein Modell, das mittlerweile auch bundesweit Schule macht. Um von vornherein Qualitätsstandards in Senioren-WGs zu sichern. Und nicht zuletzt die Heimaufsicht zu entlasten. Die aber muss ihre Kontrollfunktion wahrnehmen, wenn es die Angehörigen nicht schaffen, eine Organisationsform zu finden, sagt Wendte. Darum haben auch viele Senioren-WGs in letzter Zeit Post von seiner Behörde bekommen. Mit der Bitte um Auskunft. Wie selbstbestimmt das WG-Leben bei ihnen aussieht.
"Wir haben allerdings das Vorgehen, dass wir den Projekten eine Chance einräumen, diese Selbstbestimmtheit zu erreichen. Das heißt, wir kommen nicht und verhängen sofort Ordnungswidrigkeiten in den Fällen, wo noch diese Struktur nicht vorhanden ist."
Sondern beraten die Betreiber, wie die so genannte Selbstbestimmtheit hergestellt werden kann. Das Gleichgewicht zwischen Angehörigen- und Pflegedienstinteressen. Für die Heimaufsicht eine ganz neue Aufgabe:
"Für die Heimaufsicht ist es sehr schwierig. Bisher war die Heimlandschaft in dem Bereich der Pflege von Grosseinrichtungen. Und die Bestimmungen, die das Heimrecht enthält, waren auch für Großeinrichtungen gedacht und passen auch dort. Und vieles passt nicht für kleine Projekte mit acht oder zehn Bewohnern. Und da müssen wir, genauso wie andere Behörden auch, lernen, mit diesen neuen, gewünschten Wohnformen angemessen umzugehen."
Doch der Wille, in Sachen betreute Senioren-WG dazu zu lernen, scheint in den Brandenburger Behörden ganz unterschiedlich ausgeprägt zu sein. Einige Wohngemeinschaften bekamen in diesem Jahr Post von ihrer örtlichen Baubehörde: Eine "Nutzungsuntersagung". Nebst Aufforderung zum Auszug für die alten Bewohner. Die mussten dorthin, wo sie nie hinwollten: ins Pflegeheim.
"Wir stehen hier in Hennigsdorf in der Kirchstrasse 43. Das ist also ein Zweifamilienhaus, das ist neugebaut, übergeben am 1.4.2006 von der Eigentümerin an uns als Generalmieter. Und wir haben das faktisch untervermietet mit Einzelmietverträgen an die älteren Seniorinnen und Senioren."
sagt Silvia Sandler, die Sprecherin des Seniorenbüros Hennigsdorf. Eines eingetragenen Vereins, der älteren Menschen ein weitgehend selbstbestimmtes Leben ermöglichen will.
"Tür auf... Wir gehen jetzt mal nach oben."
Silvia Sandler eilt die Holztreppe nach oben, in den ersten Stock. Blumenbilder schmücken den Flur. Links und rechts gehen Ein-Zimmer-Wohnungen ab, frisch renoviert, die Türen stehen offen.
"Das sind also die leeren Zimmer, aus meiner Sicht sehr schöne wohnliche Zimmer. Und die Bewohner haben sich wirklich hier wohlgefühlt."
In einem Raum steht ein einsames Sofa. In einem anderen ein elektrisch verstellbares Bett. Insgesamt fünf Senioren, einige davon bettlägerig, lebten hier.
"Die mussten ausziehen, es gab dolle Tränen, manche haben doch 5,6,7 Jahre zusammen gewohnt. Die waren aneinander gewöhnt, und die mussten alle dahin, wo sie nicht hinwollten, die sind alle leider im Heim."
Silvia Sandler holt einen dicken Ordner aus ihrer Tasche. "Das ist nur einer von vielen", sagt sie.
Es war ganz konkret so, dass bis zum 13. Februar dieses Jahres für uns alles in Ordnung war. Und von dem Tag an war alles anders. Und zwar standen zwei Leute der unteren Bauaufsichtsbehörde des Landkreises Oberhavel vor der Tür und haben das Haus begutachtet.
Die Mitarbeiter der Bauaufsicht inspizierten das Haus, machten sich Notizen. Kurze Zeit später bekam das Seniorenbüro Post vom Amt. Silvia Sandler öffnet den Ordner, beginnt zu suchen.
"Kleinen Moment, jetzt muss ich erstmal suchen, es ist viel Papier. Nutzungsuntersagung, nehmen wir die Erste, die ist jetzt am härtesten, die sind alle hart."
Silvia Sandler zieht einige eng beschriebene DIN-A-4-Blätter hervor, Absender der Landkreis Oberhavel.
"Hiermit untersage ich Ihnen, das Gebäude als Pflegeheim zu nutzen. Für das Obergeschoss wird hier eine Frist zur Beräumung von einer Woche nach Zustellung des Bescheids gesetzt."
Die Senioren-WG im neu errichteten Wohnhaus wurde zum Pflegeheim erklärt. Baurechtlich betrachtet. Und da half es dem Senioren-Büro auch wenig, dass die Heimaufsicht bestätigt hatte, dass es sich nicht um ein Heim, sondern eine Wohngemeinschaft handelte.
"Weil der Begriff ´ambulantes betreutes Wohnen` faktisch als Rechtsbegriff nicht definiert ist, hat man das also als Heim deklariert und für Heime, also für vollstationäre Einrichtungen, gilt die brandenburgische Krankenhaus-Pflegeheimbauverordnung."
Die Folge: bauliche Anforderungen wie für ein Krankenhaus oder ein Pflegeheim. Eine Großeinrichtung also. Silvia Sandler erinnert sich an die Mängelliste.
"Ein zweiter Fluchtweg, der fehlt, die Holztreppe, die Türbreite, die jetzt 88 ist, die 90 sein soll, eine Brandschutzanlage, feuerschutzdichte Türen, feuerschutzdichte Trennwände, eine Schaltung zur Feuerwehr. Es sind ungefähr 14 Punkte. Mir fällt jetzt alles nicht noch einmal ein, müsste ich jetzt mal nachlesen."
Vor allem auf den zusätzlichen Brandschutz bestand die Baubehörde und untersagte die Nutzung. Für die älteren Bewohner ein Schock, zumal ihnen ein Zwangsgeld von 2000 Euro im Falle des Nichtauszuges angedroht wurde. Gegen ihre Willen wurden sie in Heime verlegt, alle Klagen vor Gericht abgewiesen. Von einer "erneuten Vertreibung" schrieb eine erboste Angehörige in einem Leserbrief an die örtliche Presse. "Mit 96 ausquartiert", schrieb eine andere. Und: "Der Mensch zählt nicht viel." Doch alle Proteste halfen nichts. Im Gegenteil. Die Baubehörde sprach noch weitere Nutzungsuntersagungen aus.
"Wir haben noch ein Objekt in der Trappenallee, da sind noch vier ältere Bewohner drin, die wohnen jetzt noch drin. Aber da ist jetzt auch die Nutzungsuntersagung ausgesprochen. Und da haben wir jetzt vier Wochen Zeit, das zu räumen. Da gibt es jetzt aber auch noch Gespräche mit den Eigentümern, dass der jetzt hier einen Bauantrag stellt."
Um Zeit zu gewinnen – nicht zuletzt für die alten Bewohner. Zusätzlich reichte das Senioren-Büro eine Petition beim brandenburgischen Landtag ein, schrieb an das Bau- und das Sozialministerium.
"Wir haben gefordert, dass der Begriff "ambulant betreutes Wohnen" rechtlich definiert wird, was versteht man darunter. Und wir haben noch gefordert den Bestandsschutz für jetzt bestehende Einrichtungen, bis es gesetzliche Regelungen gibt. Das ist nun leider unterlaufen worden, indem die untere Bauaufsicht die härteste Gangart angelegt hat, die es gibt und schon wirklich eine Menge Einrichtungen mit einer Nutzungsuntersagung platt gemacht hat."
Im Sozialministerium steht Ulrich Wendte vor seinem Bücherregal mit juristischen Standardwerken. Ganz links: Die Heimrechtsabteilung.
"Ein dreibändiger Heimgesetzkommentar, der alle möglichen Vorschriften enthält, die Heimsicherungsverordnung, die Heimpersonalverordnung, die Heimmindestbauverordnung und natürlich das Heimgesetz selber, also wir haben genug Gesetze und Verordnungen, um Heime zu kontrollieren und angemessen mit ihnen umzugehen."
Alles geregelt rund ums Heim. Bei den Senioren-WGs aber herrscht Fehlanzeige:
"Das taucht in den modernen Kommentaren noch nicht so richtig auf."
Und so ist es durchaus möglich, dass die Heimaufsicht einem Wohnprojekt WG-Charakter bescheinigt, die Bauaufsicht es aber als Pflegeheim einstuft.
"Die konkrete Baubehörde hat gesagt: Unabhängig davon, ob die konkrete Heimaufsicht ein Projekt als Nicht-Heim bezeichnet, es gibt eine brandenburgische Krankenhaus- und Pflegeheimbauverordnung, in der ebenfalls der Begriff des Heimes eigenständig definiert wird."
"Pflegeheime sind bauliche Anlagen, in denen die zu versorgenden pflegebedürftigen Personen untergebracht, verpflegt und gepflegt werden", heißt es dort. So gesehen kann jede Senioren-WG, in der pflegebedürftige Patienten untergebracht sind, als Heim definiert werden.
"Wir erleben im Augenblick eine tief greifende Verunsicherung bei den Projekten, weil man eben nicht weiß, welche bauordnungsrechtlichen Anforderungen gelten. Wir wollen aus sozialpolitischer Sicht, dass Wohngemeinschaften auch in Bestandsgebäuden eingerichtet werden können und nicht nur in Zweckbauten, die extra dafür errichtet sind. Das widerspricht dem Gedanken der Integration."
Dabei ist es erklärter Wille der Landesregierung, die Senioren-Wohngemeinschaft zu fördern. "Seitens der Landesregierung wird dem Ausbau dieser Wohnform große Bedeutung beigemessen." So steht es in den Leitlinien zur Seniorenpolitik. Fehlen nur noch die rechtlichen Voraussetzungen.
"Wir werden in einer interministeriellen Arbeitsgruppe Anfang September uns erstmalig zusammensetzen und versuchen, genau für diese Fragen eine Lösung zu finden. Denn genauso wie das Heimrecht dazulernen muss, wenn es angemessen auf neue Wohnformen reagieren möchte, muss meines Erachtens auch das Bauordnungsrecht unterscheiden zwischen großen Pflegeheimen, also Gebäuden, die auch extra dafür gebaut werden, in denen 50-80 Menschen wohnen und kleinen Projekten, in denen sechs bis acht Leute wohnen."
Einmal links herum geht es, dann noch einmal links herum, dann auf die Landstraße, dann immer geradeaus. Hinaus über die Stadtgrenze von Prenzlau. Hinein in Hartmut Rolls Revier: Die Uckermark. "Eine Region immerhin so groß wie das Saarland", sagt Roll. Allerdings mit gerade mal 47 Einwohnern pro Quadratkilometer einer der am dünnsten besiedelten Landstriche der Republik. 1400 Wohnungen verwaltet hier die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Prenzlau Land. Roll ist ihr Geschäftsführer:
"Wir müssen leider über einen Leerstand von 19 Prozent reden, die wir im Bestand haben, das sind sehr schmerzhafte Größen, die natürlich auch starke finanzielle Einschnitte zur Folge haben."
Schnurgerade zieht sich die Straße durchs Land. Windkrafträder drehen sich gemächlich auf den Endmoränenhügeln. Das Ortschild Blindow taucht auf, Roll nimmt den Fuß vom Gas.
"In Blindow haben wir noch ein Gutshaus zu stehen, da ist auch noch etwas Sanierungsbedarf vorhanden, aber momentan beabsichtigen wir nicht, an diesem Haus eine größere Sanierung vorzunehmen."
Es fehlt schlicht das Geld - und die Mieter. Die werden in der Uckermark immer weniger. Rolls Wohnungsbestand aber bleibt konstant. Und das schafft Probleme. So wie in dem nächsten Örtchen mit dem sinnvollen Namen Dauer:
"Ein Block mit 32 Wohnungseinheiten, ein Wohnhaus steht hier in Dauer. Hier wäre es natürlich mein Wunsch, aber finanziell nicht darstellbar, dass man als alternative Wohnform im ländlichen Raum hier die Möglichkeit erhalten würde, diese oberen zwei Etagen abzutragen."
Aber auch dafür fehlt das Geld. Also bleibt ein Teil der Wohnungen leer stehen. Roll zuckt mit den Schultern, was soll er machen. Er blickt nach vorne. Auf die Landstraße, gibt Gas. Nach wenigen Minuten kommt das nächste Ortsschild in Sicht: Göritz. Ein Lächeln umspielt jetzt Rolls Lippen.
"So Göritz als Ort liegt etwa mittig zwischen Pasewalk und Prenzlau. Wir haben hier Autobahnanbindung über die A 20. Da drüben sehen Sie schon das gelbe Haus, bei der Eröffnung war der Kindergarten zugegen, hat dort seine Liedchen gesungen, das war eine schöne Sache."
Roll lächelt: Die Einweihung des gelben, zweistöckigen Altbaus als neues Zuhause für eine Wohngemeinschaft pflegebedürftiger Senioren. Eine Investition in die Zukunft. Eine Alten-WG für die neuen Zeiten. Das ganze Objekt ein Komplettumbau, konzipiert von Rolls Wohnungsbaugesellschaft. Mit knapp 350.000 Euro unterstützt vom brandenburgischen Agrar- und Umweltministerium. Das spendierte Fördermittel aus dem Topf für ländliche Entwicklung.
Entstanden sind zehn Wohnungen, in der Größe von 15 bis 24 Quadratmeter, dazu großzügige Gemeinschafts- und Sanitärräume, alles barrierefrei ausgelegt. Dazu hinter dem Haus ein großer Garten.
"Was es heute gibt? Fisch, Fisch, Fisch. Das ist unsere Beste, die kann das."
In der großen, hellen Wohnküche sitzen drei Rentnerinnen auf dem Sofa, kichern. Eine Mitbewohnerin im Rollstuhl wippt am Ende eines großen Esstisches auf und ab. Am Herd steht eine Pflegekraft, brät Fisch:
"Fisch mit Krautsalat und Salzkartoffeln gibt es heute."
Die drei älteren Damen auf dem Sofa grinsen und feixen. Mehr als 200 Jahre sitzen dort zusammen. An ihr genaues Alter erinnert sich kaum eine der Seniorinnen. Auch mit den Namen ist es manchmal ein bisschen schwierig, sagt die Pflegerin.
"Oben liegt noch ein Patient, der ist sehr schwer krank. Frau Malchow kommt heute aus dem Krankenhaus zurück. Frau Hübner kommt heute von der Kur, das ist die Krebspatientin. Und jetzt muss ick hier machen, sonst brennt es an."
Alle Mieter der Senioren-WG kommen aus der Region. Ihre Angehörigen leben fast alle in der Nähe. Regelmäßig – der Wochenplan hängt an der Tür – müssen die Verwandten für die Wohngemeinschaft einkaufen. Pflegerisches und hauswirtschaftliches Know-how von den Fachkräften, dazu Unterstützung von den Angehörigen – das ist einer der Grundideen der SeniorenWG.
"Man hat ein persönliches Verhältnis zu den Patienten, man hat mehr Zeit, man nimmt sich mehr Zeit, denke ick. Wir machen den Essensplan zusammen, die Einkaufsliste, das hat man ja sonst nicht, das kriegt man vorgesetzt."
Wie wesentlich dieser Unterschied ist, weiß die Pflegekraft aus eigener schmerzlicher Erfahrung:
"Meine Mutti hat selbst im Altenheim gelegen und ist verstorben. Da ist Massenabfertigung, muss man so sagen."
Aber darüber möchte sie nicht weiter reden. Jetzt kommt ihre Kollegin herein. Schwester Christel. An ihrer Seite der 78-jährige Fritz. Er ist heute der einzige Mann in der Wohnküche.
"Na Fritz, was ist, möchtest Du noch mehr zu trinken? Ich habe ja noch gar nischt gehabt, na komm, dann holen wir was."
Mit zitternder Hand hält Fritz das Glas. Schwester Christel schenkt ein:
Schwester Christel: "Halt mal schön fest."
Fritz: "Mach mal richtig voll."
"Aber bis zum Stehkragen."
"Ist ja noch nicht."
"Pass mal auf."
"Jut."
"Bitteschön, so prost."
Fritz ist an Alzheimer erkrankt. Wie einige der Bewohner hier. Von Pflegestufe eins bis drei ist alles vertreten, sagt Schwester Christel. Fritz hört zu und nickt. Die Krankenschwester lächelt. Die drei Damen auf dem Sofa feixen. Die Ergotherapeutin wendet den Fisch.
"Die Leute werden in Schwung gebracht. Dadurch, dass hier die große Wohnküche ist, sind sie hier ja auch immer mittendrin, wer auch nicht mehr so bewegungsmäßig ist und sich nicht mehr so beteiligen kann. Er hört, er sieht, wenn Frau Reichert und sie sagt bloß, "Was ist mit dem Kuchen?" Und sie, sie passt auf den Kuchen auf. Oder Gurken einlegen. Und sie gibt ein Rezept. Und so wird das dann gemacht. Und so trägt der eine was bei, der andere das, dann passt das letzten Endes wieder."
Seit sechs Uhr ist Christel im Dienst, hat Medikamente verteilt, das Frühstück organisiert, Wäsche aufgehängt. Gleich will sie mit Fritz Petersilie aus dem Garten holen.
"Wir waschen, wir kochen, wir machen sauber, wir putzen Fenster, wir machen alles. Wir machen alles, was da ist. Wa Fritz ? Jeder macht das, was er kann. Das ist ja auch sehr schön: der eine macht dieses gerne, der andere das, der eine sagt ich trockne halt ab, aber bei anderen Sachen lege ich mich lieber auf die Couch."
Jeder Bewohner zahlt knapp 300 Euro für sein Einzelzimmer und die Nutzung der Gemeinschaftsräume an die Wohnungsbaugesellschaft. Noch einmal dieselbe Summe geht für die Rund-um-die-Uhr Betreuung an den Pflegedienst. Hinzu kommen noch rund 150 Euro Verpflegungskosten. Macht summa summarum 750 Euro. Deutlich weniger, als in einem Pflegeheim als Eigenanteil zu zahlen wäre.
Im Potsdamer Arbeits- und Sozialministerium beugt sich Ulrich Wendte über einen Aktenordner, blättert, stoppt bei einem Schriftstück: "Verwaltungsvereinfachung und Entbürokratisierung des Heimrechts" steht auf dem Titelblatt. Wendte lächelt.
"Selbstbestimmte Wohnformen fallen nicht unter das Heimgesetz, der erste Eckpunkt aller guten Papiere."
Wendte ist Referent für Behindertenpolitik und Heimrecht. Und war jahrelang auch zuständig für die Pflegepolitik in Brandenburg. Er suchte nach neuen Wegen, um den Lebensabend für ältere Menschen in den ländlichen Regionen zu gestalten: die Lücke zwischen der Betreuung durch Angehörige zuhause und der Pflege im Heim zu schließen. Vor allem in den ländlichen Regionen steigt der Bevölkerungsanteil der älteren Menschen Jahr für Jahr an. Stärker als sonst in der Republik. Statistisch wird dieser Trend noch durch den Wegzug der jungen Bevölkerung beschleunigt…
"Und die Frage ist: Wie können wir erreichen, dass die Menschen im Alter, wenn sie nicht mehr alleine leben können nicht automatisch ins große Pflegeheim müssen? Welche Möglichkeiten gibt es, dass sie im Ort bleiben, das Menschen zusammen wohnen und dort gemeinsam von Angehörigen und professionellen Diensten versorgt werden?"
Eine Antwort könnten die Senioren-WGs sein. Kleine Wohngemeinschaften vor Ort. In der Nähe der Angehörigen. Betreut von Pflegediensten. Die sich viele Anfahrtswege sparen, da etliche Patienten in einem Haus leben.
"Es gibt einen deutlichen Zuwachs von Projekten. Nur leider ist die Qualität nicht überall so, wie wir uns die wünschen. Also wir wünschen uns, dass die Wohngemeinschaften nicht nur kuschelige kleine Pflegeheime sind, sondern wirklich einen Versorgungsmix darstellen, wo die Angehörigen eine ganz andere Rolle spielen als im Pflegeheim. Sie sollen zu einen mitbestimmen und sie sollen zum anderen mithelfen."
Die Beteiligung und die Mitsprache der Angehörigen ist für Ulrich Wendte eine der Grundvoraussetzungen für die Organisationsform der Senioren-WG. Denn nur sie garantiert eine ausreichend starke Verhandlungsposition gegenüber dem beteiligten Pflegedienst.
"Die meisten Menschen ziehen in eine Wohngemeinschaft, wenn sie zuhause nicht mehr zurechtkommen. Meistens ist das auslösende Moment die Demenz, die brauchen eine Betreuung rund um die Uhr. Und das klappt nur, wenn alle Bewohner denselben Pflegedienst beauftragen. Nur dann kann ich eine solche Betreuungsdichte gewährleisten. Das ist eines der großen Probleme auch. Der Pflegedienst hat dadurch, dass er der einzige ist, der diese Menschen betreut, eine sehr absolute Stellung."
Lange Zeit hat Wendte über eine maßgeschneiderte Lösung gegrübelt. Um die Selbstbestimmtheit in den Wohngemeinschaften, sprich die größtmögliche Unabhängigkeit vom Pflegedienst zu garantieren.
"Deshalb haben wir die Idee der Auftraggebergemeinschaft entwickelt. Die Angehörigen schließen sich zusammen und sagen: Wir entscheiden gemeinsam, welchen Pflegedienst wir beauftragen, und wir entscheiden auch mit Mehrheit gegebenenfalls und im schlimmsten Fall, den Pflegedienst zu wechseln. Wenn diese Struktur vorhanden ist, dann verhandelt die Auftraggeber-Seite auf gleicher Augenhöhe mit dem Pflegedienst Und der Pflegedienst weiß, wie überall im Leben, er kann sich dieser Kunden nicht bedingungslos sicher sein und er weiß, er muss sich Mühe geben, um diese Kunden zu behalten."
Die Auftraggebergemeinschaft - ein Modell, das mittlerweile auch bundesweit Schule macht. Um von vornherein Qualitätsstandards in Senioren-WGs zu sichern. Und nicht zuletzt die Heimaufsicht zu entlasten. Die aber muss ihre Kontrollfunktion wahrnehmen, wenn es die Angehörigen nicht schaffen, eine Organisationsform zu finden, sagt Wendte. Darum haben auch viele Senioren-WGs in letzter Zeit Post von seiner Behörde bekommen. Mit der Bitte um Auskunft. Wie selbstbestimmt das WG-Leben bei ihnen aussieht.
"Wir haben allerdings das Vorgehen, dass wir den Projekten eine Chance einräumen, diese Selbstbestimmtheit zu erreichen. Das heißt, wir kommen nicht und verhängen sofort Ordnungswidrigkeiten in den Fällen, wo noch diese Struktur nicht vorhanden ist."
Sondern beraten die Betreiber, wie die so genannte Selbstbestimmtheit hergestellt werden kann. Das Gleichgewicht zwischen Angehörigen- und Pflegedienstinteressen. Für die Heimaufsicht eine ganz neue Aufgabe:
"Für die Heimaufsicht ist es sehr schwierig. Bisher war die Heimlandschaft in dem Bereich der Pflege von Grosseinrichtungen. Und die Bestimmungen, die das Heimrecht enthält, waren auch für Großeinrichtungen gedacht und passen auch dort. Und vieles passt nicht für kleine Projekte mit acht oder zehn Bewohnern. Und da müssen wir, genauso wie andere Behörden auch, lernen, mit diesen neuen, gewünschten Wohnformen angemessen umzugehen."
Doch der Wille, in Sachen betreute Senioren-WG dazu zu lernen, scheint in den Brandenburger Behörden ganz unterschiedlich ausgeprägt zu sein. Einige Wohngemeinschaften bekamen in diesem Jahr Post von ihrer örtlichen Baubehörde: Eine "Nutzungsuntersagung". Nebst Aufforderung zum Auszug für die alten Bewohner. Die mussten dorthin, wo sie nie hinwollten: ins Pflegeheim.
"Wir stehen hier in Hennigsdorf in der Kirchstrasse 43. Das ist also ein Zweifamilienhaus, das ist neugebaut, übergeben am 1.4.2006 von der Eigentümerin an uns als Generalmieter. Und wir haben das faktisch untervermietet mit Einzelmietverträgen an die älteren Seniorinnen und Senioren."
sagt Silvia Sandler, die Sprecherin des Seniorenbüros Hennigsdorf. Eines eingetragenen Vereins, der älteren Menschen ein weitgehend selbstbestimmtes Leben ermöglichen will.
"Tür auf... Wir gehen jetzt mal nach oben."
Silvia Sandler eilt die Holztreppe nach oben, in den ersten Stock. Blumenbilder schmücken den Flur. Links und rechts gehen Ein-Zimmer-Wohnungen ab, frisch renoviert, die Türen stehen offen.
"Das sind also die leeren Zimmer, aus meiner Sicht sehr schöne wohnliche Zimmer. Und die Bewohner haben sich wirklich hier wohlgefühlt."
In einem Raum steht ein einsames Sofa. In einem anderen ein elektrisch verstellbares Bett. Insgesamt fünf Senioren, einige davon bettlägerig, lebten hier.
"Die mussten ausziehen, es gab dolle Tränen, manche haben doch 5,6,7 Jahre zusammen gewohnt. Die waren aneinander gewöhnt, und die mussten alle dahin, wo sie nicht hinwollten, die sind alle leider im Heim."
Silvia Sandler holt einen dicken Ordner aus ihrer Tasche. "Das ist nur einer von vielen", sagt sie.
Es war ganz konkret so, dass bis zum 13. Februar dieses Jahres für uns alles in Ordnung war. Und von dem Tag an war alles anders. Und zwar standen zwei Leute der unteren Bauaufsichtsbehörde des Landkreises Oberhavel vor der Tür und haben das Haus begutachtet.
Die Mitarbeiter der Bauaufsicht inspizierten das Haus, machten sich Notizen. Kurze Zeit später bekam das Seniorenbüro Post vom Amt. Silvia Sandler öffnet den Ordner, beginnt zu suchen.
"Kleinen Moment, jetzt muss ich erstmal suchen, es ist viel Papier. Nutzungsuntersagung, nehmen wir die Erste, die ist jetzt am härtesten, die sind alle hart."
Silvia Sandler zieht einige eng beschriebene DIN-A-4-Blätter hervor, Absender der Landkreis Oberhavel.
"Hiermit untersage ich Ihnen, das Gebäude als Pflegeheim zu nutzen. Für das Obergeschoss wird hier eine Frist zur Beräumung von einer Woche nach Zustellung des Bescheids gesetzt."
Die Senioren-WG im neu errichteten Wohnhaus wurde zum Pflegeheim erklärt. Baurechtlich betrachtet. Und da half es dem Senioren-Büro auch wenig, dass die Heimaufsicht bestätigt hatte, dass es sich nicht um ein Heim, sondern eine Wohngemeinschaft handelte.
"Weil der Begriff ´ambulantes betreutes Wohnen` faktisch als Rechtsbegriff nicht definiert ist, hat man das also als Heim deklariert und für Heime, also für vollstationäre Einrichtungen, gilt die brandenburgische Krankenhaus-Pflegeheimbauverordnung."
Die Folge: bauliche Anforderungen wie für ein Krankenhaus oder ein Pflegeheim. Eine Großeinrichtung also. Silvia Sandler erinnert sich an die Mängelliste.
"Ein zweiter Fluchtweg, der fehlt, die Holztreppe, die Türbreite, die jetzt 88 ist, die 90 sein soll, eine Brandschutzanlage, feuerschutzdichte Türen, feuerschutzdichte Trennwände, eine Schaltung zur Feuerwehr. Es sind ungefähr 14 Punkte. Mir fällt jetzt alles nicht noch einmal ein, müsste ich jetzt mal nachlesen."
Vor allem auf den zusätzlichen Brandschutz bestand die Baubehörde und untersagte die Nutzung. Für die älteren Bewohner ein Schock, zumal ihnen ein Zwangsgeld von 2000 Euro im Falle des Nichtauszuges angedroht wurde. Gegen ihre Willen wurden sie in Heime verlegt, alle Klagen vor Gericht abgewiesen. Von einer "erneuten Vertreibung" schrieb eine erboste Angehörige in einem Leserbrief an die örtliche Presse. "Mit 96 ausquartiert", schrieb eine andere. Und: "Der Mensch zählt nicht viel." Doch alle Proteste halfen nichts. Im Gegenteil. Die Baubehörde sprach noch weitere Nutzungsuntersagungen aus.
"Wir haben noch ein Objekt in der Trappenallee, da sind noch vier ältere Bewohner drin, die wohnen jetzt noch drin. Aber da ist jetzt auch die Nutzungsuntersagung ausgesprochen. Und da haben wir jetzt vier Wochen Zeit, das zu räumen. Da gibt es jetzt aber auch noch Gespräche mit den Eigentümern, dass der jetzt hier einen Bauantrag stellt."
Um Zeit zu gewinnen – nicht zuletzt für die alten Bewohner. Zusätzlich reichte das Senioren-Büro eine Petition beim brandenburgischen Landtag ein, schrieb an das Bau- und das Sozialministerium.
"Wir haben gefordert, dass der Begriff "ambulant betreutes Wohnen" rechtlich definiert wird, was versteht man darunter. Und wir haben noch gefordert den Bestandsschutz für jetzt bestehende Einrichtungen, bis es gesetzliche Regelungen gibt. Das ist nun leider unterlaufen worden, indem die untere Bauaufsicht die härteste Gangart angelegt hat, die es gibt und schon wirklich eine Menge Einrichtungen mit einer Nutzungsuntersagung platt gemacht hat."
Im Sozialministerium steht Ulrich Wendte vor seinem Bücherregal mit juristischen Standardwerken. Ganz links: Die Heimrechtsabteilung.
"Ein dreibändiger Heimgesetzkommentar, der alle möglichen Vorschriften enthält, die Heimsicherungsverordnung, die Heimpersonalverordnung, die Heimmindestbauverordnung und natürlich das Heimgesetz selber, also wir haben genug Gesetze und Verordnungen, um Heime zu kontrollieren und angemessen mit ihnen umzugehen."
Alles geregelt rund ums Heim. Bei den Senioren-WGs aber herrscht Fehlanzeige:
"Das taucht in den modernen Kommentaren noch nicht so richtig auf."
Und so ist es durchaus möglich, dass die Heimaufsicht einem Wohnprojekt WG-Charakter bescheinigt, die Bauaufsicht es aber als Pflegeheim einstuft.
"Die konkrete Baubehörde hat gesagt: Unabhängig davon, ob die konkrete Heimaufsicht ein Projekt als Nicht-Heim bezeichnet, es gibt eine brandenburgische Krankenhaus- und Pflegeheimbauverordnung, in der ebenfalls der Begriff des Heimes eigenständig definiert wird."
"Pflegeheime sind bauliche Anlagen, in denen die zu versorgenden pflegebedürftigen Personen untergebracht, verpflegt und gepflegt werden", heißt es dort. So gesehen kann jede Senioren-WG, in der pflegebedürftige Patienten untergebracht sind, als Heim definiert werden.
"Wir erleben im Augenblick eine tief greifende Verunsicherung bei den Projekten, weil man eben nicht weiß, welche bauordnungsrechtlichen Anforderungen gelten. Wir wollen aus sozialpolitischer Sicht, dass Wohngemeinschaften auch in Bestandsgebäuden eingerichtet werden können und nicht nur in Zweckbauten, die extra dafür errichtet sind. Das widerspricht dem Gedanken der Integration."
Dabei ist es erklärter Wille der Landesregierung, die Senioren-Wohngemeinschaft zu fördern. "Seitens der Landesregierung wird dem Ausbau dieser Wohnform große Bedeutung beigemessen." So steht es in den Leitlinien zur Seniorenpolitik. Fehlen nur noch die rechtlichen Voraussetzungen.
"Wir werden in einer interministeriellen Arbeitsgruppe Anfang September uns erstmalig zusammensetzen und versuchen, genau für diese Fragen eine Lösung zu finden. Denn genauso wie das Heimrecht dazulernen muss, wenn es angemessen auf neue Wohnformen reagieren möchte, muss meines Erachtens auch das Bauordnungsrecht unterscheiden zwischen großen Pflegeheimen, also Gebäuden, die auch extra dafür gebaut werden, in denen 50-80 Menschen wohnen und kleinen Projekten, in denen sechs bis acht Leute wohnen."