Das entvölkerte Land
Seit dem Ende des Kommunismus in Bulgarien hat die jüngere Generation die Provinz verlassen: Sie zieht es in die Städte und ins Ausland. Die Dörfer verfallen, die Bevölkerung überaltert. Doch die niedrigen Immobilienpreise locken auch Käufer an.
Peter ist Schwarzbrenner. "Das ist Metall", sagt er, "Kupfer" – der Kupferkessel, etwa 80 Zentimeter im Durchmesser, für den Rakija, den traditionellen bulgarischen Schnaps, steht im Schuppen neben dem Haus.
"Ich habe viele Früchte gesammelt, die kommen hinein zum Fermentieren. Später wird das dann aufgekocht, und irgendwann kann man hier unten den Rakija anzapfen."
Mehrmals im Jahr setzt er Rakija an, Obstbrand aus vergorenen Früchten. Schnaps herzustellen ist nichts Ungewöhnliches auf dem Land. Den kann man selbst trinken oder auch verschenken – als Tauschmittel, falls einem die Nachbarn mal mit etwas aushelfen sollen. Oder es wird ein Gläschen auf den Tisch gestellt, wenn Besuch kommt.
Gemüse als Tauschmittel
74 Jahre ist Peter Stanev Ivanov alt. Die meiste Zeit seines Lebens hat er in der Armee verbracht, hat an drei oder vier Standorten in Bulgarien gewohnt, damals, in der alten Zeit. Jetzt, in der neuen Zeit, ist er wieder dorthin zurückgekehrt, wo er aufgewachsen ist: In das kleine Haus in Braknitsa. Eigentlich ist es eher eine Hütte: Ein Zimmer, in dem der Holzofen steht, ist Wohnzimmer und Küche, dahinter ein Raum zum Schlafen
Sobald es einigermaßen warm wird, ist Peter draußen: Sitzt unter dem Drahtgestänge, an dem sich ab dem Frühjahr Pflanzen ranken, oder er kümmert sich um seinen Garten, für den er in einem kleinen Gewächshaus schon mal Salat und Gemüse vorzieht.
Auf einem großen Feld baut er zusätzlich noch Kartoffeln an. Mehr Gemüse und Salat als er selbst braucht. Der Rest sei für Freunde, sagt er. Auch wieder ein gutes Tauschmittel. Peters Sohn wohnt eine Stunde entfernt in einer Kleinstadt, auch für ihn baut Peter Gemüse an. Die Tochter lebt allerdings in Italien. Ob seine Kinder irgendwann nach Braknitsa zurückziehen?
"Das kann man nicht sagen. Die Tochter hat in Italien mittlerweile eine Wohnung gekauft."
"Nach dem Kommunismus sind die meisten weg"
Das klingt nicht nach einer Rückkehr. Und wenn doch, dann wohl eher nicht in die kleine Hütte nach Braknitsa, wo nichts los ist. Das Dorf liegt vier Autostunden von Sofia und zwei von der Schwarzmeerküste entfernt. Der nächste Bahnhof ist im 20 Kilometer entfernten Popovo – einer Kleinstadt, die gleichzeitig Verwaltungssitz ist, zu dem auch Braknitsa gehört.
Früher, sagt Georgi Atanasov Georgiev, war alles anders. Georgiev ist so etwas wie der Bürgermeister des Ortes.
"In Braknitsa wohnten früher 800 Menschen in 150 Häusern. Es gab zwei Fabriken, in denen die Menschen gearbeitet haben. Nach dem Kommunismus sind die meisten weg. Jetzt ist es die Aufgabe des Bürgermeisters, sich darum zu kümmern, dass dieses Dorf nicht stirbt."
Ohne Selbstversorgung geht es nicht
Die zwei Fabriken gibt es nicht mehr. Jetzt wohnen rund 30 Menschen in Braknitsa, im Sommer ein paar mehr. Die meisten sind Rentner, manche haben in der Stadt eine kleine Wohnung, in der sie den Winter verbringen.
Auch Georgi Atanasov Georgiev und seine Frau Stojanka haben einen großen Garten um das eher einfache Haus angelegt und bauen dort Gemüse an. Und wie beinahe alle in Braknitsa haben sie Hunde, die sofort Alarm schlagen, wenn sich jemand nähert – man weiß ja nie, wer vielleicht durch die verlassenen Gärten im Dorf streicht. Und außerdem passen die Hunde auf, dass sich kein Fuchs Beute aus dem Garten holt.
"Wir haben Hasen. Und Hühner mit unterschiedlichen Rassen. Und dann haben wir auch noch Gänse, eine Rasse mit besonders großen Tieren."
Selbstversorgung ist auch bei Georgi Atanasov Georgiev wichtig – ohne sie hätten es die Menschen in den unzähligen Dörfern Bulgariens schwer, zu überleben.
Lebensmittel kommen dreimal pro Woche
Die anderen im Dorf nennen Georgiev den "Bürgermeister" – dabei ist er nicht gewählt, sondern von der Verwaltung in Popovo ausgesucht. Er und seine Frau sind außerdem schon Rentner – doch so bekommen sie ein paar Leva zusätzlich, um sich um verschiedene Dinge im Dorf zu kümmern.
"Die meisten Menschen hier sind alte Leute. Sie brauchen Strom, Wasser, Medizin, und einen Transport in ein Krankenhaus, wenn es notwendig ist. Die Straßen müssen in Ordnung gehalten werden. Dreimal in der Woche kommt ein Lieferwagen vorbei, der die Lebensmittel und auch Medikamente bringt, die vorher bestellt worden sind. Das sind die Aufgaben des Bürgermeisters, er muss sich darum kümmern und alles organisieren. Er holt auch die Rente in Popovo, dem Verwaltungssitz, ab und bringt sie den alten Leuten ins Dorf."
Im Winter, wenn alles zugeschneit ist, bestellt er den Schneepflug, der zumindest die Hauptstraße ins Dorf frei räumt. In Braknitsa gibt es nichts mehr, was richtig funktioniert: Im alten Ortskern kann man noch ahnen, dass dort einmal ein Treffpunkt war, mit Post, Bushaltestelle, Einkaufsladen. Alles weg! Im ehemaligen Buswartehäuschen hängen kleine Plakate mit Bildern derer, die in den letzten Monaten verstorben sind, ebenso wie an den Eingangstüren der Häuser, in denen sie gewohnt haben.
Wer stirbt, dessen Haus verfällt
Stirbt jemand, verfallen die Gebäude so nach und nach. Kaum einer der Erben will hier einziehen. Ab und zu taucht schon mal ein Enkel auf und erzählt, er wolle das Haus renovieren und die Ferien dort verbringen, erzählt Ben, ein Deutscher. Er ist mit seiner Frau und dem zwölfjährigen Sohn vor zwei Jahren nach Braknitsa gezogen.
Zusammen machen wir eine kleine Fahrt durchs Dorf.
"Das Haus ist leer, das Haus ist leer, nee, da wohnen noch Leute. Da wohnt keiner mehr. Dieser Bungalow ist auch zu verkaufen, das Haus ist auch zu verkaufen. Mit 17.000 fing’s an, dann 15.000, eventuell kann man es für 12.000 kriegen. Das ist eine Frau, die mit ihrer Mama dort gewohnt hat. Die Tochter will jetzt weg, sie ist auch schon 60. Das sollte 5000 Euro kosten."
Die billigen Häuser wecken Interesse
Ben und Lena sind mit Ende Dreißig die jüngsten Erwachsenen im Dorf, die meisten anderen sind über 60. Die deutsche Familie kam nach Braknitsa, weil sie sich hier sehr günstig ein großes Grundstück kaufen konnte. Das kleine Haus und die Stallungen sind zwar sehr renovierungsbedürftig, aber in Deutschland hätten sie sich das nicht leisten können. Und sie mögen Tiere, haben Ziegen, Hunde und Katzen. Für Bulgarien haben sie sich entschieden, weil Lena Russisch kann – sie kam als Kind mit ihren Eltern aus Sibirien nach Deutschland. Und in Bulgarien kommt man mit Russisch weiter als mit Englisch oder Deutsch, zumindest auf dem Land.
In Braknitsa arbeiten sie weiterhin für deutsche Unternehmen, schreiben Newsletter, erstellen Graphiken und gestalten Internetseiten. Auch wenn alte Strukturen im Ort zusammengebrochen sind – das Internet funktioniert.
Sie sind nicht die einzigen Ausländer im Dorf und in der Region: Es gibt weitere Auswanderer aus Deutschland, und auch aus Großbritannien. Ein Paar hat in Braknitsa die alte Schule erworben.
Ohne Auto geht hier nichts
Doch wer hier lebt, ist auf ein Auto angewiesen. Wer kein eigenes hat, lässt sich vom Bürgermeister helfen. Manche im Dorf fragen die Nachbarn. So wie Stefan Atanasov. Er war Journalist, hat früher für Parteizeitungen gearbeitet. Deutsch hat er in der Schule gelernt. Sein Vater wurde hier geboren, er selbst in der Bezirksstadt Tagowischte. Stefan hat sich vorgenommen, Reiseführer zu schreiben. Und einen Roman: "Ich werde noch 22 Jahre leben bis 100 Jahre. Noch viel Zeit."
Heute will der 78jährige Stefan Atanasov mit Ben in die Stadt, nach Popovo. Er muss ins Krankenhaus, zu einer Untersuchung. Ein Taxi würde hin und zurück 30 Lewa kosten, umgerechnet 15 Euro. Bei Renten um die 100 Leva kann sich das in Braknitsa kaum jemand leisten.
Zur Fahrt in die Stadt hat er sich fein gemacht, mit Schlips und Anzug. Stefan hat eine Gaskartusche dabei. Wenn er schon in die Stadt zur Untersuchung fährt und jemanden bitten muss, ihn mitzunehmen, dann kann er auch gleich noch andere Dinge erledigen. Also geht es erst mal zur Tankstelle, dann ins Krankenhaus. Und später wird er dann noch im Supermarkt gewesen sein: Beim Abholen für die Rückfahrt hat er sechs volle Plastiktüten neben sich stehen. Das müsse für die nächsten drei Monate reichen, sagt er.
Ostern als Ritual der Begegnung
Eine alte Kirche gibt es auch noch im Ort, sie ist verschlossen und halb zerfallen. Für die Tradition ist sie dennoch wichtig. Ob zu Zeiten des Kommunismus oder danach: Ein Ritual haben sich die Menschen in Braknitsa bewahrt, und zwar immer zu Ostern. Es ist auch so etwas wie eine Erinnerung an bessere Zeiten, als Braknitsa noch kein verfallenes Dorf war.
Immer dann, zu Ostern, treffen sich nämlich um Mitternacht beinahe alle, die im Dorf wohnen, vor der alten orthodoxen Kirche. Es kommen Kinder und Enkel zu Besuch. Einen Priester gibt es zwar schon lange nicht mehr – aber was wäre Braknitsa ohne Improvisation: Bürgermeister Georgiev wird - selbstverständlich - aktiv. Er zündet Kerzen an, stellt sich an die Spitze der Prozession. Stojanka Georgiev singt ein Lied und verteilt Ostereier zum Anstoßen.
Stojanka Georgiev sei besonders kulturbeflissen, heißt es. Ab und zu lädt sie zu Liedervorträgen in das ehemalige Kulturhaus, das zwar die kommunistischen Zeiten überlebt hat, aber nie genutzt wird.
Gottesdienste gibt es längst keine mehr. Manchmal kommt jemand zu Besuch, will sich die alte Kirche anschauen. Auch in solchen Fällen muss man Bürgermeister Georgiev fragen. Er hat den Schlüssel, weiß Bescheid. Manche sagen, er stecke seine Nase überall hinein. Nina, zum Beispiel, ist nicht gut auf ihn zu sprechen:
"Ich rede nicht mit dem Bürgermeister. Ich mag ihn nicht. Ich habe einen Grund, aber ich will nicht darüber reden. Er ist ein Kommunist, ich mag keine Kommunisten. Dies ist einer der Gründe."
"Die Politik kümmert sich nicht um die Dörfer"
Nina Maneva hat ein eigenes Auto; das macht sie unabhängig. Sie muss nichts beim Bürgermeister bestellen. Jetzt ist sie wieder für den Sommer in Braknitsa, mit Niko, ihrem Enkel. Niko ist zwei. Nina 62.
Im Winter lebt sie in ihrer kleinen Wohnung in der Stadt, im Sommer auf dem Land. Es ist das Elternhaus ihrer Mutter, die mit 20 bereits nach Sofia gegangen ist und dort als Näherin gearbeitet hat. Nina ist mittlerweile pensioniert. Sie war Projektplanerin, erzählt sie: "Eigentlich wohne ich in Sofia, aber ich komme her wegen der frischen Luft. Ich habe Asthma. Im Winter ist es hier sehr hart, vor allem, wenn man alleine ist."
Als Kind war sie gelegentlich in Braknitsa, bei ihren Großeltern. Damals war das hier noch ein richtiges Dorf, kann sie sich erinnern: "Voll mit Menschen und vielen Tieren. Es war besser, aber die Politik kümmert sich nicht um die Dörfer. Und die Menschen haben keine Arbeit, keinen Platz für Kinder. Es ist schwierig für junge Leute. Es fing langsam an, nicht in einem Jahr. Jahr um Jahr waren immer weniger Menschen da."
Die Alten haben die Hoffnung aufgegeben
Alle wünschen sich mehr Leben im Braknitsa, wollen wieder, dass es ein richtiges Dorf ist. Nina ist da aber nicht so optimistisch: "Die Politiker haben die Dörfer vergessen." Und der Bürgermeister fordert, es müsse ein EU-Programm geben, um die jungen Leute wieder aufs Land zu bekommen, und um Arbeitsplätze für sie zu schaffen:
"Diese Situation mit den leeren Häusern, das ist eine nationale Katastrophe. Trotzdem, es gibt Wasser und Strom, und die Leute könnten zurückkommen, aber die jungen Leute kommen nicht. Vielleicht kommen auch Menschen aus Nachbarländern wie Moldau oder Russland. Das ist etwas, worüber Politiker nachdenken, aber es gibt noch keine Perspektive. Mein Wunsch wäre es, dass mehr junge Leute kommen. Die EU müsste sich kümmern."
"Utopie" sei das, fällt ihm seine Frau ins Wort. Die Alten im Dorf haben die Hoffnung auf Änderung aufgegeben, nehmen das Leben in Braknitsa wie es ist. Sie kommen mit ihrer meist spärlichen Rente so gerade über die Runden. Anderswo wäre es wahrscheinlich noch mühsamer mit dem wenigen Geld. Da nimmt man etliche Abstriche an die Infrastruktur und an die Bequemlichkeit in Kauf.
Die hinzugezogenen Ausländer werden willkommen geheißen
Dass nun auch Ausländer aus Deutschland oder aus Großbritannien nach Braknitsa ziehen, findet Bürgermeister Georgiev gut: "Sie verdienen mehr als die Menschen hier, für sie sind diese Häuser sehr billig. Alle Ausländer, die gekommen sind, sind gute Leute, egal ob aus Deutschland oder England. Wenn die Leute alles in Ordnung halten, ist alles okay, egal, aus welchem Land sie kommen."
Und sie werden von den wenigen Einheimischen auch gastfreundlich aufgenommen – als neue Nachbarn, die wie Peter Stanev auch im Winter in Braknitsa bleiben. Gerade dann, im Winter, ist es nämlich alles andere als gemütlich. Da muss man kreativ sein – wie der Armeeveteran Stanev, der vorgesorgt hat: "Ich habe genügend Holz, und ich habe Rakija und das Leben ist gut."
Und er hat auch noch ein Quad, ein Vierrad-Motorrad, mit dem er sich im schlimmsten Fall auf den Weg machen kann, zu den eingeschneiten Nachbarn oder, dick eingepackt, auch in die nächste Stadt.