Wie die SPD die Macht in Hessen zurückerobern will
Bildung, Mobilität, Wohnungsbau - mit diesen Themen will die SPD bei der Landtagswahl in Hessen punkten. Doch das sind Probleme, die vor allem den Süden des Landes betreffen, nicht aber überall im Norden oben auf der Agenda stehen.
In einem Gewerbegebiet im Wiesbadener Osten begrüßt Kita-Leiterin Sandra Kirsch eine Gruppe von SPD-Politikern in einem zweigeschossigen Gebäude mit Waschbeton-Fassade. Eine paar Journalisten begleiten den Tross. Es ist ein Wahlkampftermin von Thorsten Schäfer-Gümbel, dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD und Spitzenkandidaten für die hessische Landtagswahl im Oktober. Der entspannt wirkende Kandidat ist gekommen, um erst mal zuzuhören. Die Kita hat vier Gruppen, darunter zwei Krippengruppen mit bis zu zehn Kindern, erklärt uns die Pädagogin Sandra Kirsch:
"Im Alter von einem halben Jahr bis drei Jahren. Wobei wir meist schon ein bisschen schauen, dass es Richtung drei Jahre geht. Weil die Kleinen dann doch noch mehr Fürsorge brauchen, wenn sie ein halbes Jahr alt sind. Hatten wir aber auch schon. Wir haben auch schon Babys hier großgezogen."
Das Gebäude ist für Gewerbenutzung gebaut, aber vor einigen Jahren zur Kindertagesstätte der Arbeiterwohlfahrt umfunktioniert worden. Über dem Eingang hängt ein großes blaues Transparent mit der Aufschrift "Nein zu Rassismus". Thorsten Schäfer-Gümbel begründet beim Rundgang durch die Kita, warum er genau hier seinen Landtags-Wahlkampf beginnt. Die schwarz-grüne Landesregierung habe sich nicht genug um die Kitas gekümmert, so der SPD- Herausforderer:
"Das Kernproblem ist, dass die Mindeststandards und die Finanzierung hier im Land Hessen hinten und vorne nicht stimmen. Viele Bundesländer sind da sehr viel weiter und unser Ansatz ist, gute und gebührenfreie Kitas miteinander zu verbinden. Dazu haben wir einen weitreichenden Vorschlag gemacht, der erstens die Qualitätsentwicklung in den Kitas verbindet mit einer Entlastung der Eltern und einer entsprechenden Unterstützung der Kommunen, weil nur daraus am Ende eine überzeugende Lösung wird. All die Entwicklungen, die im Moment stattfinden, finden immer unter der Bedingung statt, dass das Land unzureichend finanziert."
Heimspiel für den SPD-Chef
In der Wiesbadener AWO-Kita bekommt Thorsten Schäfer-Gümbel an diesem Nachmittag keinen Widerspruch. Denn der Wahlkampftermin ist Heimspiel im traditionell linken SPD-Bezirk Hessen-Süd. Hier ist die SPD noch vielfach in den Stadtteilen verankert, die Arbeiterwohlfahrt steht der SPD wie seit Jahrzehnten sehr nahe. Zahlreiche Lokalpolitiker begleiten ihren Spitzenkandidaten in der Kita. Etwa Ernst-Ewald Roth. Der ehemalige katholische Priester und Stadtdekan von Wiesbaden, der seit zehn Jahren verheiratet ist, ist SPD-Landtagsabgeordneter. Roth, der auch ausgebildeter Sozialarbeiter ist, verkörpert für mich den sozialen Katholizismus, der früher vielleicht mehr in der CDU beheimatet war als in der SPD. Roth erklärt mir, dass sich die Partei in Hessen für den sogenannten "BMW-Wahlkampf" entschieden hat. "BMW" steht für "Bildung, Mobilität und Wohnungsbau":
"Eine Partei wie die SPD wird für die gesamte Palette des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens die Themen bearbeiten, aber das sind die drei Schwerpunkte."
Für den linken SPD-Bezirk Südhessen mit dem Rhein-Main-Ballungsraum heißt das: noch mehr Kita-Plätze in den wachsenden Städten der Region, schneller Ausbau des öffentlichen Schienen-Nahverkehrs und dringend mehr Sozialwohnungen. Vor allem Wohnungsbau ist im Rhein-Main-Gebiet aber nicht nur eine Frage des Geldes, sondern vor allem ein Thema der fehlenden Flächen. Das weiß auch der Landtagsabgeordnete Ernst-Ewald Roth:
"Es gäbe genug Menschen, die auch bauen würden, aber es fehlt oft an Flächen. Und deshalb muss sich sehr sorgsam auf den Weg machen und muss sehr sorgfältig schauen, wo kann man – ohne dass man immer mehr Ackerland verbraucht – wo ist mit Verdichtung noch was zu machen und wo liegen tatsächlich Flächen brach, die dafür genutzt werden können. Wo müssen Wohngebiete komplett neu erschlossen werden, so wie das in Wiesbaden über weite Teile ja auch praktiziert wird."
Der 36 Jahre alte Sozialdemokrat Christoph Manjura ist beim Kita-Rundgang mit dabei. Er ist Sozialdezernent im rot-schwarz-grünen Wiesbadener Rathaus-Bündnis, das die Stadt regiert. Die Koalition hat beinahe ein Jahr gebraucht hat, bis sie stand und die handelnden Personen liegen politisch oft weit auseinander. Christoph Manjura ist in der Stadtverwaltung auch für die Bereiche Wohnen und Bildung zuständig. Er erklärt, warum auch leerstehende Gewerbeflächen wie das graue Waschbetongebäude, in dem wir uns befinden, in den letzten Jahren zu Kindertagesstätten umgenutzt wurden. Es sei darum gegangen, den vom Bund beschlossenen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für unter Dreijährige umzusetzen:
"Dementsprechend hatten die Kommunen, die diesen Rechtsanspruch zu gewährleisten haben, die Aufgabe, dass auch irgendwie hinzubekommen. Und dabei eben auch Lösungen zu finden ,die dann eben im Gewerbegebiet liegen. Anderweitig ist es in so dicht besiedelten Flächen nicht immer möglich, freie Plätze zu finden, um eine Kita neu zu bauen. Deshalb gab es auch Umwidmungen. Ganz ideal ist es logischerweise nicht, trotzdem lässt sich in diesem Räumen eine gute pädagogische Arbeit machen."
Zu wenig Wohnungen, zu hohe Umweltbelastung
Dass die SPD in Hessen die Eltern noch weiter finanziell entlasten will, unterstützt der Kita-Träger Arbeiterwohlfahrt selbstverständlich. Doch im Wiesbadener Gewerbegebiet müssen die Eltern – viele auch mit Migrationshintergrund - trotzdem mit ran. Nicht unbedingt mit Geld, aber mit ihren Händen bei der Begrünung der Freifläche hinter der Tagesstätte. Das erklärt Kita-Leiterin Sandra Kirsch den SPD-Wahlkämpfern beim Rundgang:
"Wir haben eigentlich alles, was hier auf dem Gelände ist, selbst gepflanzt, mit den Eltern immer zusammen. Wir haben eine hohe Elternkooperation, alles was wir so gestalten, da binden wir die Eltern mit ein. Einfach, weil das zusammen arbeiten Spaß macht und das man den Kindern zeigt, dass die Elternpartnerschaft einfach auch bei uns ganz wichtig ist."
Eine aktuelle Umfrage von Infratest Dimap zeigt nun auch: Die Hessen sind nach dem Thema Wohnraum vor allem unzufrieden mit der Umweltbelastung, der sie vor allem im Rhein-Main-Ballungsraum ausgesetzt sind. Auch damit muss sich die stark sozialpolitisch ausgerichtete SPD in Südhessen auseinandersetzen – vor allem in Abgrenzung zu den mit der CDU regierenden Grünen. Die AWO-Kita in Wiesbaden macht es im Kleinen schon vor, worum es dabei geht:
"Wir haben Apfel- und Birnbäume gepflanzt, wir haben hinten auch Hochbeete und pflanzen Tomaten und Zucchini an. Wir sind hier ein Gewerbegebiet und wir wollen den Kindern aber auch ein bisschen Natur näher bringen."
Die einstige SPD-Hochburg in Nordhessen
Die evangelische Kirche von Hessisch-Lichtenau steht gleich am Marktplatz. Wenn die Glocken läuten, muss ich meine Gesprächspartner am SPD-Infostand beinahe anschreien, um meine Fragen loszuwerden. Doch Heinz Vogt wirft so schnell nichts aus der Bahn. Er ist ein erfahrener Wahlkämpfer, er ist seit 20 Jahren Vorsitzender des SPD-Ortsvereins in der 12.000 Einwohner-Stadt im nordhessischen Werra-Meissner-Kreis. Der Wahlstand soll in der SPD-Hochburg für die Landtagswahl am 28. Oktober mobilisieren:
"Messbar ist das ja nicht. Aber dass man die Menschen anspricht, unser Slogan heißt ja nicht umsonst ‚Näher bei den Menschen‘, das schlägt sich schon nieder. Und ich denke, wir sind hier in Lichtenau immer noch über 40 Prozent SPD. Früher mal Mehrheit, über 50 Prozent, aber immer noch bei 40 Prozent, wenn man das an Bund und Land misst, dann sind wir ganz stark. Das macht das auch aus, denke ich, weil wir auch öfters mal im Frühjahr da sind. Dann werden wir gefragt: Was ist denn los? Ist Wahl? Dann sagen wir: Ne, wir sind immer da. Nicht nur zur Wahl, sondern auch zwischendurch für den Bürger da."
An diesem Morgen sind rund 15 Mitglieder des SPD-Ortsvereins Hessische-Lichtenau auch für ihren Landtagskandidaten da. Der heißt Knut John, ist 55 Jahre alt und verteilt Postkarten mit seinem Konterfei, da er im Wahlkreis noch nicht so sehr bekannt ist. Ich begleite ihn mit dem Mikro, während er um Wähler wirbt.
Knut John, dunkelblondes kurzes Haar und freundliches rundes Gesicht, ist als Kandidat angetreten um zu zeigen, "dass auf dem Land noch was geht". Dieser Satz steht auf den Karten, die er verteilt. Es fällt John fällt ihm nicht schwer, auf die Leute zuzugehen. Sein Pluspunkt: Er arbeitet in der Verwaltung eines in der Region verwurzelten, ökologisch orientierten Einzelhandelsunternehmens, das in Hessen einen guten Ruf hat.
Kommen mit der neuen Autobahn auch kriminelle Banden?
Wie in Südhessen geht es in den Gesprächen am Wahlstand um Kita-Plätze oder Straßenausbaubeiträge für Hausbesitzer, die die SPD landesweit abschaffen will. Doch es gibt auch ein Thema, das beim Wahlkampf im südhessischen Ballungsraum kaum eine Rolle spielt. Im Kern dreht es sich um die baldige Inbetriebnahme eines neuen Autobahn-Teilstücks zwischen Kassel und Eisenach, das quer durch den Werra-Meissner-Kreis führt und in der Region auch für Ängste sorgt. Werden über die neue Autobahn kriminelle Banden kommen und den bisher recht friedlichen Landkreis heimsuchen? Das fragen sich die Leute, erzählt der SPD-Kandidat Knut John:
"Wir haben ein Sicherheitsthema. Denn die Polizei ist hier deutlich unterbesetzt. Teilweise müssen wir verschiedene Stationen schließen. Da keine Besetzung da ist. Wir haben ein Stückweit auch Bedenken, dass wenn die Autobahn fertig ist, dass die Kriminalität wächst und insofern müssen wir uns hier besser aufstellen, als wir das momentan sind."
Mehr Polizisten – diese Forderung erhebt Knut John auch wegen eines weiteren Problems in seinem dünn besiedelten Wahlkreis. Ich bin einigermaßen überrascht, als er davon erzählt. Im Fachwerkort Witzenhausen, der nur 20 Kilometer von Göttingen entfernt liegt, hat sich nämlich ein Teil der Göttinger autonomen Szene niedergelassen. Das sorge aktuell für Ärger, so John, weil auch dort die Polizeidienststelle unterbesetzt sei:
"Wir haben hier oben in der Tat Notstand mit Linksautonomen, die wir aufgrund der Besetzung nicht in Schach halten können. Das sind Ableger aus dem Bereich Göttingen, die dort ziemlich aufmischen – ich will es mal so sagen."
Ja, man müsse schon ein wenig als "law and order"-Politiker auftreten, wenn man hier im Werra-Meißner-Kreis Mehrheiten gewinnen wolle, glaubt John. Mit links-liberalen Positionen alleine sei man hier nicht glaubwürdig:
"Ja ich denke, wenn wir unsere sozialen Systeme beibehalten wollen, dann müssen wir sie auch schützen. Und da gehört Sicherheit in vielen Bereichen dazu. Und die Menschen sind ja verunsichert, das zeigen die Prognosen, die wir ständig gespiegelt bekommen. Und deswegen müssen wir hier sehr vorsichtig sein und gut aufpassen, dass wir unsere Systeme bewahren und entsprechend auch schützen."
Im Norden gibt es Milch-, aber keine Weinbauern
An einem Blumenstand kommt der SPD-Kandidat mit Tanja Hottenroth ins Gespräch. Die Händlerin lebt in Eschwege-Oberdünsebach und fordert von Knut John ein entschlossenes Engagement für mehr Umweltschutz – vor allem im Kampf gegen die Plastikflut. Der SPD-Landtagskandidat hakt nach:
"Was meinen Sie jetzt speziell?"
"Dass das Plastik richtig verboten wird. Dass man sagen kann: Leute, bringt eure Tüten, die ihr gesammelt hat, einfach selber mit. Nicht jede Wochen neue Tüten geben lassen und Kaffee to go, finde ich das schlimmste, was sie erfunden haben."
"Dass das Plastik richtig verboten wird. Dass man sagen kann: Leute, bringt eure Tüten, die ihr gesammelt hat, einfach selber mit. Nicht jede Wochen neue Tüten geben lassen und Kaffee to go, finde ich das schlimmste, was sie erfunden haben."
Knut John weiß, dass auch die Zukunft der Landwirtschaft die Menschen in seinem Wahlkreis heftig bewegt- gerade jetzt, nach den zurückliegenden Dürre-Wochen. Er fordert schnelle Entschädigung für Ernteausfälle – ebenfalls kein großes Thema in Südhessen und dem Rhein-Main-Gebiet, weil sich dort die Dürre nicht so stark auswirkte. Im Gegenteil: Die Winzer im Rheingau bei Wiesbaden und an der südhessischen Bergstraße erhoffen sich eine großartige Weinlese, die in wenigen Tagen beginnt.
In Nordhessen gibt es keine Winzer. Hier geht es eher um die Milchbauern. Doch Knut John denkt nicht nur an die Landwirtschaft, wenn er für Region in Wiesbaden noch mehr rausholen will:
"Die Politik muss dafür sorgen, dass Behörden aufs Land kommen. Das Behörden dorthin verlegt werden. Wir brauchen hier Arbeitsplätze, wir brauchen eine stabile Wirtschaft, damit wir auch unseren Sozialstaat erhalten können und unsere Aufgaben wahrnehmen können. Und das ist im Zuge der Digitalisierung im Grunde ganz einfach, man muss es nur machen."
Am SPD-Stand in Hessisch-Lichtenau ist auch Doris Pöllmann aktiv. Sie war lange Jahre im Betriebsrat eines großen Medizintechnik-Unternehmens bei Kassel engagiert. Nun ist sie Rentnerin, hilft aber nun beim SPD-Straßenwahlkampf für die Landtagswahl am 28. Oktober. Für sie persönlich gibt es am Ende doch ein zentrales Thema, dass die Menschen im nordhessischen Lichtenau mit den Wiesbadenern verbindet:
"Ja, dass wir genügend Kindergartenplätze brauchen. Denn eins muss uns heute klar sein: Heute müssen beide Partner arbeiten, sonst kommen sie im Alter nicht über die Runden. Und da müssen die Kinder früh genug versorgt sein. Aber nicht abgeschoben. Es müssen qualifizierte Plätze da sein. Und die müssen bezahlbar sein. Ich hatte eben einen jungen Mann da, der hat mir erzählt, unser Junge ist zwei Jahre alt, der geht jetzt in den Kindergarten. U 3, wie man es nennt und der kostet im Monat 300 Euro. Welche junge Familie, was Arbeiter sind kann sich das erlauben?"
Die Forderung nach gebührenfreier Ganztagsbetreuung in der Kita – das ist möglicherweise das Thema, mit dem die SPD sowohl im ländlichen Nordhessen als auch im dicht besiedelten Rhein-Main-Ballungsraum punkten kann.