Frankreichs Bauern in der Krise

Schulden, Burn-out, Einsamkeit

25:50 Minuten
Ein Traktor wirbelt Staub auf auf einem gelben, trockenen Feld
Auch in Frankreich haben Landwirte mit der Trockenheit zu kämpfen - und nicht nur damit. © picture alliance / PHOTOPQR / VOIX DU NORD / MAXPPP / PASCAL BONNIERE
Von Suzanne Krause |
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Dürre, steigende Preise, sinkendes Ansehen machen Bauern zu schaffen. Verschuldung und auch persönliche Krisen nehmen zu. In Frankreich nimmt sich laut offiziellen Statistiken alle zwei Tage ein Landwirt das Leben. Die Regierung versucht gegenzusteuern.
Ende Juli im normannischen Dörfchen Tocqueville, 50 Kilometer landeinwärts von der Hafenstadt Le Havre gelegen. Arnaud Grisel schickt sich gerade an, den Trecker in die Scheune zu fahren. Der schmale Mittfünfziger, blaues T-Shirt, kurze Jeans, hat den Hof 2001 von einem Landwirt übernommen, als der in Rente ging.
Das Anwesen wirkt bescheiden, überaltert. Anfangs setzte Grisel auf Milch- und Fleischproduktion, doch nun ist der große Kuhstall verwaist. Grisel hat umgesattelt, baut jetzt Weizen, Raps, Kartoffeln an. Sein Auskommen ist mager. Aber immerhin ein Auskommen, meint Stacy Vaude, eine junge Frau in Jeans und schwarzem Pulli, die an diesem Tag einen Termin mit dem Bauern hat.
Sie fragt, wie die Ernte läuft, ob Grisel schon Käufer dafür habe. Stacy Vaude arbeitet bei Atex-Réagir - ein regionaler Verein, der vor fast 40 Jahren unter anderem von der Agrar-Sozialkasse MSA, der lokalen Landwirtschaftskammer, der Département-Verwaltung und einer großen Bank gegründet wurde, um Landwirte in Not zu betreuen. Zum Beispiel während der Agrarkrise 2015: Damals wurde die europäische Milchquote abgeschafft, die Milchpreise stürzten in den Keller. Gleichzeitig sorgte der einbrechende Fleischkonsum für Einnahmeverluste bei den Erzeugern.
Diese Krise hätte auch Arnaud Grisel finanziell fast das Genick gebrochen. „Auf dem Konto lief nichts mehr. Da habe ich mich an den Hilfsverein gewandt.“

Hilfe ist auch Entschuldungshilfe

Und der wurde unmittelbar aktiv, erklärt Stacy Vaude. „Als wir den Fall übernahmen, war der Hof hochverschuldet. Die Milchwirtschaft brachte nicht mehr genug ein. Als Erstes konnte der Verein bei der Bank eine Umschuldung erwirken. Denn dass Grisel von uns betreut wird, gilt der Bank als Rückversicherung.“
Rapsfeld mit Strommasten
Statt auf Milch- und Fleischproduktion zu setzen, hat der Bauer Arnaud Grisel umgesattelt auf Weizen, Kartoffeln - und Raps.© picture alliance / PHOTOPQR / JOURNAL DU CENTRE / MAXPP / Pierre DESTRADE
Der Verein handelte damals mit allen Lieferanten Fristen zur Begleichung der Schulden aus. Er überwachte die Buchhaltung. Beriet Grisel beim Umstellen des Betriebs auf Anbau.
„Am 1. Januar 2020 war Schluss mit der Milchwirtschaft", sagt er. "Von heute auf morgen waren alle Kühe weg. Das war schon merkwürdig.“ 
Peu à peu kam der Betrieb wirtschaftlich wieder auf die Füße. Dennoch schaut Stacy Vaude weiterhin mehrmals jährlich nach dem Rechten. Ihr vertraut der Bauer Dinge an, die er sonst kaum je zugeben würde. Weil er seine Arbeit als Berufung ansieht.

Wenn nichts mehr geht

„Mit dem Zuchtbetrieb hätte ich nicht durchhalten können, da machte mein Körper nicht mehr mit. Irgendwann hatte ich dauernd heftiges Nasenbluten, es ging mir schlecht, ich fürchtete schon ein schlimmes Ende. Beim Melken hatte ich keinen Mumm mehr in den Knochen. Es ging einfach nicht mehr.“
„Würden Sie sagen, dass Sie damals eine depressive Phase durchquerten?“, fragt Stacy Vaude.
„Unterbewusst vielleicht schon – bewusst war mir das nicht.“
„Und heute?“, hakt sie nach.
„Inzwischen geht es mir viel besser. Ich habe in der Früh wieder Lust, aufzustehen. Damals fand ich morgens nur noch widerwillig aus dem Bett.“

Es gab auch Selbstmordgedanken

Nur zwischen den Zeilen gibt Grisel zu, manchmal mit dem Gedanken gespielt zu haben, einfach Schluss zu machen. Mit allem - mit seinem Leben. Doch dann dachte er an einen Nachbarn, der sich in der Scheune erhängt hatte. An dessen Familie, die hilflos und heillos verschuldet zurückblieb. Etwas Rückhalt fand der Bauer damals bei einer Handvoll Kollegen. Vor allem aber half ihm Stacy Vaude. Teils kam sie wöchentlich vorbei, beriet und ermunterte ihn. Sie hatte ein offenes Ohr für all seine Sorgen.
Der Bauer Arnauld Grisel und Mireille Lamy-Cadiou, Präsidentin des Vereins Atex-Réagir, der Landwirte in Not betreut, auf Grisels Hof.
Der Bauer Arnauld Grisel und Mireille Lamy-Cadiou, Präsidentin des Vereins Atex-Réagir, der Landwirte in Not betreut.© Suzanne Krause
Die psychologische Unterstützung nehme bei der Betreuungsarbeit des Vereins mehr und mehr Raum ein, sagt dessen Präsidentin Mireille Lamy-Cadiou. Sie ist selbst Bäuerin und seit Langem mit Grisel befreundet. Hier im Département Eure begleite Atex-Réagir derzeit 110 Landwirte in schwieriger Lage, so Mireille Lamy-Cadiou.
„Als der Verein 1983 die Arbeit aufnahm, kamen eher ältere Landwirte zu uns, über 55 Jahre, mit kleinen Betrieben. Dank unseres Beistands gingen einige in Frührente - hocherhobenen Haupts. Heute ist das Gros zwischen 40 und 45 Jahre alt, die Betriebe sind deutlich größer, die Schulden viel höher. Der Berufsstand hat sich professionalisiert. Früher reichten bei uns 50 Hektar Land für den Lebensunterhalt. Heute liegt die Durchschnittsgröße bei 115 Hektar. Die Arbeitsmethoden wurden rationalisiert, die Maschinen modernisiert. Es wurde viel investiert.“

Selbstmordrisiko für Landwirte besonders hoch

Doch die hohen Darlehen und Schulden belasten viele Bauern und Bäuerinnen. Wie sehr, zeigt eine Erhebung, die die Agrar-Sozialkasse MSA vor zwei Jahren veröffentlichte: 2015 wurden im hiesigen Landwirtschaftssektor in der Gruppe der Erwerbstätigen 235 Selbstmordfälle identifiziert. 579, wenn man die Rentner hinzuzählt. Die Studie hält fest: In dieser Branche ist das Selbstmordrisiko fast doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. 

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen: Wenn Sie das Gefühl haben, an einer psychischen Krankheit zu leiden oder Suizidgedanken Sie beschäftigen, wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation befinden oder das auf einen Ihrer Angehörigen zutrifft, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen bzw. anzubieten. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (gebührenfrei) und im Internet unter telefonseelsorge.de.

„Jeder Landwirt kann in eine schwierige Lage geraten,“ sagt David Pereira vom Verband der Landwirtschaftskammern. Er leitete 2017 das Projekt "Résilience", das 3500 angeschlagenen Betrieben über drei Jahre Beistand bot. Auch hier sollten Agrartechniker, Banken, Genossenschaften sowie Branchenverbände Hand in Hand zusammenarbeiten.
Pereira zieht Bilanz: „Nur in einem knappen Drittel der Fälle sind es außergewöhnliche Ereignisse, die einen Hof in Schwierigkeiten bringen. Meistens liegt es an kleinen alltäglichen Vorfällen. Treffen kann es jeden – vom Jungbauern bis zum angehenden Rentner.“

Viele Bauern leben in Armut

Alltag in Frankreich ist: Jeder dritte Bauer hat lediglich 350 Euro pro Monat zum Leben. Dazu kommt, dass gerade konventionell arbeitende Landwirte gesellschaftlich immer schärfer kritisiert werden. Und angesichts sinkender Fleischpreise und steigender Kosten für Energie, Tierfutter, Düngemittel spitzt sich die Lage der Bauern nun auch noch zu. Für 70 Prozent der Bauern in Frankreich sind wirtschaftliche Probleme alles andere als außergewöhnlich, so eine Erkenntnis des "Résilience"-Projekts. Um Verzweiflungstaten vorzubeugen, sind die bei "Résilience" gesammelte Lehren nun im Internet abrufbar, in Form konkreter Tipps.
Dunkler Gewitterhimmel über einem Feld
Angesichts sinkender Fleischpreise und steigender Kosten für Energie, Tierfutter, Düngemittel spitzt sich die Lage der Bauern nun auch noch zu. © picture alliance / PHOTOPQR / LE COURRIER DE L'OUEST / AURELIEN BREAU
„Wenn ein Betrieb Probleme hat, weiß es als Erster der Bankberater", sagt David Pereira, "der Briefträger bekommt es mit, die Nachbarn ebenso. Aber da viele nicht wissen, was tun, sehen sie tatenlos zu. Dabei könnte man dem Bauern sagen: 'Ich sehe, es geht Dir nicht gut, möchtest Du darüber reden? Es gibt Leute, die sogar kleine Probleme lösen können.' So vorzugehen ist besser, als zuzuschauen, wie alles den Bach runtergeht.“
Für das "Résilience"-Handbuch warb Pereira bei einer Veranstaltung des Verbands der französischen Landwirtschaftskammern: Mitte Juni kamen da in Paris Experten und Expertinnen aus dem ganzen Land zusammen, um sich auszutauschen. Solche Treffen sind Teil eines neuen Routenplans, den die Regierung zu Jahresbeginn herausgegeben hatte, um Landwirten in Not zu helfen. Ziel des Austauschs ist, dass sich all die Hilfsinitiativen, die in den letzten Jahren im Land gegründet wurden, besser koordinieren, um Krisenfälle besser vorzubeugen.

Notrufnummer und Netzwerke

„Der Alltag in meinem Betrieb ist die Hölle – ich kann nicht mehr, ich will Schluss machen... Der Alltag in meinem Betrieb ist vielleicht die Hölle – aber das kann man ändern. Nur Mut, das schaffe ich.“
„Dank Agri-écoute ist es möglich, die eigene Geschichte neu zu schreiben.“ - Per Videospot wirbt die Agrar-Sozialversicherung MSA für ihre nationale Notrufnummer für Landarbeiter und Bauern. Die existiert seit acht Jahren, kostenlos und rund um die Uhr. Doch viele, die Hilfe bräuchten, trauen sich nicht, dort anzurufen.
Deshalb setzt man seit 2012 zusätzlich auf sogenannte "Sentinelles": Ehrenamtliche Landbewohner, die regelmäßig Kontakt zu Landwirten haben. "Schildwache"', die in der MSA geschult werden, um im Alltagskontakt mit einem Bauern eventuelle Nöte aufzudecken. Und ihn dann anzusprechen und je nach Sachlage an Experten zu vermitteln, so Catherine Augrand, Vizepräsidentin der MSA-Regionalstelle im Südwesten, im Poitou.
„2021 haben wir 193 Personen ausgebildet. Dieses Jahr sollen es über 200 werden. Unser regionales Netzwerk bietet allen Mitgliedern Treffen und Fortbildungskurse.“

Beim Gespräch brach sie zusammen

Dem Gespür einer Sozialarbeiterin mit "Sentinelle"-Ausbildung verdankt Karine Argoud Puy gewissermaßen ihre Rettung. Die 46-Jährige züchtet in den Mittelmeer-Alpen 40 Ziegen, produziert Käse. Bietet Stallbesuche an. Doch als beim ersten Corona-Lockdown die Kundschaft ausblieb und ihr Mann keinen Saisonjob mehr fand, wurde die Bäuerin bei ihrer Sozialkasse vorstellig. Beim Gespräch brach sie zusammen. Als die Sozialarbeiterin nach eventuellen Selbstmordgedanken fragte, habe sie nur bejahend genickt, erzählt Karine Argoud Puy.
„Da hat mir meine Sozialversicherung gleich zehn Sitzungen beim Psychologen bezahlt. Ich hatte früher schon mal eine Therapie erwogen, bloß das Geld fehlte. Jetzt aber mache ich auf eigene Kosten weiter. Die Sozialarbeiterin schickte mich auch sofort zum Hausarzt, der mich krankschrieb und sie organisierte eine Aushilfe, die auf Kosten der Sozialversicherung eine Woche in meinem Betrieb einsprang.“
Schon vor zehn Jahren hatte die Bäuerin gesundheitliche Sorgen, war ständig müde, hatte neurologische Probleme. Sie ließ sich durchchecken, ergebnislos. Keiner kam auf die Idee, dass ihr die Arbeit über den Kopf gewachsen war. Heute hat Karine Argoud Puy eine Angestellte, auch wenn es finanziell eng ist. Bislang wissen nur wenige, was sie hinter sich hat. Nun aber will die Mittvierzigerin aufklären.

Wenn der Druck zu viel wird

„Zwei befreundete Züchter haben Selbstmordversuche unternommen, das hat mich erschüttert", sagt Argoud Puy. "Jetzt sage ich mir: Je mehr man darüber redet, desto weniger werden zur Tat schreiten. Desto eher können sie Beistand erhalten – wie es bei mir der Fall war, gerade noch rechtzeitig.“
Die Nachfrage nach "Schildwachen"-Ausbildungen wächst. Zu verdanken ist das unter anderem einem im Sommer 2019 herausgekommenen Kinofilm, in Frankreich war er ein Kassenschlager. "Au nom de la terre", "Im Namen der Erde" heißt das Werk von Regisseur Edouard Bergeon. Es handelt von einem Landwirt, der in der Wirtschaftswunderzeit vom Vater den Hof übernimmt und immer weiter ausbaut. Auf Kosten immer höherer Schulden. Eines immer Atem-loseren Rennens. Bis er eines Tages zum Strick greift. Bergeons Film basiert auf einer wahren Geschichte – der seines Vaters.
Der Filmregisseur Edouard Bergeon bei der Eröffnung des 57. Salon International de l'Agriculture in Paris
Regisseur Edouard Bergeon erzählt in seinem Film "Au nom de la terre", "Im Namen der Erde", von einem Landwirt, der zum Strick greift - er basiert auf der Geschichte seines eigenen Vaters.© imago images / Starface / Barbara Neyman / Starface
Der Film habe sie damals geradezu wachgerüttelt, gestand Ophélie Piercon auf dem Podium des Pariser Expertentreffen. Als das Werk herauskam, besuchte sie noch die Landwirtschaftsschule in Djion. Kaum aus dem Kinosaal heraus, beschloss die junge Frau, aktiv zu werden. Ophélie Piercon entwarf mit vier Mitschülerinnen und Schülern eine Aufklärungskampagne zum Thema Selbstmord im Agrarsektor.

Aufklärung ist dringend gefragt

„Unsere Aktion kam sehr gut an, an der Schule und andernorts", erzählt Ophélie Piercon. "Viele Studierende waren erstaunt, zu erfahren, wie schlecht sich mancher Landwirt fühlt. Sie fragten, warum das im Unterricht kein Thema ist, wie man reagieren soll, wenn man einen Bauern trifft, dem es schlecht geht. Sie finden es sehr wichtig, mehr zu wissen.“
Ein Anliegen, dass auch im Routenplan der Regierung steht. Jean-Paul Jouzel begrüßt das. Der Soziologe forscht an der Politikhochschule Sciences Po zum Arbeitsalltag in der Landwirtschaft. Doch der Routenplan habe auch Mängel, moniert Jouzel.
„Da geht es mehr darum, erste Anzeichen für die eventuellen Nöte eines Bauern aufzudecken als darum, ein Agrarsystem zu hinterfragen, das eventuell zum Selbstmord treibt – weil es zum Beispiel dazu antreibt, sich über den Bedarf hinaus auszustatten, sich chronisch zu verschulden und nicht nur finanziell, sondern auch psychisch Not zu erleiden.“
Nach dem Besuch bei Arnaud Grisel trudelt Beraterin Stacy Vaude einige Kilometer weiter bei Anthony Guenet ein. Auch der Milchbauer profitierte fünf Jahre lang vom Beistand des Vereins Atex-Réagir. Nun gehe es wieder aufwärts, sagt Guenet.
„Alleine kriegt man das nicht hin. Oder nur unter großen Schwierigkeiten – mit schlimmen Folgen für die ganze Familie. Mancher geht bis zum Selbstmord. Ich kenne einen, der meinte, damit alle Probleme lösen zu können. Seine Frau und die Kinder hat er dabei im Stich gelassen. Es gibt doch Hilfsvereine, davon sollte man profitieren können.“

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