Lang anhaltende Zweckehe

Shermin Langhoff im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
Vor 50 Jahren wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei unterzeichnet. Das nehmen die Macher des Theaterfestivals "Almanci" in Berlin zum Anlass, die Situation der heute in Deutschland lebenden ehemaligen "Gastarbeiter" auf der Bühne zu zeigen.
Stephan Karkowsky: Der erste Gastarbeiter in Deutschland war Italiener, dann kamen die Spanier, die Griechen, und am 31. Oktober vor 50 Jahren schließlich wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei unterzeichnet. Heute lebt in Berlin die größte türkische Gemeinde außerhalb der Türkei. Kein Wunder also, dass ausgerechnet das Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße dieses Jubiläum aufgreift. Ich begrüße die künstlerische Leiterin Shermin Langhoff, guten Morgen!

Shermin Langhoff: Guten Morgen, hallo!

Karkowsky: Sie starten heute Abend mit einem Festival in die neue Saison, es trägt den Titel "Almanschi" (phonetisch). Spreche ich das richtig aus?

Langhoff: "Almandsche" (phonetisch).

Karkowsky: "Almandsche (phonetisch) – 50 Jahre Scheinehe", das ist der ganze Titel. Das klingt provokant. Was wollen Sie uns damit sagen?

Langhoff: Erst mal wollen wir damit sagen, "Almanci" ist der Deutschländer übersetzt, ...

Karkowsky: Die Türken, die in Deutschland leben.

Langhoff: ... genau so ist es, und zwar ist das auch das Schimpfwort tatsächlich oder das vorurteilsbeladene Wort, das in der Türkei für die Menschen genutzt wird, die eben seinerzeit hierher migriert sind, ...

Karkowsky: Wenn sie mal wieder zurück sind.

Langhoff: ... so ist es, und impliziert natürlich sozusagen den Neureichen, der, ohne Istanbul gesehen zu haben, direkt von seinem Dorf nach Deutschland kommt und dann eben gegebenenfalls mit Mercedes und Co. zurück. Also zum einen ist das eine Empowerment-Strategie, die wir schon lange verfolgen – früher war das mit "Kanak Attak", heute ist das mit "Almanci" –, also Begriffe, Deutungen, Konstruktionen umzukehren, positiv zu füllen und infrage zu stellen. Das ist sicher eine Arbeit, die wir in diesem Theater versuchen zu leisten.

Und das andere, "50 Jahre Scheinehe", ist jetzt nicht mal eine Provokation, sondern eine Realität, also eine Zweckehe war es auf jeden Fall, Scheinehe ist ein bisschen überspitzt, sicher, aber das steht der Kunst ja auch wohl zu, genau solche Überspitzungen zu suchen. Ansonsten beschreibt es die Realität, nämlich jene, dass eine Zweckehe geschlossen wurde zwischen zwei Ländern, die auch noch vermittelt durch die USA zusammenkamen, die eben allen politischen und ökonomischen Strategien der Länder diente.

Karkowsky: Eine Scheinehe wird allgemein verstanden als Ehe, die nicht zu einer Lebenspartnerschaft führen soll, sie soll einem Partner nur einen rechtlichen Vorteil sichern, zum Beispiel das Aufenthaltsrecht in einem Gastland. Spielt denn die Scheinehe heute noch eine so große Rolle, dass Sie das Jubiläum des Anwerbeabkommens darauf reduzieren?

Langhoff: Das ist keine Reduktion, sondern es geht sozusagen da exakt darum, gar nicht sozusagen das, was gemeinhin juristisch unter Scheinehe verstanden wird, zu verhandeln, sondern eben aufzuzeigen, wo vielleicht die wahrhaftigen Scheinehen, die viel mehr Menschen betreffen, vorhanden sind, und es ist ja tatsächlich so, dass diese Lebensgemeinschaft nicht für ewig geplant war, nicht aus Liebe entstand, ...

Karkowsky: Die zwischen Türken und Deutschland.

Langhoff: ... genau, und darüber hinaus tatsächlich nach dem Rotationsprinzip verlaufen sollte, also so lange der, die Braut, Bräutigam gebraucht wird, sollte sie hier ihre Arbeit leisten und anschließend zurückgehen. Das ist eben nicht ganz so aufgegangen, und die Zweckehe hält immer noch an.

Karkowsky: Also es gab, wir müssen das vielleicht auch den Nachgeborenen erklären, eigentlich nur ein befristetes Aufenthaltsrecht mit diesem Anwerbeabkommen. Kommen wir zum Programm: Eröffnet wird das Festival mit einem Stück Ihres Mannes, des Regisseurs Lukas Langhoff, das Stück heißt "Pauschalreise". Was erzählt er uns da?

Langhoff: Genau, also inszeniert hat das Lukas Langhoff, geschrieben hat das Hakan Savas Mican, Hausautor und Regisseur bei uns und daneben auch Filmemacher, im letzten Studienjahr an der dffb, und jetzt hat er sieben Szenen, fiktive Texte für reale Menschen geschrieben, und das Ensemble der Akademie der Autodidakten, Protagonisten der ersten Generation und der dritten, Realprotagonisten wenn man so will, spielen diese Szenen und dieses Stück.

Die Inszenierung ist von Lukas Langhoff, und es wird der Generationenkonflikt verhandelt, und natürlich erleben wir genauso wie bei der zweiten Generation und dritten Generation Stücke, die schon gespielt wurden, nicht nur in Berlin, übrigens auch in New York und Istanbul und ... geladen waren in der ganzen Republik, ... folgt eben der dritte Teil der Trilogie, in der Menschen aus dieser Generation bruchstückhaft Persönliches erzählen, das geschrieben ist aber von einem Autor.

Karkowsky: Es geht um die Kommunikation zwischen denen, die als erste kamen, und denen, die heute da sind.

Langhoff: Genau so ist es, das ist ein ganz wichtiger Punkt, die Auseinandersetzung der Generationen.

Karkowsky: Sie hören im "Radiofeuilleton" Shermin Langhoff, sie stellt uns das Programm ihres Festivals vor im Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Frau Langhoff, Sie nennen diese Art von Kunst seit Beginn Ihres Engagements dort "postmigrantisch". Was ist das eigentlich genau?

Langhoff: Das ist das, was auch postmodern ist, nämlich eine kritische Reflexion der bisherigen Produktion und der bisherigen Rezeption, der bisherigen Aufnahme und des Blickes auf Migration und die Geschichten, die in diesem Kontext stehen, also erst mal wirklich zu sagen, das, was bisher erzählt wurde oder nicht erzählt wurde, das, wie bisher geblickt wurde oder nicht geblickt oder gar nicht eben geblickt wurde, interessiert wurde, das ist unser Punkt, das ist unser Konflikt, den wir haben, und das ist auch das Fehlen, das wir spüren, einer narrativen, der neuen deutschen, einer Geschichtsschreibung, die einen ganzen Bevölkerungsteil außer Acht lässt.

Und das ist der Ansatz, zu sagen, die Geschichten interessieren uns, die dort stattfinden, und auch ihre Erzählung interessiert uns, und ihr Auf-die-Bühne-Bringen. Und da ist eben im Gegensatz zum Film und zur Literatur – wo die Geschichten sehr viel früher schon Eingang fanden durch bestimmte Förderungen, die dort auch früher stattgefunden haben und auch natürlich vielleicht auch ein Stück weit durch die Marktmechanismen –, ... viel früher vorhanden gewesen, obwohl man annehmen möchte, dass im Theater das hoch subventioniert ist, im gesamten Staat verbreitet ist, das hätte auch früher Eingang finden können. Dem war nicht so, und auch dazu diente postmigrantisches Theater, um dort den Blick zu provozieren und Herausforderungen.

Karkowsky: Ist denn Ihr Ziel immer noch Aufklärung, sind Sie in dem Sinne Missionarin?

Langhoff: Ja, ich meine, die Aufklärung ist ja immer so eine Geschichte, die auch durchaus sozusagen ihre Widersprüche und ihre Kritiken gleich mitdenken sollte. Ja, wir sind Aufklärer, aber durchaus eben im Bewusstsein um die Dialektik der Aufklärung und auch schon gepaart mit der Kritik an ihr.

Karkowsky: Wen wollen Sie denn und wen können Sie damit erreichen?

Langhoff: Also es ist so, dass es mittlerweile tatsächlich Erhebungen gibt, wir sind eines der wenigen Off-Theater, die das Glück haben, sehr viel beforscht und ergründet zu werden, ...

Karkowsky: Und ausgezeichnet.

Langhoff: ... ausgezeichnet auch, aber es gibt tatsächlich ganz, ganz viel Academia, es gibt Promotionen mittlerweile, die über das postmigrantische Theater schreiben, sehr viele Master- und Diplomarbeiten, und unter anderem eben auch tatsächlich auch eine Zuschauererhebung, die zu Beginn der vergangenen Saison gemacht wurde. Und nach den Zwischenergebnissen zu urteilen, sind wir ein echtes Stadttheater, das zum einen die Kommune, also direkt den Kiez anspricht, 30 Prozent der Besucher kommen aus Kreuzberg-Friedrichshain, und die anderen 70 Prozent aus ganz Berlin und darüber hinaus natürlich, und darin auch wieder eine Diversität von sozialen Herkünften, von Bildungsabschlüssen und von Alter, ähnlich auch den anderen Theatern übrigens in der Stadt, also die Diversität der Stadtgesellschaft spiegelt sich da.

Karkowsky: Aber ist denn der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund, die zu Ihnen kommen, höher als anderswo, weil Sie Themen, die postmigrantisch sind, anbieten?

Langhoff: Das ist tatsächlich so, wobei das jetzt nicht maßgebliche Riesenzahlen oder Riesenunterschiede sind.

Karkowsky: Sie haben auch nicht Untertitel in deutsch und türkisch?

Langhoff: Nein, nein, um Gottes Willen. Also ich denke, wir sind tatsächlich im Jahre 2011, und das Ansinnen kann nicht sein, neue Zuschauer dadurch zu gewinnen, dass man Programme jetzt in zwei Sprachen herausgibt – das hat man übrigens vor 30 Jahren in Kreuzberg schon gemacht –, sondern das Ansinnen muss sein, glaube ich, eben Themata, Protagonisten auf die Bühne zu stellen, denn Theater ist nicht nur ein politischer Raum, sondern auch eine Identitätsmaschine, wenn man so will. Und wenn ich dort Protagonisten habe, Geschichten, für die ich mich interessiere und die mich neugierig machen, dann läuft darüber vielleicht die Gewinnung von neuen Zuschauern, und das passiert tatsächlich, und in Relation haben wir mehr Menschen mit anderen Pässen oder mit Eltern, die andere Pässe haben.

Karkowsky: Aber dennoch beschränken Sie ja das Programm Ihres Theaters ganz bewusst auf eine gewisse Reihe von Themen. Müssten Sie das noch tun, wenn wir bereits in einer postmigrantischen Gesellschaft leben würden?

Langhoff: Also das ist nicht so, zumindest ist es nicht unser Blick darauf, Sie waren ja selbst noch nicht an unserem Theater, ...

Karkowsky: Touché.

Langhoff: ... und es ist tatsächlich so, dass seit Shakespeare die Themen sich nicht viel gewandelt haben und uns auch natürlich diese ursächlichen, großen, menschlichen Themen interessieren und auch diese verhandelt werden. Hin und wieder ist die Verortung eben so gewählt und die Familie in deren Generationenkonflikt so gewählt, dass sie eben keine typisch biodeutsche Familie ist. Aber die Themen sind keine anderen seit Shakespeare, und was uns bewegt, glaube ich, bewegt auch die ganze Gesellschaft, und es ist nicht spezifisch ein ethnifizierendes Theater oder ein Theater, das sich jetzt eben nur im deutsch-türkischen Kontext bewegt.

Wenn Sie "Schnee" nehmen, nach Orhan Pamuk, wird auch wieder aufgenommen, dann ist das eine freie Bearbeitung, das liegt in Karsberg und es geht ganz, ganz klar um den ökonomischen Konflikt, der eben entsteht, wenn eine Stadt verarmt und sich keine Bäder und sonstiges mehr leisten kann. Und dass dann gegebenenfalls Polarisierungen stattfinden wie eben Religion, auch Sinnsuche stattfindet und eine Zukunftsvision, die da gemalt wird für Deutschland und gar nicht so sehr eben für eine türkische Herkunft oder eine andere ... Alle Moslems in "Schnee" haben auch ganz deutsche Namen bei uns.

Also es ist, denke ich, der Versuch eines Umgangs jenseits von Herkunft und die Beschreibung eines neuen Deutschlands und heute und in Zukunft, immer wieder, und immer wieder aber natürlich uns selbstkritisch reflektierend: Wo gehen wir da hin und was wollen wir mit den Arbeiten?

Und es gibt aber auch ganz explizite Stücke wie "Lö Bal Almanya", was wir auch wieder aufnehmen, was wir explizit für die 50 Jahre produziert haben, frei nach Ettore Scola haben wir eben die letzten 50 Jahre Migration darin bearbeitet, ausschließlich mit Politikerzitaten und mit alter deutscher Volksmusik.

Karkowsky: "Almandsche" (phonetisch), richtig?

Langhoff: Ja.

Karkowsky: "50 Jahre Scheinehe", so heißt das Festival im Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Die künstlerische Leiterin Shermin Langhoff war bei uns, Ihnen vielen Dank!

Langhoff: Danke!

Karkowsky: Heute Abend in "Fazit" hören Sie bereits die erste Kritik zu Lukas Langhoffs "Pauschalreise – Die 1. Generation", der Kritiker ist Hartmut Krug, "Fazit" ab 23 Uhr im Deutschlandradio Kultur.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Preisträgerin und künstlerische Leiterin des Theaters Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg Shermin Langhoff posiert bei der Verleihung des KAIROS-Preises 2011 in Hamburg
Die Preisträgerin und künstlerische Leiterin des Theaters Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg Shermin Langhoff posiert bei der Verleihung des KAIROS-Preises 2011 in Hamburg© picture alliance / dpa / Malte Christians
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