Lange Geheimhaltung des Münchner Kunstfunds ist "empörend"

Moderation: Dieter Kassel |
Der Rechtsanwalt und Kunstexperte Peter Raue hat die bayrischen Behörden scharf kritisiert, weil sie den Kunstfund bei Cornelius Gurlitt rund anderthalb Jahre lang geheim gehalten haben. Um die Eigentumsverhältnisse zu klären, müssten die Werke aus Beständen des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt zügig ins Netz gestellt werden.
Dieter Kassel: Seit wenigen Stunden wissen wir es ein wenig genauer: Nicht 1500, sondern so gut 1420 Kunstwerke wurden in der Münchner Wohnung des 80-jährigen Cornelius Gurlitt gefunden. Wir wissen aber vor allen Dingen auch, dass es sich um sehr, sehr unterschiedliche Kunstwerke handelt – einige, von denen Fachleute glaubten, sie seien längst verloren, einige sogar, von deren Existenz niemand wusste. Das älteste Kunstwerk stammt aus dem 16. Jahrhundert und mindestens eines ist erst 1949 ersteigert worden, befand sich also vor 45 nicht im Besitz der Familie Gurlitt.

Damit ist zumindest eines klar: Es wird sehr, sehr schwierig werden, alle Kunstwerke zuzuordnen und zu entscheiden, wem und wohin sie gehören. Wie man das überhaupt machen kann, darüber wollen wir jetzt mit Peter Raue reden, er ist Rechtsanwalt unter anderem mit den Schwerpunkten Kunstrecht und Restitutionsrecht und selber auch Kunstsammler und -förderer. Schönen guten Tag erst mal, Herr Raue!

Peter Raue: Ich grüße Sie!

Kassel: Was überwiegt denn im Moment bei Ihnen: die Freude darüber, dass so ein großer Kunstschatz überhaupt entdeckt werden konnte, oder die Sorge darüber, wie es mit den Werken nun weitergehen soll?

Raue: Also natürlich freue ich mich, wie jeder Mensch, der sich an Kunst interessiert, dass plötzlich Werke auftauchen, die man nicht einmal kannte, wie dieser Matisse, den wir heute in der Pressekonferenz gesehen haben. Auf der anderen Seite habe ich eigentlich weniger Sorge als eine gewisse Form von Zorn, wie die Behörden in Bayern mit diesem Fund umgehen. Das kennen die nun seit eineinhalb oder zwei Jahren, so genau ist mir das nicht helle, und man hat bis heute das verheimlicht, und wenn nicht zufällig das herausgekommen wäre, dann wäre das wahrscheinlich in den nächsten Jahren noch unter der Decke gehalten worden.

Kassel: Nun hat man, entschuldigen Sie, ja versucht, das zu erklären, heute in der Pressekonferenz. Man ist ja auch sehr unzufrieden, denen gefällt das nicht, dass es jetzt öffentlich ist, und man hat gesagt, man wolle eben ganz in Ruhe selber herausfinden, wem die Kunstwerke gehören und sich noch nicht mit irgendwelchen Forderungen herumschlagen.

Raue: Ja, das finde ich nachgerade dreist. Ich kann es nicht anders sagen. Da gibt es jüdische Familien, denen von den Nazis die Bilder geraubt wurden oder die über Nacht die Wohnung verlassen haben, um ihr armes Leben zu retten, und man verrät denen nicht, dass diese Bilder da sind und sagt, jetzt forschen wir erst mal, wem die Bilder gehört haben können – was bei 1400 Bildern ein Jahrzehnteprojekt ist.

Das einzig Vernünftige wäre das, was wir heute en miniature gesehen haben mit sechs oder sieben Bildern: alle 1500 Bilder ins Internet zu stellen. Da gibt es Plattformen, die bekannt sind, Art Loss und Lost Art, das sind zwei Plattformen in Deutschland und in England, da stellt man die Bilder ein und dann melden sich die Eigentümer, die früheren Eigentümer und sagen: Dieses Bild hing bei uns in München oder in Hamburg oder wahrscheinlich in Berlin in der Wohnung und wir mussten es zurücklassen. Der Weg, den die gehen, der ist so: Das machen mir alles selber, mir sin mir – das finde ich empörend.

Kassel: Es hieß ja sogar heute, nach Lost Art zum Beispiel ist gefragt worden in der Pressekonferenz, und da sagte dann die Kunsthistorikerin, die jetzt seit ungefähr einem Jahr schon beschäftigt ist mit dem Analysieren dieser Bilder, sagte: Nein, also bei Lost Art zum Beispiel – man kann es ja umgekehrt machen, gucken, was da gesucht wird –, da habe man noch gar nicht geguckt.

"Andere könnten mitforschen, wenn die Bilder im Netz stünden"
Raue: Ja, das verstehe ich ja auch nicht. Ich meine, das sind zwei Plattformen, mit denen wir, die wir mit Restitutionsfragen umgehen, täglich besuchen sozusagen, und dann muss man mit denen eine Vereinbarung treffen: Vielleicht macht man sogar für diesen Fund eine eigene Plattform auf. Aber wenn man die 1500 Arbeiten – von denen ich ja nicht weiß, wie viele sind eigentlich Drucke, wie viele sind Originale, was ist Papier, was sind Bilder –, wenn man die mal ins Internet stellen wollte, dann könnten auch andere mitforschen, dann könnten die Museen sagen, das hing bei uns im Museum bis 1933 oder 34, es könnten jüdische Familien kommen und könnten sagen, ich habe hier ein Foto, da sehen Sie, wie das über dem Sofa meiner Mutter hing. Das wird alles verhindert, weil die sagen: Wir forschen selbst. Das ist unglaublich.

Kassel: Lassen Sie uns mal ein bisschen über Kategorien reden, in die sicherlich einige der Bilder fallen, auch wenn wir beide nicht beurteilen können, welche denn konkret im Moment. Sie haben über Museen gerade gesprochen. Das stellt sich ja der Laie noch mit am einfachsten vor. Wenn Bilder mit sogenannter entarteter Kunst von den Nationalsozialisten aus Museen entfernt wurden und es gibt diese Museen heute noch oder es gibt zumindest eindeutige Rechtsnachfolger, ist es dann so simpel, wie ich mir das vorstelle, dass die Museen sagen können, gebt es uns einfach zurück?

Raue: Es ist leider sogar der kompliziertere Fall, die Museen. Das fängt schon damit an, dass immerhin 20.000 Werke von den Nazis beschlagnahmt worden sind. Da kann man sich mal vorstellen, wie schwer es ist, da eine Übersicht zu bekommen. Und das Zweite ist, dass es sehr fraglich ist, ob diese Museen überhaupt einen Restitutionsanspruch haben, denn das war ja immerhin der deutsche Staat, wenn auch in seiner größten Perversion, der diese Bilder aus den Museen verbannt hat. Der Fall ist nur deswegen so speziell, weil der Dieb, wenn ich das mal so sagen darf, nämlich Herr Gurlitt, derjenige ist, der die Arbeit noch besitzt, und ob man da nicht sagen kann, der Dieb muss jedenfalls zurückgeben. Er muss nicht zurückgeben, wenn das heute jemand im Jahr 1970 gekauft hat, dann können die Museen keine Restitution verlangen, das ist unstreitig. Aber der Fall ist höchst kompliziert und meines Erachtens auch nicht ganz leicht zu entscheiden.

Kassel: Vielleicht noch konkreter, Herr Raue, Entschuldigung, weil für Nicht-Juristen das immer so ein bisschen allgemein klingt: Nehmen wir ein Bild, das nach 1938, nachdem die Nazis auch ein entsprechendes Gesetz, das natürlich dann gültig war, erlassen hatten, danach wurde ein Bild, Bild X, aus einem deutschen Museum entfernt. Dies landete nun bei Vater Gurlitt, bei Hildebrand Gurlitt, der die Aufgabe hatte, es zu verkaufen. Hat er irgendwie nicht gemacht, und in der Folge hat es sein Sohn bekommen. Nun liegt es bei der Münchner Staatsanwaltschaft. Wem gehört denn das jetzt?

Raue: Das ist eine schwierige Frage. Das fängt schon damit an, dass wir entscheiden müssen, ob der Akt damals überhaupt rechtmäßig war, ob das Gesetz nicht gegen, wir nennen das, den ordre public, das heißt, gegen sozusagen den Anstand aller billig und gerecht Denkenden verstößt und deshalb unwirksam ist. Und das ist eine schwierige Frage, da gibt es auch unterschiedliche Meinungen. Ich denke: Der Herr Gurlitt kann jedenfalls nicht der Eigentümer geworden sein, weil er es – jetzt muss ich es juristisch sagen – nicht ersessen hat, man ersitzt ein Bild, wenn man es 30 Jahre lang im guten Glauben, dass man der rechtmäßige Besitzer ist, hat. Gurlitt wusste natürlich ganz genau, dass er mit seinen kriminellen Partnern selbst kriminell verfahren ist und die Bilder behalten hat.

Kassel: Stefan Koldehoff, Kunstexperte hier bei uns in der Redaktion des Deutschlandradios, hat in einem Kommentar in diesem Zusammenhang festgestellt, es gebe da im Prinzip Mängel in der Gesetzgebung. Er fordert neue Gesetze der Bundesrepublik Deutschland, die das konkret neu sortieren sollen, sagt sogar, das könnte und sollte Thema sein für die Koalitionsverhandlungen von SPD und Union. Sehen Sie so eine Gesetzeslücke auch?

Raue: Ja, die existiert natürlich, diese Gesetzeslücke, weil es kein Gesetz gibt, das das regelt. Ob heute noch ein solches Gesetz machbar ist, ob das nicht gegen das Rückwirkungsverbot verstößt, weil es in abgeschlossene Sachverhalte eingreift, das kann ich aus dem Stehgreif nicht beurteilen. Die Bundesregierung, und zwar jeder Couleur, die wir hatten, hat es ja immer gescheut, diese Fragen gesetzlich zu regeln. Wir haben ja auch hinsichtlich der Rückgabeverpflichtung von, wie wir das nennen, jüdisch befangenen Bildern, also Bildern, die jüdischen Familien abhanden gekommen sind, da haben wir auch keine gesetzliche Regelung. Wir haben nur die Holocaust-Vereinbarung.

Kassel: Dann bleiben wir doch bei diesem Fall, der ja ein bisschen unkomplizierter sein muss, weil Sie schon gesagt haben, das mit den Museen ist das Komplizierteste. Aber der zweithäufigste Fall, denn wir wahrscheinlich finden werden da in München, ist ja eben der, dass Bilder aus jüdischem Privatbesitz rechtlich gesehen tatsächlich gekauft worden sind zur NS-Zeit, aber sie wurden gekauft zu einer Zeit, wo extremer Druck ausgeübt wurde auf die jüdischen Besitzer, und schon damals wertvolle Gemälde wurden zu Spottpreisen gekauft, zehn Reichsmark und Ähnliches. Aber trotzdem ist es doch wohl, dass der Kauf juristisch im Prinzip bis heute gültig ist.

Raue: Das ist alles schwierig. Der Kauf ist gültig, aber man hat sich darauf geeinigt oder … Na, das ist eine schwierige Frage, weil das ganz unterschiedlich ist. Manchmal mussten die Juden die Bilder verkaufen und dann das Geld für die sogenannte Reichsfluchtsteuer wieder hergeben, das heißt, damit sie ausreisen durften, wurde ihnen das Geld genommen. Teilweise haben die Auktionshäuser mitgewirkt, da ist die Kaufsituation höchst problematisch. Die sogenannter Washingtoner Holocaust-Erklärung aus dem Jahr 98 – erstaunlich spät –, die reguliert ja gerade, dass es eine Rückgabepflicht gibt, die sich aber nur an den Staat richtet, sodass jetzt die Frage ist: Nachdem die Bilder beschlagnahmt sind, ist nun der Staat, die Bundesrepublik Deutschland, der Ansprechpartner für diese Forderungen. Wenn das der Fall ist, dann haben die Familien eine hohe Chance, die Arbeit zurückzukriegen.

Kassel: Nun haben wir gehört von mindestens einem Werk aus dem 16. Jahrhundert, wir haben gehört von mindestens einem Werk, das Hildebrand Gurlitt, also der Vater des Mannes, bei dem das jetzt gefunden wurde, 49 erst ersteigert hat. Das sind nun ja Werke, die mit hoher Wahrscheinlichkeit legal in den Besitz des Erben Cornelius Gurlitt gekommen sind. Aber ich habe natürlich das Bauchgefühl: Es ist trotzdem moralisch nicht gerecht, dass er diese Bilder besitzt. Aber da kann man vermutlich juristisch gar nichts machen.

"Der bayrische Staat kann die schwierige Gemengelage nicht aufklären"
Raue: Da bin ich gar nicht sicher. Also nehmen wir mal diesen merkwürdigen Fall aus dem Jahr 49, wo er angeblich ein Bild ersteigert hat, raus. Dieses Bild, diese Arbeit aus dem 16. Jahrhundert oder Spitzweg oder Caspar David Friedrich, das sind natürlich Arbeiten, die den jüdischen Familien weggenommen worden sind. Es gibt ja zwei Gruppen: Das eine sind die sogenannten Entartete-Kunst-Bilder, die deswegen beschlagnahmt worden sind, weil sie als entartet galten – Beckmann, Dix, Grosz, all die Großen. Und das andere sind die Arbeiten, die den Juden weggenommen worden sind – da war es den Nazis egal, ob das ein Rembrandt, ein Tizian oder ein Beckmann ist. Wir haben eine schwierige Gemengelage, und die kann jedenfalls der bayrische Staat nicht aufklären, wenn er nicht die Öffentlichkeit in die Aufklärungsarbeit einbindet.

Kassel: Ich habe noch eine Frage, Herr Raue, an den Fachanwalt: Es ist ja nun so gewesen, dass der Vater Hildebrand Gurlitt mindestens einmal in seinem Leben konkret gelogen hat. Er ist nämlich gefragt worden nach dem Krieg, ob er noch Kunstwerke besitzt aus seiner Tätigkeit, und er hat gesagt, ist in Dresden, beim Bombenangriff, beim Luftangriff auf Dresden verbrannt. Das war nun eine Lüge, das wissen wir heute. Kann man das juristisch irgendwie verwerten, wenn es um dies Kunstwerke geht?

Raue: Das glaube ich nicht, das glaube ich nicht. Also sozusagen, der rechtliche oder vielleicht sogar strafrechtliche Aspekt, man könnte ja sagen, dadurch, dass er das gesagt hat, hat der Staat darauf verzichtet, weiter nachzuforschen – vielleicht ist es eine Unterschlagung, vielleicht ist es ein Betrug. Aber das ist natürlich alles verjährt.

Kassel: Kommen wir mal auf diesen Satz zurück, der heute gefallen ist in der Pressekonferenz, Zitat Staatsanwalt, Oberstaatsanwalt: "Der Beschuldigte Cornelius Gurlitt unternimmt nichts, um die Kunstwerke zurückzuerhalten." Das ist ein 80-jähriger Mann, gibt ein paar Hinweise darauf, dass er vielleicht auch nicht völlig im Besitz seiner geistigen Kräfte ist. Wenn der nun wirklich sagt, ich möchte das alles nicht mehr haben, behaltet es – wem gehört es denn dann zunächst mal?

Raue: Tja, Sie stellen Fragen wie im Staatsexamen. Wenn er sagt, ich schenke das dem Staat, dann haben wir gar kein Problem. Wenn er sagt, behaltet das, dann hat er sich davon verabschiedet und dann ist jedenfalls rechtmäßiger Besitzer – wir Juristen unterscheiden ja leider auch noch Eigentum und Besitz –, dann ist der rechtmäßige Besitzer jedenfalls der Staat, und dann hätten wir eine relativ einfache Situation: Dann könnte er die jüdischen Familien, die Ansprüche stellen, befrieden und vielleicht auch den Museen ihre Arbeiten zurückgeben.

Kassel: So, jetzt kommt das Zweite Staatsexamen, das Erste haben Sie bestanden, Herr Raue: Wenn es nun so weitergeht, entweder so, wie die Bayern wollen – in diesem Tempo, wir sagen keinem was –, oder auch so, wie Sie das vorschlagen – was ist realistisch, wie viele Jahre wird das dauern, eh diese Kunstwerke sortiert sind?

Raue: Das wird Jahre dauern, aber man kann das ja auch sozusagen abschichten. Wenn man jetzt die Bilder, was eine unabweisbare Forderung ist, wenn die ins Internet gestellt werden, dann werden sich in den nächsten vier, fünf Jahren sicher sehr, sehr viele Familien melden. Und dort, wo die Dinge klar sind, soll man so schnell wie möglich zurückgeben. Und dann wird man irgendwann mal sagen, jetzt haben wir ein Konvolut, für das sich niemand meldet, das stellt man dann in ein Lost-Art-Register und gibt es dann zur Verwahrung in die Museen, die diese Meisterwerke ausstellen können. Nicht der schlechteste Gedanke.

Kassel: Sagt der Fachanwalt und Kunstsammler Peter Raue zu den in München gefundenen Werken und den juristischen Folgen, die das jetzt haben sollte, müsste, könnte. Herr Raue, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Raue: Wunderbar, ich Ihnen auch. Danke!

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