Eine Lange Nacht über Arnold Schönberg

Das Dröhnen der heiligen Stimme

Österreich - 20. Jahrhundert. Arnold Schönberg (Wien, 1874 - Los Angeles, 1951), in Österreich geborener amerikanischer Komponist in einem historischen Porträt.
Zeitlebens ein Suchender: der Komponist Arnold Schönberg (1874-1951) © Getty Images / De Agostini / A. Dagli Orti
Von Egbert Hiller |
Das Menschliche und das Schöpferische sind bei Arnold Schönberg zutiefst miteinander verbunden. Er spürte den Atem der Geschichte und die Geschichte der Musik beeinflusste er wie wenig andere. In seinen Werken spiegelt er Phänomene, Widersprüche und Schrecken seiner Zeit wider.
Am 13. September 1874 wird Arnold Schönberg in Wien geboren. Sein Vater ist Schuhmacher. Erste musikalische Erfahrungen und Kompositionsversuche datiert Schönberg im Rückblick selbst auf die frühen 1880er-Jahre:
„Ich habe mit acht Jahren angefangen, Geige zu lernen, und fast zur gleichen Zeit habe ich zum ersten Mal komponiert. Alle Kompositionen, die ich vor meinem siebzehnten Jahr geschrieben habe, sind nichts als Imitationen solcher Musik, die mir zugänglich war. Die einzigen Quellen waren Violinduette und Arrangements von Opernpotpourris für zwei Violinen, wozu noch die Musik gerechnet werden darf, die ich durch die Militärkapellen kennenlernen konnte, die in öffentlichen Gärten Konzerte gaben.“

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In einer Kritik der Uraufführung seiner sinfonischen Dichtung „Pelleas und Melisande“, seiner ersten abgeschlossene Orchesterkomposition, heißt es:
„Es ist das stärkste Stück, welches in letzter Zeit wider die Musik ausgespielt wurde. Aus den Tiefen der Holzbläser kriecht ein wurmartiges unbedeutendes Motiv, windet und krümmt sich, versucht zu wachsen und fällt wieder zurück. Damit ist der thematische Inhalt des „Werkes“ schon erschöpft und nun beginnt ein betäubender Lärm, ein sinnloses Toben aller Instrumente. Die Gesetze der musikalischen Logik sind gelöst, Melodie und Harmonisierung in Stücke geschlagen, und aus dem entfesselten Orchester dringt ein bald erstarkendes, bald abnehmendes Geräusch von unartikulierten Lauten, deren Dissonanzen die kühnsten Erwartungen übertreffen. Ist es Wahnsinn, hat es doch Methode.“
Noch fast 45 Jahre später erinnert er sich an den Wirbel, den „Pelleas und Melisande“ verursacht hat:
Die Uraufführung 1905 in Wien unter meiner eigenen Leitung rief große Unruhe beim Publikum und selbst bei den Kritikern hervor. Die Kritiken waren ungewöhnlich heftig, und einer der Kritiker schlug vor, mich in eine Irrenanstalt zu stecken und Notenpapier außerhalb meiner Reichweite aufzubewahren ...“
Mit diesen Vorbehalten hat Schönberg oft zu kämpfen.
„Neue Musik ist niemals von allem Anfang an schön. Sie wissen, dass nicht nur Mozart, Beethoven und Wagner mit ihren Werken anfangs auf Widerstand stießen, sondern dass auch Verdis „Rigoletto“, Puccinis „Butterfly“ und sogar Rossinis „Barbier von Sevilla“ ausgepfiffen wurden, und dass „Carmen“ durchgefallen ist.“
Die meisten seiner Zeitgenossen empfinden auch den Beginn seiner 1906 komponierten Kammersinfonie Nr. 1 nicht als schön, sondern als Provokation. Heute gilt er mit der Reihe aufsteigender Quartintervalle als Hymne und Signal für den Aufbruch in die Neue Musik.

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„Viele zischten und pfiffen, viele applaudierten. Festzuhalten wäre nur das Eine. Herr S. ereignet sich in Wien. Er macht wilde, ungepflegte Demokratiegeräusche, die kein vornehmer Mensch mit Musik verwechseln kann.“
Der „Herr S.“ ist natürlich niemand anders als Arnold Schönberg. Dass es bei der harschen Kritik an der ersten Kammersinfonie nicht allein um die Musik geht, verdeutlicht die Herabsetzung der Klänge als „ungepflegte Demokratiegeräusche“. Die Gegner Schönbergs verteidigen ein Weltbild, das kurz vor dem Ersten Weltkrieg unweigerlich im Einsturz begriffen ist. Die Kammersinfonie Nr. 1 steht an der Schwelle zur atonalen Musik, und der Untergang der Dur-Moll-Tonalität wird von den allermeisten Zeitgenossen Schönbergs stellvertretend als „Untergang des Abendlandes“ wahrgenommen.

Gedichte und Musik

Aber Schönberg geht es nicht nur darum, neue Formen zu erkunden, er verarbeitet auch persönliche Erlebnisse: Das Thema Tod erlangt um 1908 zentrale Bedeutung. Die Liebesbeziehung seiner ersten Frau Mathilde mit dem Maler Richard Gerstl löst bei ihm Selbstmordgedanken aus. Selbsttötung begeht aber nicht er, sondern Richard Gerstl – nachdem die Affäre aufgedeckt und er aus dem Freundeskreis um Schönberg ausgeschlossen wird. In seinem Opern-Einakter „Erwartung“, zu dem die Ärztin und Dichterin Marie Pappenheim das Libretto schreibt, vertont Schönberg einen halluzinatorischen Angsttraum: Eine scheinbar verwirrte Frau sucht im Wald nach ihrem Geliebten und findet ihn schließlich tot.

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Schönberg arbeitet auch in seinen folgenden Werken immer wieder mit Texten: „Ich bin ein Funke nur vom heiligen Feuer. Ich bin ein Dröhnen nur der heiligen Stimme“ – diese letzten Zeilen aus Stefan Georges Gedicht „Entrückung“ geraten für Schönberg zum Sinnbild für einen „Zwang des Ausdrucksbedürfnisses“, der an höhere Mächte und die Kraft des Unbewussten appelliert. Den Text verarbeitet er in seinem zweiten Streichquartett und wieder ruft die Wiener Uraufführung im Dezember 1908 einen Tumult hervor. Später erklärt er:
Arnold Schönberg (1874-1951) in seinem Studio 1911.
Als "ungepflegte Demokratiegeräusche" wurden die Kompositionen Schönbergs anfangs diffamiert.© imago / Everett Collection
„Nach den ersten Takten des zweiten Satzes begann ein größerer Teil des Publikums zu lachen und hörte auch bis zum dritten und vierten Satz nicht mehr auf, die Aufführung zu stören. Aber am Ende des vierten Satzes passierte etwas Ungewöhnliches: Die lange Coda wurde ohne weitere Zwischenfälle aufgenommen. Vielleicht haben sogar meine Feinde und Gegner an dieser Stelle etwas gefühlt.“
Der Durchbruch zur atonalen Musik, das Vordringen in bis dahin unerschlossene Ausdrucksbereiche verstärkt Schönbergs künstlerische Vereinsamung, gegen die er aber mit einem „Zwang des Ausdrucksbedürfnisses“ aufbegehrt. Seine Kompositionen werden für ihn zum Spiegel des Inneren, zu Protokollen des Unbewussten – und dass gerade er den Schritt in die Atonalität vollzieht, hat auch damit zu tun, dass er weitgehend Autodidakt ist. Als Autodidakt entgeht er einer nachhaltigen akademischen Prägung und kann sein Verhältnis zur Tradition selbst definieren. Aber damit steht er nicht allein, sondern findet Gleichgesinnte, die nach neuen Ausdrucksformen suchen, etwa den Maler Wassily Kandinsky oder den Architekten und Architekturtheoretiker Adolf Loos:
„Wir haben das Ornament überwunden, wir haben uns zur Ornamentlosigkeit durchgerungen, die Zeit ist nahe, die Erfüllung wartet unser. Bald werden die Straßen der Städte wie weiße Mauern glänzen! Wie Zion, die Heilige Stadt, die Hauptstadt des Himmels. Dann ist die Erfüllung da.“
In seiner Publikation „Ornament und Verbrechen“, erschienen 1910, verknüpft Loos mystisch-religiöse Gedanken mit der Propagierung einer schnörkellosen und sachlichen Architektur, und diese Verbindung von spiritueller Energie und kühler Konstruktion wird auch für Schönberg immer wichtiger. Mit seiner radikalen Absage an Historismus und Jugendstil gehört Adolf Loos zum Kreis der Wiener „Avantgarde“, ebenso wie der Physiker und Philosoph Ernst Mach und der Schriftsteller Hermann Bahr. Ernst Mach gilt als Wegbereiter der Relativitätstheorie Albert Einsteins und beeinflusst mit seinen „Beiträgen zur Analyse der Empfindungen“ auch Sigmund Freud. Weitere bekannte Namen der „Wiener Avantgarde“ sind etwa der Maler Oskar Kokoschka und der Satiriker und Dichter Karl Kraus, der gegen die Kunst des schönen Scheins polemisiert.
Ganz unterschiedliche Persönlichkeiten sind in einem Beziehungsnetz vereint. Schönberg ist Teil dieses Netzes, was ihm in Zeiten der persönlichen und künstlerischen Krise Halt gibt und seinen Glauben an sich stützt. Die Aufwertung, die er dadurch erfährt, gibt er auch an seine Schüler weiter. Alban Berg und Anton Webern sind die herausragenden Vertreter der ersten Generation von Schönberg-Schülern.

Musik, Religion und Realität         

Ob rechts, ob links, vorwärts oder rückwärts, bergauf oder bergab – man hat weiterzugehen, ohne zu fragen, was vor oder hinter einem liegt.“
Das fordert der Erzengel Gabriel am Beginn der „Jakobsleiter“. Den Text verfasst Schönberg in den Jahren 1916/17. Klanglich schwebt ihm nicht weniger als die Vertonung des himmlischen Raums vor. Angeregt dazu wird er von dem Schlusskapitel „Die Himmelfahrt“ aus Honoré de Balzacs Roman „Seraphita“.

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Mitten hinein in die Beschäftigung mit mystischen Vorstellungen platzt die Realität, denn Schönberg muss die Arbeit an dem Oratorium unterbrechen und wird zum Militärdienst einberufen. Ein Fronteinsatz bleibt ihm erspart. Aber er muss Orchesterdienst in einer Militärkapelle leisten. Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Welt um Schönberg herum eine andere, was sich auf sein Selbstverständnis und sein Komponieren auswirkt. So schreibt er an Wassily Kandinsky:
Sie wissen wohl, dass auch wir einiges hinter uns haben: Hungersnot! Die war recht arg! Aber vielleicht, denn wir Wiener haben scheinbar viel Geduld, vielleicht war das Ärgste doch die Umstürzung all dessen, woran man früher geglaubt hat. Das war wohl am schmerzhaftesten.“

Von Berlin nach Los Angeles

Auf Schönberg warten weitere unangenehme Erfahrungen: Ab 1925 leitet er die Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste in Berlin, von der er sich im März 1933 erzwungenermaßen zurückzieht. Schon im Mai reist er aus Berlin ab. Zwischenstation ist Frankreich: In Paris bezeugt der Maler Marc Chagall Schönbergs Wiedereintritt in die jüdische Religionsgemeinschaft – nachdem er 1898 zum Protestantismus konvertiert war. Seine Beschäftigung mit der jüdischen Religion findet später vor allem in der unvollendet gebliebenen Oper 'Moses und Aaron' ihren Niederschlag.
Der Komponist Arnold Schönberg steht im fortgeschrittenen Alter vor einem abstrakten Hintergrund.
Direkte Ansprache an Gott: Schönbergs letztes, unvollendetes Werk, der "Moderne Psalm".© imago images / United Archives
Am 31. Oktober erreicht Schönberg mit dem Schiff New York. Aber er bleibt nur kurz an der Ostküste: Auf Vermittlung von Freunden erhält er in Los Angeles eine Gastdozentenstelle für Komposition. Er hat eine Klasse von sechs Privatschülern, von denen einer John Cage heißt, der in späteren Jahren ebenfalls die Musikwelt gehörig aufmischt. Dort lehrt er bis zu seiner Pensionierung 1944, anschließend gibt er Privatunterricht, um sich finanziell über Wasser zu halten. Seit Mai 1936 wohnt er in einem Haus in einem Vorort westlich von Los Angeles. Die Stadt ist ein Anziehungspunkt für Emigranten, und allein schon dieser Kreis, zu dem etwa Bertolt Brecht, Franz Werfel, Theodor W. Adorno, Ernst Krenek und Hanns Eisler gehören, hält die Erinnerung an das Leben in Europa wach.
Schönberg wird 1941 amerikanischer Staatsbürger und reagiert musikalisch auf die Geschehnisse in Europa. „Ein Überlebender aus Warschau“ für Sprecher, Männerchor und Orchester von 1947 ist seine Reaktion auf den Holocaust. Der Text, den Schönberg selbst verfasst, basiert teilweise auf dem Augenzeugenbericht eines polnischen Juden aus dem Warschauer Getto.

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Sein offiziell letztes Werk, der „Moderne Psalm“, bleibt unvollendet. Der Text enthält eine direkte Ansprache an Gott, aber auch einen Diskurs über Gott. Ein Resümee in seiner Auseinandersetzung mit dem Gottesgedanken stellt der „Moderne Psalm“ aber nicht dar. Vielmehr signalisiert das Fragmentarische Offenheit und Grenzüberschreitung. Schönberg bleibt bis zu seinem Tod 1951 ein Suchender und Forschender. Er transformiert die Schwingungen seiner Zeit und Welt in Klang – und er bringt sie mit seinen Klängen selbst zum Schwingen. Sein Einfluss reicht bis in die Gegenwart.

Eine Produktion von Deutschlandfunk Kultur/Deutschlandfunk 2022. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.

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