Lange Nacht über die Familie Wittgenstein

Wir sind in unserer Haut gefangen

Schwarz-Weiß-Aufnahme von Ludwig Wittgenstein, vor einer zerkratzten Wand stehen.
Der vielleicht bekannteste Spross der Familie Wittgenstein - der Philosoph Ludwig Wittgenstein auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1947 © picture alliance / dpa / Wittgenstein Archive Cambridge
Von Barbara Giese |
Begabt und diszipliniert waren alle acht Kinder des Stahlmagnaten Karl Wittgenstein, der sich bereits 1898 aus dem Geschäft zurückzog. Für ihn und seine Kinder galt immer, den bequemen Weg zu vermeiden und den schwierigsten zu wählen - in einer Zeit, die viele Zerrüttungen bereithielt.
Die Familie Wittgenstein war ökonomisch und kulturell bedeutsam im Wien des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Vater Karl und die Mutter Leopoldine stammten aus früh assimilierten jüdischen Familien. Karl begründete das erste österreichische Eisen-Kartell und erwarb sich als Stahlmagnat unvorstellbaren Reichtum. Er zog sich schon mit 52 Jahren aus dem Stahlgeschäft zurück und investierte in Immobilien, Aktien und Anleihen. Durch geschickte Anlagepolitik vergrößerte sich das Familienvermögen auch noch nach seinem Tod, während des Ersten Weltkrieges.
Der Anspruch in der Familie war immens hoch. Es galt immer, den bequemen Weg zu vermeiden und den schwierigsten zu wählen. Die Älteste der acht Kinder, Hermine Wittgenstein, war Ratgeberin beim Aufbau der Kunstsammlung. Sie notierte auch die "Familienerinnerungen" für die nächste Generation.
Schicksale auf verschiedene Weisen miteinander verbunden
Eine andere Tochter, Margarethe, stand für Gustav Klimt Modell. Sie selbst war nicht zufrieden mit der Darstellung und ließ diese von anderen Malern ändern. Das Bild hängt heute in der Neuen Pinakothek in München. Der älteste Sohn Hans verschwand spurlos. Ein anderer schluckte Gift. Die beiden jüngsten Söhne Paul und Ludwig suchten sich mit ungeheurer Energie eigene Wege.

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Der Aufstieg von Karl Wittgenstein
Karl Wittgenstein war keine 18 Jahre alt, als er sein Elternhaus heimlich verließ. Er war ein eigensinniges Kind. Einmal hatte er seine Geige verpfändet, um eine Glasschneidemaschine zu kaufen. Dann hatte er mit seiner Schwester auf einer unerlaubten Spritztour mit der Kutsche einen Unfall gebaut. Mit elf Jahren war er einmal für einen Tag ausgerückt und hatte seinen teuren Mantel weggegeben, damit er wie ein Gassenjunge aussah. Er war beim Betteln erwischt und schließlich von der Polizei nach Hause gebracht worden. Beim zweiten Mal schaffte er es bis Amerika. Nach neun Monaten meldete er sich zuerst bei einem Freund, dann bei seiner Schwester Bertha:
"Ich habe nur einen Wunsch, du errätst ihn gewiss, mit Papa besser zu stehen. Sobald ich in einem Geschäft eingetreten sein werde, schreibe ich ihm. Die Geschäfte gehen hier sehr schlecht, und Leute sind im Überfluss vorhanden, darum musst du dich nicht wundern, wenn ich noch keine andere Beschäftigung habe."
Kurze Zeit später kehrt Karl Wittgenstein abgemagert und fiebrig nach Österreich zurück. An der Technischen Universität in Wien geht er dann nur zu den Vorlesungen, die er für wichtig hält. Er lernt durch seine Schwestern Leopoldine Kalmus kennen. Wie auch Karl hat Leopoldine jüdische Wurzeln, wird aber im katholischen Glauben erzogen. Leopoldine ist ungewöhnlich musikalisch und spielt sehr gut Klavier. Karl verlobt sich mit Leopoldine, ohne sich das Einverständnis seiner Eltern zu holen. Vor vollendete Tatsachen gestellt schreibt der Vater an seine zukünftige Schwiegertochter Leopoldine:
"Auch um meine Einwilligung zu seiner Verlobung mit Ihnen, geehrtes Fräulein, hat er mich erst gebeten, als er auf der Reise zu Ihnen vorgesprochen hatte. Da er so voll Ihres Lobes ist, in das auch seine Schwestern mit Wärme einstimmen, so habe ich mich nicht für berechtigt gehalten, ihm irgendwelche Schwierigkeiten zu machen und wünsche Euch von Herzen, dass Ihre und seine Wünsche und Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft in Erfüllung gehen mögen."

Hörtipp:
Ludwig Wittgenstein, Im Fluss des Lebens und der Sprache - Ein Hörbuch von Gunter Gebauer; Sprecher: Ulrich Matthes und Gunter Gebauer, 2011 Deutschlandradio / onomato Verlag

Leopoldine und Karl heiraten1874. Leopoldine muss schon am Anfang der Ehe ihre Ruhe und Geduld beweisen. Kurz vor der Geburt des ersten Kindes Hermine verliert Karl aufgrund von internen Streitigkeiten seine Stellung, wird aber später wieder bei seiner alten Firma, den Teplitzer Walzwerken, in Teplitz eingestellt. Dort holt er einen wichtigen Auftrag für seine Firma ein.
"Im Jahre 1878 russisch türkischer Krieg. Ich wollte die Schienenbestellung für die russische Armee, Bahnstrecke Bender, Galatz bekommen. Um diesbezüglich mit dem russischen Staatsrat Poljakow zu verhandeln, fuhr ich nach Kiew, wo ich ihn nicht mehr antraf, danach Bender, schließlich fand ich ihn in Bukarest. Poljakow wollte schwere Schienen haben, wie sie in Russland bei den Bahnen gebräuchlich sind. Er wollte aber nur einen niedrigen Preis dafür zahlen und überhaupt nur zahlen, was zu einer ganz bestimmten Zeit in Bukarest geliefert wäre. Ich ging zu Poljakow und sagte zu ihm: "Exzellenz, hier geschieht eine große Dummheit! Für Ihre Bahn, die nur drei Monate benützt werden wird, brauchen Sie gar keine schweren Schienen, die an und für sich und durch den erschwerten Transport viel kosten. Ich kann Ihnen leichte Schienen liefern, die den Zweck ganz erfüllen und bei denen Sie viel ersparen." Das leuchtete ihm ein und er sagte: "Rechnen Sie mir aus, wie viel ich ersparen würde." Ich wurde in ein Zimmer geführt und rechnete so gut ich konnte aus, wie viel die Ersparnis ausmachen würde. Poljakow war sehr befriedigt von dem Ergebnis dieser Berechnung, und die Schienenbestellung wurde gleich perfekt gemacht."
Einige Jahre später verhindert Karl den Verkauf der Aktien des Walzwerkes an Dritte, indem er selbst den Kauf in Ratenzahlung übernimmt. Er tauscht und gründet Werke in der Stahlindustrie und modernisiert Produktionsabläufe. Als die Kritik an seinen Rationalisierungsmaßnahmen immer lauter wird, geht Karl mit seiner Frau erst einmal ein Jahr lang auf Weltreise. Dann zieht er sich 1898 mit knapp 52 Jahren aus dem aktuellen Tagesgeschäft zurück. Dank seiner Ideen und Energie ist er nun so unermesslich reich, dass er die Entwicklung der Industrie nur noch als Privatier verfolgt und Artikel über ökonomische Probleme verfasst. Er legt sein Geld geschickt in Wertpapiere und Immobilien an und gibt sich privaten Vergnügungen hin.
Die Kinder der Wittgensteins
Karl und Leopoldine Wittgenstein haben acht Kinder:
  • Die älteste Tochter, Hermine (1874 - 1950), berät mit ihrem Kunstsachverstand den Vater bei dem Aufbau seiner Gemäldesammlung und schreibt seine und später ihre eigenen Lebenserinnerungen auf. Sie bleibt unverheiratet.
  • Sohn Hans (1877 - 1902) interessiert sich nicht für die technische und kaufmännische Arbeit. Er nutzt die Zeit lieber zum Musizieren. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Vater. 1901 verschwindet Hans nach Amerika. Ein Jahr später heißt es im "Neuen Wiener Tagblatt": "Der Großindustrielle Karl Wittgenstein wurde von einem schweren Verluste betroffen. Sein ältester Sohn Hans, ein junger Mann von 24 Jahren, ist vor ungefähr drei Wochen in Amerika, wo er sich auf einer Studienreise befand, während einer Kanufahrt verunglückt." Was genau in Amerika passierte, ist nicht bekannt. Verschwand Hans überhaupt in Amerika oder in einem anderen Land? War es tatsächlich ein Unfall oder nahm er sich das Leben? Oder tauchte er einfach unter, um für seine Familie unauffindbar zu sein?
  • Wegen des Verschwindens von Hans übernimmt der sogenannte Kindskopf Kurt (1878 - 1918), eigentlich Konrad, die Position des Ältesten ein. Konrad jagt gerne und fährt schnelle Autos. Wie die anderen ist er ein begabter Musiker. Er spielt Klavier und Cello. Und er erfüllt den Plan seines Vaters und wird Ingenieur.
  • Helene (1879 - 1956), die Mittlere der Töchter, ist weniger kämpferisch. Sie singt und spielt Klavier. Helene hatte mit 20 Jahren den Ministerialbeamten Max Salzer geheiratet. Durch die Gründung der eigenen Familie entzieht sie sich dem Druck ihrer Herkunft. Eines ihrer vier Kinder ist der bekannte Musikwissenschaftler Felix Salzer.
  • Der ebenfalls sehr intelligente und gebildete Rudolf Wittgenstein (1881 - 1904) ist drei Jahre jünger als Konrad und studiert an der Berliner Akademie Chemie. Rudolf ist ebenfalls leidenschaftlicher Musiker und interessiert sich darüber hinaus für Theater und Fotografie. Im Jahr 1903 sucht er das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee in Berlin auf. Dieses Institut kämpft für die Abschaffung des Paragrafen 175, der besagt, dass sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts strafbar sind. Im Mai 1904 schluckt Rudolf in einem Restaurant in Berlin Zyankali und stirbt.
  • Die jüngste Tochter Margarethe (1882 - 1958) ist wie ihre Brüder eine vielseitig begabte Persönlichkeit. Sie befasst sich mit Naturwissenschaften und der Psychoanalyse. In der durch den Tod des Bruders sehr belasteten Zeit lernt sie Jerome Stonborough kennen und verliebt sich in ihn. Karl Wittgenstein beauftragt Gustav Klimt, ein Bild für die Hochzeit seiner Tochter zu malen. Auf dem Bild sieht man eine schöne, große, dunkelhaarige Frau mit dunklen Augen in einem weißen Kleid. Margarethe bemängelt die Darstellung ihres Mundes und lässt einen Teil des Porträts von einem anderen Künstler übermalen. Heute hängt es in der Neuen Pinakothek in München. Margarethe hat eine persönliche Vorliebe für die sozial-kritischen Schriften von Karl Kraus. Dieser hatte 1900 in der satirischen Zeitschrift "Die Fackel" über die vermeintlichen Wohltäter Österreichs bissig geschrieben: "Wenn Herr Wittgenstein die Eintrittskarte zum Deutschen Schulvereinsfest mit tausend Kronen bezahlt, dann hat man der Öffentlichkeit zu sagen, dass der Herr samt seinen auch deutschen Kumpanen durch Hungerlöhne die deutsche Arbeiterschaft aus angestammten Gebieten treibt, die Slawisierung Österreichs wirksamer fördert, als zehn Sprachenverordnungen vermöchten."
  • Paul (1887 - 1961) geht auf ein humanistisches Gymnasium in Wien. Dort widmet er sich intensiv der Musik. Er hat Klavierunterricht bei dem blinden Komponisten und Pianisten Josef Labor. Labor ist in der Familie Wittgenstein sehr anerkannt. Pauls Klavierspiel hingegen hält beim innerfamiliären Vergleich der Musikalität mit dem ältesten Bruder nicht stand. Dennoch lässt sich Paul gegen den Willen seiner Eltern bei dem berühmten Klavierpädagogen Theodor Leschetizky als Pianist ausbilden.
  • Ludwig (1889 - 1951) hatte als Kind Geige und Klavier gelernt und baut eine Spielzeugnähmaschine. Er lernt auf der weniger akademisch geprägten Linzer Oberrealschule. Danach absolviert er ein Ingenieurstudium. Er konstruiert später eine neue Antriebstechnik für Flugzeuge, bei der die Brennkammern an den Blattspitzen des Rotors angeordnet sind. Mit dem "Wittgensteinschen Antrieb" benötigt man kein Getriebe und keinen Heckrotor als Drehmomentausgleich. Ludwig beginnt sich mehr und mehr für Probleme der mathematischen Logik zu interessieren. Inspiriert von Gottlob Frege entschließt er sich, ein philosophisches Buch zu dessen Fragestellung zu schreiben. Um sich Rat zu holen, besucht er Frege in Jena, der ihm empfiehlt, Bertrand Russell in Cambridge aufzusuchen, der zu dieser Zeit an seinem Werk Principia Mathematica arbeitet. Eine fruchtbare Zeit beginnt mit Bertrand Russell.1912 lernt Ludwig bei Experimenten zum Rhythmus von Sprache und Musik David Pinsent kennen, seinen ersten und einzigen Freund, wie er sagt.
Weihnachten 1912 versammelt sich die ganze Familie wieder in Wien. Das Familienoberhaupt Karl Wittgenstein hat Zungenkrebs. Nach einer Operation stirbt er am 20. Januar 1913.
Der hohe moralische Anspruch der Wittgensteins bringt die Geschwister dazu, von ihrem Erbe großzügige Summen zu spenden. Künstlerische und medizinische Vereinigungen, Freunde und soziale Einrichtungen werden beschenkt.
Paul Wittgensteins Entwicklung zum Pianisten
Auf Wunsch seines Vaters hatte sich Paul an der Technischen Hochschule eingeschrieben. Nach dessen Tod verfolgt er seine Karriere als Pianist und will in Wien debütieren. Neben der musikalischen Vorbereitung plant er jede Einzelheit. Er kauft Freikarten für seine weitläufige Verwandtschaft und mietet den Großen Musikvereinssaal in Wien, damit einflussreiche Kritiker über das Konzert schreiben. Obwohl die Programmauswahl ungewöhnlich ist, erscheinen tatsächlich Kritiken über ihn im "Wiener Tagblatt":
"Ein junger Mann aus der Wiener Gesellschaft, der sich anno 1913 als Klaviervirtuose mit einem Fieldschen Konzert in der Öffentlichkeit einführt, muss entweder ein fanatischer Schwärmer oder ein sehr selbstbewusster Dilettant sein. Nun, Herr Paul Wittgenstein, denn von ihm sprechen wir, ist weder das eine noch das andere, sondern, was uns mehr gilt als beides, ein ernster Künstler."
Konzertausschnitt von Paul Wittgenstein auf Youtube:
Paul selbst ist sehr kritisch bei der Einschätzung seines Könnens. Nur wenn er Lob als gerechtfertigt ansieht, akzeptiert er es. Jahre später erinnert sein Bruder Ludwig ihn an ein Gespräch nach dem Konzert:
"Ich habe dir einmal: im Volksgarten-Café- meine Meinung gesagt, nämlich dass Dich von einem reproduzierender Künstler dasselbe unterscheidet, was einen Schauspieler (natürlich auch einen guten) von einem Rezitator unterscheidet, der nichts geben will als das Werk des Dichters; während der Schauspieler die Dichtung quasi nur als Substrat für seine eigene und selbstherrliche Tätigkeit ansehen kann. willst Du Dich, glaube ich, nicht hingeben und hinter der Komposition zurücktreten, sondern Du willst Dich selbst darstellen. Ich weiß nun, dass auch dabei etwas herauskommt, das dafür steht, gehört zu werden, und zwar meine ich nicht nur für den, der die Technik bewundert, sondern auch für mich und jeden, der einen Ausdruck einer Persönlichkeit zu schätzen weiß. Dagegen werde ich mich nicht an Dich wenden, wenn ich, wie es mir bei mir meistens der Fall ist, einen Komponisten sprechen hören möchte."
Ludwigs Ambitionen als Philosoph
Ludwig beschreibt damit die künstlerische Interpretation im Sinne eines romantischen Ideals. Er selbst hingegen bevorzugt die Schlichtheit des Ausdrucks. Mit einem großen Teil seines Erbes unterstützt er Künstler, die für neue Sichtweisen stehen: Oskar Kokoschka, Adolf Loos, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl. Zurückgekehrt nach Cambridge, kommt es zum Streit mit Russell. In seiner unverblümten Art schreibt Ludwig, dass sie beide nicht zueinander passen würden.
Bertrand Russell über Ludwig Wittgenstein auf Youtube:
Ludwig reist nach dem Streit nach Norwegen. Er will ungestört an seinem Entwurf der Logik arbeiten. Er macht lange Spaziergänge und zweifelt an sich selbst.
"Mein Tag vergeht zwischen Logik, Pfeifen, Spazierengehen und Niedergeschlagenheit. Ich wollte zu Gott, ich hätte mehr Verstand und es würde mir nun endlich alles klar; oder ich müsste nicht mehr lange leben. Am Grunde meiner Seele aber kocht es fort und fort wie am Grunde eines Geysirs. Und ich hoffe immer noch, es wäre endlich einmal ein endgültiger Ausbruch erfolgt, und ich kann ein anderer Mensch werden."
Während des Ersten Weltkrieges
Ein Jahr nach dem Tod des Vaters bricht der Erste Weltkrieg aus. Wie für viele Menschen in dieser Zeit ist es auch für die Wittgenstein-Familie selbstverständlich, ihr Land zu verteidigen. Leopoldine schreibt ihrem Sohn Konrad, nach Amerika, dass er versuchen solle, nach Österreich zurückzukehren, um Kriegsdienst zu leisten.
Paul hatte den Militärdienst als Unteroffizier der Reserve beendet und verteidigt nun die Habsburger Monarchie. Im ersten Kriegsjahr wird er an der galizischen Front im Norden eingesetzt, um die russischen Truppen aufzuhalten. Dort zerschmettert eine Kugel seinen Ellbogen. Ihm wird der rechte Arm amputiert. Paul wird in ein Gefangenenlager nach Sibirien gebracht. Dort lernt er mit einem Selbsthilfebuch für amputierte Kriegsheimkehrer, sich mit einer Hand anzuziehen, sich einarmig zu waschen und das Fleisch zu zerdrücken statt zu schneiden. Der Autor dieses Ratgebers, Graf Géza Zichy, hatte einst Franz Liszt mit seinem einarmigen Klavierspiel beeindruckt und verweist auf den eisernen Willen, der zum Erfolg führe.
Da der jüngere Bruder Ludwig bis dahin noch keinen Militärdienst absolviert hat, meldet er sich nun freiwillig für zivile Aufgaben. Dabei macht er sich Gedanken um seine Familie:
"Erhielt heute viel Post, unter anderem die traurige Nachricht, dass Paul schwer verwundet und in russischer Gefangenschaft ist, Gott sei Dank in guter Pflege. Die arme, arme Mama. Immer wieder muss ich an den armen Paul denken, der so plötzlich um seinen Beruf gekommen ist. Wie furchtbar. Welcher Philosophie würde es bedürfen, darüber hinwegzukommen. Wenn dies überhaupt anders als durch Selbstmord geschehen kann. Dein Wille geschehe."
Ende März 1916 wird Ludwig in eine Kampfeinheit an der russischen Front versetzt. In seinem Tagebuch bereitet er sich seelisch darauf vor:
"Jetzt bei Tag ist alles ruhig, aber in der Nacht muss es fürchterlich zugehen! Ob ich es aushalten werde??? Die heutige Nacht wird es zeigen. Gott stehe mir bei! In steter Lebensgefahr. Die Nacht verlief durch die Gnade Gottes gut. Von Zeit zu Zeit werde ich verzagt. Das ist die Schule der falschen Lebensauffassung!!! Der Tod gibt dem Leben erst seine Bedeutung."
Ludwig hält das Leben an der Front und später in der Kriegsgefangenschaft aus, indem er sich strikt der Philosophie zuwendet. Er schreibt an seiner philosophisch-logischen Abhandlung, die später mit dem Titel "Tractatus logico-philosophicus" erscheinen wird.
Nach dem Ersten Weltkrieg
Im November 1915 wird Paul aus der Gefangenschaft entlassen. Ein Jahr später gibt er sein erstes linkshändiges Konzert. Dann meldet sich Paul erneut zum Kriegsdienst. 1917 wird er einberufen. Im gleichen Jahr greift Amerika in den Krieg ein. Alle diplomatischen Beziehungen werden abgebrochen. Als "feindlicher Ausländer" wird Pauls Bruder Konrad aus den USA ausgewiesen und reist nach Europa, wird dort zum Kriegsdienst an der italienischen Front eingeteilt. Kurz vor Kriegsende stirbt er. Unterschiedliche Versionen kursieren zu seinem Tod. Sicher ist, dass er Suizid begangen hat. War es die Kapitulation oder lag es daran, dass ihm seine Truppe nicht mehr folgte?
Nach Konrads Tod fallen seine Anteile am Erbe den Geschwistern zu. Als ältester Sohn verwaltet nun Paul das Vermögen. Den größten Teil des inländischen Familienvermögens investiert er in Kriegsanleihen der Regierung, der mit Kriegsende dann verloren geht.
Ludwigs Weg in die Philosophie
Zum Ende des Ersten Weltkriegs hat Ludwig Wittgenstein seine philosophischen Überlegungen abgeschlossen und ist trotz seiner starken Kritik an sich selbst nun bereit, sie zu veröffentlichen. Dieses Werk wird der Grundstein zu seiner Anerkennung als neuer Denker in der Philosophie sein.
Gunter Gebauer, Professor für Philosophie und Soziologie an der Freien Universität zu Berlin, erläutert in dem Hörbuch über Ludwig Wittgenstein "Im Fluss des Lebens und der Sprache" die Gedankengänge im "Tractatus(https://de.wikipedia.org/wiki/Tractatus_logico-philosophicus)":
"Sein Text entwirft in nummerierten kurzen Sätzen auf weniger als 100 Seiten eine Philosophie der logischen Sprache als glasklare Abbildung der Welt. Es ist die Welt, die uns in ihrer Verworrenheit und Komplexität gegenübersteht."
Mit der Verworrenheit der Welt muss Ludwig Wittgenstein für sich persönlich auch noch zum Ende des Ersten Weltkrieges kämpfen, als sein Freund David Pinsent im Mai 1918 bei einem Flugunfall in Frankreich ums Leben kommt. Und obwohl der "Tractatus" von den Fachleuten sowohl in Cambridge als auch in Wien gefeiert wird, kehrt Ludwig nicht an die Universität zurück, sondern lässt sich zum Volksschullehrer ausbilden.
"Aus dem mondänen Millionärssohn mit herrschaftlichem Auftreten und atemberaubender Selbstsicherheit wird ein schlichter Student des Lehrerseminars in Wien; schließlich ein Volksschullehrer auf dem Lande. Er gibt das Philosophieren auf, das er noch in den Tagen an der Front kontinuierlich betrieben hat; widmet sich der Ausbildung von Bauernkindern und führt, nachdem er sein Erbe an die Geschwister verschenkt hat, ein bescheidenes, fast ärmliches Leben." (Gunter Gebauer)
Das Haus Stonborough Wittgenstein in Wien, entworfen von Ludwig Wittgenstein
Das Haus Stonborough Wittgenstein in Wien, entworfen von Ludwig Wittgenstein© imago images / viennaslide
Bei dieser gravierenden Entscheidung, sein Erbe an die Geschwister zu überschreiben, übergeht Ludwig allerdings seine Schwester Margarethe. Da Ludwig nun ohne Besitz ist, arbeitet er nach Abschluss der Lehrerausbildung an Schulen in Niederösterreich mit bescheidenem Einkommen.
Ludwig ist nicht nur ungeduldig, sondern gnadenlos streng bei menschlichen Fehlern, bei anderen und bei sich selbst. Er begründet die Auseinandersetzung philosophisch:
"Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt. Also die Bedingungen im gewissen Sinne ideal sind, aber wir eben auch nicht gehen können. Wir wollen gehen, dann brauchen wir die Reibung, zurück auf den rauhen Boden."
1926 stirbt die Mutter Leopoldine. Im gleichen Jahr beginnt Ludwig Wittgenstein mit seiner Arbeit an dem Haus für seine Schwester Margarethe in der Wiener Kundmanngasse 19. Das Haus plant er mit der gleichen strengen und konsequenten Logik wie vorher die Arbeit am "Tractatus" . Ganz im Sinne des "Tractatus", wo es im Satz 2,02 heißt: "Der Gegenstand ist einfach", entwirft er beispielsweise Türklinken, die an Schlichtheit nicht zu überbieten sind. Nach Abschluss der Arbeiten kehrt er im Januar 1929 auf Bitten von Bertrand Russell und John Maynard Keynes nach Cambridge zurück, um dort Philosophie zu lehren. Er beginnt an seiner neuen Philosophie zu schreiben, in der er nach Klarheit und Durchsichtigkeit der Umgangssprache strebt.
Im Oktober 1929 kommt es zum großen Börsencrash. Margarethes Geld geht dadurch größtenteils verloren. Sie scheint unter dem finanziellen Verlust nicht zu leiden, bedauert es aber, dass sie das Haus in der Kundmanngasse nun vermieten muss. Hermine will Margarethe helfen, indem sie an Margarethe die Anteile, die Ludwig ihr bei der Verteilung seines Erbes vorenthalten hat, nun überschreibt. Sie fragt Ludwig um Rat. Dieser antwortet:
Eine Büste von Margarethe Stonborough-Wittgenstein, Tochter Karl Wittgensteins und Schwester des Philosophen Ludwig Wittgenstein und des Pianisten Paul Wittgenstein.
Eine Büste von Margarethe Stonborough-Wittgenstein© picture alliance/akg-image
"Vor allem bist du im Irrtum, wenn Du glaubst, dass ich Gretl darum nicht in die Teilung meines Vermögens einbezogen habe, weil ich schlecht mit ihr gestanden bin. Ich bin schlecht mit ihr gestanden, aber das hatte natürlich gar nichts damit zu tun. Gretl schien damals als Amerikanerin in sehr gesicherter Lage und meine anderen drei Geschwister durch den Krieg in unsicherer finanzieller Lage zu sein, und nur das war ausschlaggebend. Wäre Gretl damals Österreicherin und Du Amerikanerin gewesen, so hätte ich mein Geld unter Gretl, Helene und Paul verteilt, trotz meiner geringen Sympathien für Gretls damaliges Wesen. Ja, ich halt es für richtig und gut, dass Du Gretl den Teil gibst, den sie damals von dem Deinen erhalten hätte, wenn sie in der gleichen Lage gewesen wäre wie Ihr anderen, und ich glaube Gretl soll das unbedingt annehmen."
Ludwig lebt nun überwiegend in Cambridge und kommt dort zu regelmäßigen Gesprächen mit dem italienischen Ökonomen Pietro Sraffa und dem Philosophen George Edward Moore zusammen und entwickelt in der Zeit seine neuen Überlegungen weiter.
Pauls Erfolge als Pianist
Paul macht das Hobby der Familie zum Beruf und wird Pianist. Schon ein Jahr nach der Amputation eines rechten Arms baut er seine Karriere neu auf und wird als linkshändiger Pianist bekannt. Zuerst spielt er Kompositionen von Franz Liszt, die dieser für den einarmigen Pianisten Géza Graf Zichy transkribiert hatte. Dann erstellt er selbst Arrangements von Werken von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Frederic Chopin, aber auch von Opernchören von Puccini.
Als Paul Wittgenstein bei der Recherche nach Kompositionen für die linke Hand nicht fündig wird, vergibt er zwischen Dezember 1922 und Ostern 1923 Aufträge an Franz Schmidt und den polnisch-ukrainischen Komponisten Sergei Bortkiewicz. der für ihn das Klavierkonzert c-Moll, eine Konzertfantasie und das Klavierkonzert Nr. Es-Dur schreiben.
Paul Wittgensteins Musikgeschmack orientiert sich an der späten Klassik und der frühen Romantik. Dennoch gibt er einem Komponisten der Avantgarde einen Kompositionsauftrag. Paul Hindemith komponiert für Paul Wittgenstein die "Klaviermusik mit Orchester".
"Ich glaube, dass ich bis zum Ende der nächsten Woche alles fertig habe. Es würde mir leid tun, wenn Ihnen das Stück keine Freude machen würde – vielleicht ist es Ihnen anfänglich ein wenig ungewohnt zu hören – ich habe es mit großer Liebe geschrieben und habe es sehr gern."
Tatsächlich kann Paul Wittgenstein mit der Komposition nichts anfangen. Er zahlt zwar das versprochene hohe Honorar für die exklusiven Aufführungsrechte, spielt das Werk aber nie öffentlich. Es verschwindet in der Schublade.
Aber auch andere populäre Komponisten der Zeit erhalten Anfragen von Paul Wittgenstein. Der Musiker Josef Labor schrieb für Paul Werke mit kammermusikalischer Besetzung. Der junge Erich Wolfgang Korngold komponiert für Paul ein Klavierkonzert mit großem Orchester. Paul kritisiert, dass das Klavier sich gegen das große Orchester wie eine zirpende Grille anhöre und streicht einfach die Teile, die ihm nicht gefallen. Er versucht einen Kompromiss mit dem Komponisten.
Der Pianist Paul Wittgenstein
Der Pianist Paul Wittgenstein© dpa/United Archives
Die Kritik im "Wiener Tagblatt" vom Konzert mit der vollen Orchesterbesetzung lässt nichts von den Unstimmigkeiten zwischen Komponisten und Interpreten erkennen.
"In künstlerischem Heroismus das Schicksal überwindend, wurde er Virtuose der ihm gebliebenen Linken und erhob seine Einseitigkeit zur Vollendung, ja zur Unerreichbarkeit."
Er kennt Richard Strauss, weil dieser Gast bei der Familie Wittgenstein gewesen war. Strauss verlangt für die Umarbeitung des Materials einer Sinfonie zum Konzert mit dem Titel "Parergon zur Sinfonia Domestica" ein Vermögen. Paul ist die Summe nicht wichtig. Er sieht Schönheiten in der Partitur, beklagt aber auch bei Strauss ein zu dominantes Orchester und bewegt diesen dazu, ein wichtiges Thema vom Orchester auf das Klavier zu übertragen und die Instrumentierung etwas zu ändern. Strauss komponiert ein Jahr später den "Panathenäenzug" für Paul. Die Uraufführung in Berlin mit Bruno Walter als Dirigent am Pult ist ein großer Flop. Aber Paul spielt nun mit den wichtigsten Dirigenten seiner Zeit wie Erich Kleiber, Wilhelm Furtwängler und Fritz Busch.
Das berühmteste Werk, das Paul in Auftrag gegeben hat, ist das "Concerto für die linke Hand" von Maurice Ravel. Es wird heute zu den wichtigsten Kompositionen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gerechnet.
Wenn Paul nicht auf Tournee ist, unterrichtet er Privatschüler. Wie sein Bruder Ludwig ist er sehr engagiert und auch sehr ungeduldig. Als er sich am Neuen Wiener Konservatorium um einen Lehrauftrag bewirbt, weist dieses ihn zuerst ab. Nach einem Jahr bekommt er eine unbezahlte Stelle angeboten. Paul ist ein leidenschaftlicher Lehrer, der in den Ferien die Schüler weiter unterrichtet. Er verliebt sich in die 30 Jahre jüngere Studentin Hilde Schania. Hilde ist aufgrund einer Masernerkrankung fast blind. Als Hilde schwanger wird, mietet Paul ihr eine Wohnung. Zwei Jahre später kommt die zweite Tochter zur Welt. Die Familie Wittgenstein weiß nichts von den Kindern.
Die Zerrüttungen der NS-Zeit
Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland und dem Notstandgesetz von Engelbert Dollfuß in Österreich schreibt Margarethe an ihren Sohn Thomas, dass der Übergang von der Demokratie zur Diktatur schmerzlos verlaufen sei. Als der Vermögensverwalter Anton Groller der Familie empfiehlt, die Liechtensteinsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, um das Vermögen zu retten, lehnt Paul dieses ab, weil er mit "Leib und Seele" Österreicher sei und solch moralisch fragwürdigen Schritt allein für finanzielle Gründe nicht gehen wolle.
Dann überschlagen sich die Ereignisse: Im März 1934 wird Paul wegen seiner politischen Überzeugungen verhaftet. Im Juli 1934 fällt Dollfuß einem Attentat zum Opfer. Margarethe besitzt durch die Ehe mit Jerome die amerikanische Staatsbürgerschaft. Und obwohl sie sich ihrem Heimatland sehr verbunden fühlt, gründet sie in der Schweiz die Wistag AG und Co, um das Familienvermögen zu retten.
Im März 1938 kommt es zum Anschluss Österreichs an Deutschland. Ludwig, der sich immer als Österreicher fühlte, beantragt daraufhin die britische Staatsbürgerschaft. Margarethe ist in dieser Zeit schon auf dem Weg nach New York, um die Gemäldesammlung zu verkaufen. Bei ihrer Ankunft Mitte März hat die neue Regierung die Genehmigung für den Verkauf zurückgezogen.
Auch Paul verliert seine Stelle als Klavierdozent im Konservatorium, obwohl sein Vorgesetzter ihm Verdienste bestätigt.
Nun müssen die Bürger auch ihre ausländischen Anlagen offenlegen. Bei Auswanderung droht der Verlust des Vermögens. Margarethe trifft Diplomaten und NSDAP-Mitglieder, um diese von den Verdiensten der Familie Wittgenstein zu überzeugen. Dann reist sie mit Paul nach Berlin zum Leiter der Reichsstelle für Sippenforschung, um über vermeintlich uneheliche Verbindungen in der Vergangenheit einen Mischlingsstatus zu erhalten.
Paul leidet so sehr unter dem Judenhass und dem Berufsverbot, dass er seine Auswanderung plant. Da er die Reichsfluchtsteuer nicht zahlen will, lässt er sich mit fiktiven Verträgen einer vermeintlichen Konzertagentur zu Klavierabenden nach England einladen.
In der Zwischenzeit schmuggelt Margarethe Schmuck und Musikautografen nach London und gibt beim Reichsstatthalter ihr Ehrenwort, dass Paul keine Emigration plane. Tatsächlich kehrt Paul nach seiner Englandreise wieder nach Wien zurück.
Als er aber noch nicht einmal mehr seine privaten Schüler unentgeltlich unterrichten darf und ihm die Vormundschaft für seine beiden Kinder wegen Rassenschande entzogen wird, reist er in die Schweiz. Er plant, Hilde mit den Kindern nachkommen zu lassen. Dann wird Paul zum Cleveland Orchestra und für eine unbezahlte Stelle als Lehrer an die David Annes Music School eingeladen. Zwei Wochen vor seiner Abreise nach New York erhalten Hilde und die Kinder im November 1938 die Einreiseerlaubnis in die Schweiz.
Zerwürfnis wegen einer Vereinbarung mit dem NS-Regime
Nach Pauls Flucht fehlt nun seine Unterschrift für den Zugriff auf das Familienvermögen. Hermine und Helene benötigen aber hohe Summen, um sich bei den Nazis bürgerliche Rechte zu erkaufen. Paul könnte wieder nach Österreich ein- und ausreisen, wenn er der Auslieferung des gesamtes Goldes aus dem Familienbesitz an den NS-Staat zustimmte. Er lehnt es aber ab, diesem 2,1 Millionen Schweizer Franken zu überlassen. Die Verhandlungen werden ergebnislos abgebrochen. Margarethe ist wütend, denn sie hatte das Vermögen ja außer Landes gebracht. Paul schreibt an Ludwig:
"Die Deutschen sind Erpresser, und wenn man einem Erpresser zeigt, welche die eigenen Schwächen sind, ist man völlig verloren. Hier gibt es nur eine Möglichkeit: Man muss den Deutschen nämlich sagen, dass sie so und so viel kriegen und keinen Pfennig mehr."
Ludwig reist im Juli 1939 noch einmal nach New York, um mit Paul zu sprechen, aber dieser schickt nun seinen Anwalt vor. Es kommt zu keinem Treffen zwischen den Brüdern in Amerika. Ab jetzt ist das Verhältnis zwischen beiden gestört. Auch, wenn Pauls Anwalt misstrauisch gegenüber den Zusagen der Nationalsozialisten bleibt, werden im August 1939 die "Mischlingszertifikate" ausgestellt - sie wurden mit einem Teil des Familienvermögens bezahlt.
Paul kann nach Abzug der Anwaltskosten ein Vermögen in Höhe von 1,2 Millionen Franken behalten. Der Immobilienbesitz der Familie wird an Hermine und Helene überschrieben. Die beweglichen Güter wie Musikautografen und Gemälde dürfen aber entgegen der Absprache nicht außer Landes gebracht werden.
Margarethe schmuggelt mit Hilfe ihres Sohnes John dennoch wertvolle Handschriften in die Schweiz und vergräbt andere Schätze im Garten. Nachdem sie Besuch von der Gestapo erhalten hat, emigriert sie im Februar 1940 nach New York.
1940 heiratet Paul Hilde in Havanna. Sie bleiben sieben Monate dort, bis sie in die USA einreisen können. Paul vergibt mittlerweile wieder Kompositionsaufträge. Nun streitet er sich wieder mit Komponisten, diesmal mit Benjamin Britten.
"Im Museum in Wien habe ich einmal eine schreckliche Waffe gesehen, die im Mittelalter benutzt worden ist. Es sieht aus wie ein Schaukelstuhl, aber wenn man sich hin einsetzt, klappen die beiden Seiten hoch und umschließen den Körper des Sitzenden, so dass er nicht mehr herauskommt. Das deutsche Wort dafür heißt Fangstuhl. Meine Idee war, so einen Fangstuhl bauen zu lassen, Sie dann einzuladen und darauf Platz nehmen zu lassen. Und dann würde ich Sie nicht mehr herauslassen, bis Sie sich dazu herbeilassen, die Änderungen an Ihrem Konzert vorzunehmen, die ich Ihnen vorschlage. Gegen den Lärm Ihres Orchesters an zu spielen ist ein hoffnungsloses Unterfangen, es ist ein wahres Löwengebrüll, ohrenbetäubender Radau. Keine menschliche Kraft am Klavier ist dem gleichzeitigen Lärmen von vier Hörnern, drei Trompeten, drei Posaunen und doppelt besetzten Bläsern gewachsen."
Britten verzweifelt an Pauls Beharrlichkeit:
"Ich habe eine kleine Auseinandersetzung mit Herrn von Wittgenstein wegen meiner Instrumentierung, wenn es etwas gibt, von dem ich etwas verstehe, dann ist es die Instrumentierung, also kämpfe ich. Der Mann ist wirklich ein alter Miesepeter."
Die Uraufführung 1942 mit dem Philadelphia Orchestra unter Eugene Ormandy ist ein großer Erfolg. Obwohl alle Familienmitglieder bis dahin immer sehr kritisch mit Pauls Spiel waren, verfolgt Margarethe nun wohlwollend Pauls neue Entwicklung. Sie schreibt an Ludwig:
"Was Du über Paul schreibst, ist richtig. Auch er führt jetzt ein etwas reduziertes, aber menschliches Leben, was ihm niemals gelungen wäre, wenn er nicht mit seiner Familie gebrochen hätte. Und obwohl unser Anteil an seinem Blut die Suppe verdorben hat, hat er immerhin seine ganz echte Liebe zur Musik geschenkt."
Gescheiterte Vermittlungsversuche
Paul und seine Familie erhalten ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er gilt als Pianist von Weltrang, der mit außerordentlicher technischer Virtuosität und Bühnenpräsenz glänzt und wird nun auch wieder nach Wien zu Konzerten eingeladen. Dort meidet er aber sein Elternhaus und die Begegnung mit den Geschwistern. Selbst als Hermine schwer an Krebs erkrankt ist und er in Wien gastiert, besucht er sie nicht. Ludwig hingegen reist umgehend aus England an. Er begibt sich auch noch einmal nach New York, um Paul zu besuchen, trifft diesen aber nicht an. Als dann Paul in Oxford ist, versucht die gemeinsame Bekannte Marga Deneke die Brüder zusammenzubringen, diesmal verhindert es Ludwig:
"Paul ist jetzt mit den Denekes in Oxford und ich erhielt neulich eine sehr seltsame, mir ekelerregende Einladung der Miss Deneke, sie dort während Pauls Anwesenheit zu besuchen."
Am Ende bleibem die beiden Brüder zerstritten.
Im Februar 1950 stirbt Hermine mit 75 Jahren. Ein Jahr nach Hermines Tod stirbt auch Ludwig mit 62 Jahren im April 1951 an Krebs. Er hatte vor Jahren im "Tratctatus logicus-philosophicus" unter Punkt 6.4311 geschrieben:
"Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht."
Die Beisetzung findet ohne Familienmitglieder statt. Paul, der nur sehr wenig über seine Familie spricht, schreibt zwei Jahre nach Ludwigs Tod:
"Ich will übrigens bei dieser Gelegenheit noch feststellen, dass ich mit meinem Bruder seit dem Jahre 1939 außer Kontakt geblieben bin; ein oder zwei Briefe, die er mir anlässlich meines Besuches in England, und weil ihn Fräulein Deneke eingeladen hatte, geschrieben hat, habe ich nicht beantwortet. Ob ich es auch dann nicht getan hätte, wenn mir bekannt gewesen wäre, dass er todkrank ist, weiß ich nicht."
Helene, mit der er freche Briefe gewechselt hatte, hat Paul seit 1938 nicht mehr gesehen. Sie stirbt fünf Jahre nach ihrem jüngsten Bruder Ludwig mit 76 Jahren, zwei Jahre später dann Margarethe. Der Kontakt zu den Geschwistern wird nie wieder hergestellt. In einem Zusatz in seinem Testament, beschreibt Paul einen Grund für die Entfremdung:
"In den Jahren 1938 und 1939 glaubte Mrs. Stonborough offenbar, dass es so etwas wie eine Ehrenverpflichtung den Nazis gegenüber gäbe, dass die Nazis Leute wären, mit denen man auf der Basis von Achtung ihre Geschäfte machen konnte. Wenn wir sie mit Nachsicht betrachten, ist das Beste, was wir zu ihren Gunsten sagen können, dass sie sehr dumm gewesen ist."
Als Paul am 3. März 1961 als letztes der acht Wittgenstein-Geschwister in New York stirbt, erfahren nur noch seine Frau und die Kinder von dieser Erklärung.

Produktion dieser Langen Nacht:
Autorin: Barbara Giese, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Regie: Sabine Fringes, Webproduktion: Jörg Stroisch

Über die Autorin:
Nach dem Studium der Musiktheaterregie arbeitete Barbara Giese als Abendspielleiterin am Staatstheater Oldenburg, später als Assistenz unter anderen bei Brigitte Fassbaender und Claes Fellbom. Für das Deutschlandradio erstellt sie als Autorin verschiedene Hörfunksendung, so zum Beispiel "Das Weibliche im Menschlichen" über Minna und Richard Wagner. Sie ist Autorin für Musikfeatures beim NDR, SWR2 und für die Lange Nacht beim Deutschlandfunk.
Website: http://www.theapolis.de/barbaragiese

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