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Zeitreisen vor wechselnder Kulisse
Zeugnisse einer bewegten russischen Geschichte durchquert die Transsibirische Eisenbahn auf 9.288 Gleiskilometern von Moskau bis Wladiwostok. Die Arbeiten dauerten 25 Jahre und machten zuvor kleine Städte bedeutend – und Entfernungen überwindbar. Zahlreiche Schriftsteller ließen sich von einer Reise inspirieren.
Um die einheimische Wirtschaft anzukurbeln und die Industrialisierung voranzutreiben, regte der russische Finanzminister Sergej Witte 1892 die Gründung des Komitees der Sibirischen Eisenbahn an. In dessen Auftrag waren später zu Spitzenzeiten über 100.000 Arbeiter gleichzeitig mit dem Bau der Bahntrasse beschäftigt.
Eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn.
Der Autor Christian Blees über seine Lange Nacht über die Transsibirische Eisenbahn:
Fakten zur Transsibirischen Eisenbahn
>> 9.288 Gleiskilometer
>> Linie: Moskau bis Wladiwostok, durch insgesamt 85 Städte, über zwei Kontinente und acht Zeitzonen
>> Überquerung von 16 großen Flüssen
>> fast 500 Brücken
Wagenklassensystem:
>> Platzkartny: Unterste Kategorie, hergeleitet vom deutschen Begriff Platzkarte. Vergleichbar mit einer Jugendherberge auf Rädern.
>> Coupé: Hier reist man in einem Viererabteil, das gewissermaßen aus zwei Doppelstockbetten besteht. Im Unterschied zu westeuropäischen Schlafwagen gibt es im Transsib-Coupé allerdings kein Waschbecken.
>> Lux: Beste Kategorie, 2er-Abteil, mit mehr Platz für den Reisenden.
Heute wird der Langstreckenverkehr mit der Transsibirischen Eisenbahn, der über zwei Nächte hinausgeht, vor allem von Touristen oder von Arbeitern im Öl- und Bergbau in Sibirien genutzt. Die durchgehende Fahrt von Moskau nach Vladivostok kostet im Coupé außerhalb der Saison ab etwa 300 Euro.
Der US-amerikanische Reiseschriftsteller Marcus Lorenzo Taft schrieb:
"Die moderate Geschwindigkeit dieser russischen Expresszüge erinnert an Kamele, seit Ewigkeiten gewohnt, die unermessliche Wüste zu durchqueren."
Der Autor Christian Blees darüber, warum der Alkoholgenuss auf der Transsib verboten ist:
Entstehungsgeschichte der "Großen Sibirischen Bahn"
Um das Jahr 1860 herum waren im Westen Russlands gerade einmal 2.000 Kilometer Eisenbahnschienen verlegt. Sergej Witte entstammte einer russisch-deutschbaltischen Ehe. Unter Zar Alexander III. wurde er zunächst zum Eisenbahnminister ernannt, wenig später sogar zum russischen Finanzminister. Auf Wittes Drängen hin wurde schließlich das "Komitee der Sibirischen Eisenbahn" ins Leben gerufen. Dieses hatte die Aufgabe, neben dem Bahnbau auch die weitere Erschließung Sibiriens voranzutreiben.
Der erste Spatenstich für den Bau der Transsib erfolgte dann am 19. Mai 1891 um zehn Uhr morgens, und zwar durch den Sohn des Zaren. Die Vollmacht, die ihm sein Vater dafür ausgestellt hatte, hatte folgenden Wortlaut:
"Ich befehle nun, mit dem Bau einer durch ganz Sibirien gängigen Eisenbahnstrecke zu beginnen, die das Ziel hat, die reichhaltigen Naturschätze der sibirischen Gebiete mit dem inneren Schienenverkehrsnetz zu verbinden."
Der so genannte Ussuri-Abschnitt am östlichen Ende des russischen Reiches war insgesamt 769 Kilometer lang und wurde nach fünf Jahre Ende Oktober 1897 fertiggestellt. Parallel dazu entstanden zwischen 1892 und 1916 in westlicher Richtung fünf weitere Streckenabschnitte, die alle jeweils unabhängig voneinander in Angriff genommen wurden.
Insgesamt sollte sich der Bau der Transsibirischen Eisenbahn über einen Zeitraum von 25 Jahren erstrecken. Dabei verschlang das Projekt die für damalige Verhältnisse unglaubliche Summe von einer Milliarde Rubel.
Die Bedingungen, unter denen die Arbeiten an der Transsib vorangingen, waren schwierig. Der Reiseschriftsteller John Foster Fraser schreibt 1901:
"Ich habe Tausende von Arbeitern gesehen, stämmig gebaut, doch nicht groß, mit dunklen Gesichtern und starkem Bartwuchs, Männer voller Kraft. Sie alle sind sehr einfach gekleidet. Sie standen seitlich der Bahnlinie, wischten sich mit ihren behaarten Armen den Schweiß von der Stirn und nickten jedem, der den Kopf aus dem Fenster streckte, gutmütig zu. Oft blickte ich in die Dämmerung hinaus und sah, wie sie ihre erste Mahlzeit aus Tee und dunklem Brot verzehrten. Niemals sah ich sie bei irgendeiner Mahlzeit etwas anderes essen. Sie lebten von Tee und dunklem Brot und wirkten dabei nicht wie Schwächlinge. Einmal, oder weiter draußen auch zweimal in der Woche, hatten sie Fleisch zu essen. Ihr Lohn betrug zehn Pence pro Tag."
Es wird geschätzt, dass im Verlauf des Baus der Transsibirischen Eisenbahn etwa 50.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Im Jahre 1896 sollen etwa 90.000 bis 100.000 Personen zur gleichen Zeit an der Transsibirischen Eisenbahn gearbeitet haben. Der Diplomat und Eisenbahnfan Hans-Otto Meissner hat die Geschichte der Transsibirischen Eisenbahn ausführlich recherchiert. Über die damals mit dem Bau beschäftigten Männer schreibt er:
"Minister Witte holte bedenkenlos Zuchthäusler und politisch Verbannte zu den Baustellen. Unglaublich für jene Zeit war, dass sie ebenso bezahlt und verpflegt wurden wie freie Arbeiter, natürlich wurden sie auch viel besser behandelt als in den Straflagern. Praktisch konnte jeder in die Wildnis fliehen, der wollte, aber nur wenige forderten auf die Weise das Schicksal heraus. All diesen Männern hatte Witte zugesagt, nach dem Ende des Bahnbaus ihre restliche Strafzeit um etwa die Hälfte zu kürzen."
Die erste Strecke bis nach Kasan
"Morgen früh werden wir auch recht früh, sehr früh sogar, über die Wolga fahren – werden Sie wahrscheinlich die Gelegenheit haben, etwa eine Stunde, bevor wir nach Kasan kommen, auch die Wolga zu sehen. Da dürfte es schon hell sein. Unser Zug wird um 8:40 Uhr am Kasaner Hauptbahnhof einfahren." (Chefreiseleiter Hans-Joachim Bobsin)
Die Republik Tatarstan, deren Hauptstadt Kasan ist, ist rund 68.000 Quadratkilometer groß – und damit fast so groß wie der Freistaat Bayern. Von den etwa 1,2 Millionen Einwohnern der Stadt sind 52 Prozent tatarischen und 40 Prozent russischen Ursprungs.
Kasan wurde im Jahre 1010 gegründet. 1552 eroberte Iwan der Schreckliche die Stadt für das Russische Reich. Heute ist Kasan eine der wenigen russischen Städte mit einem vollständig erhaltenen Kreml.
Egal, ob Bauer, Business-Manager oder hochrangiger Militär: Auf der längsten Strecke der Welt bevorzugen die Passagiere in der Regel ein eher ungezwungenes Outfit. Mehrere Tage und Nächte im feinen Zwirn herumzusitzen beziehungsweise zu liegen, will sich verständlicherweise kaum jemand antun. Martin Kopetschke von der Bahnagentur Schöneberg:
"Ich bin eingestiegen, und da war schon jemand drin, im Abteil. Der hing da auch im Jogginganzug. Wir haben gut miteinander getrunken, gegessen, haben uns über Gott und die Welt unterhalten. Und als wir in Moskau ausstiegen, zog der sich um – und es stellte sich heraus, dass das ein General der russischen Armee war, mit seiner mit Orden behängten Uniform."
Es ist nicht nur die Länge der Strecke, die die Fahrt auf der Transsib zu einem so einmaligen Erlebnis macht. Auch der Blick aus dem Zugfenster ist besonders: Es herrscht Eintönigkeit vor. Tagelang säumen Millionen von Birken den Streckenrand.
Erik Bergengrens ließ in seinen Transsib-Erinnerungen einen Schweden namens Grenberg eine ziemliche Überraschung erleben, als dieser eines Abends das eigene Zweibett-Schlafwagenabteil betritt:
"Er wurde mit einem Schlage munter, als auf der Bettkante eine zierliche, wohlparfümierte junge Dame im Schlafanzug saß. Das pechschwarze Haar fiel ihr über den Nacken, wo der Ausschnitt eines Pyjamas anfing, dessen Raffiniertheit man mit nüchternen schwedischen Worten nicht beschreiben kann. Im Gepäcknetz lagen hübsche, neue Köfferchen. Auf dem Fensterbrett spielte ein kleines, praktisches Reisegrammophon.
Gerade, als er bei einem feinen Pianissimo mit einem Balanceakt in seinen feinen, gestreiften Pyjama stieg, ruckte der Zug heftig – und Herr Grenberg sah sich von der Fügung unsanft, aber wohlwollend auf die Bettkante des Mädchens geworfen. Er konnte nur noch ein freundliches 'Pardon!' über die Lippen bringen und saß schon auf einer angenehm kühlen Grammophonplatte, 'Salut d’amour', die dabei in Scherben ging. Ja, es gibt Zufälle im menschlichen Leben, bei denen es nichts nützt, dass man eine teure Unfallversicherung zuhause im Schreibtischkasten hat.
Da nun die Schlafstelle Grenbergs anderthalb Meter in der Luft hing und einsam und ungastlich aussah und andererseits Ane über die Kälte klagte und vom Licht gestört wurde, war es die Pflicht des ritterlichen Herrn Grenberg, dafür zu sorgen, dass diese Missstände abgestellt wurden. Er schaltete also die Lampe aus und breitete das Wärmste, was er hatte, über die kleine Ane. Da wurde es angenehmer."
Jekatarinburg nach fast 1.668 Kilometern
Der Name Jekatarinburg geht nicht etwa zurück auf die Zarin, Katharina die Große, sondern auf die heilige Ekatarina. Sie war die Schutzpatronin der zweiten Frau von Peter dem Großen, der späteren Zarin Ekatarina I.
Die so genannte Blutkathedrale in Jekaterinburg ist der Anlaufpunkt wohl fast aller Transsib-Reisenden. Errichtet wurde das russisch-orthodoxe Kirchengebäude in den Jahren 2002 und 2003 – und zwar genau an jener Stelle, an der im Sommer 1918 mehrere Angehörige der Zarenfamilie ermordet wurden.
Trailer zu "Doktor Schiwago" (1965) bei Youtube:
Gemessen an der Größe Russlands ist es von Jekatarinburg übrigens kaum mehr als ein Katzensprung bis nach Perm. Die Stadt am Fuße des Urals hat Boris Pasternak einst in seinem berühmten Roman "Doktor Schiwago" verewigt. Im Buch heißt die Stadt Jurjatin. Und der berühmte Arzt fuhr auch auf der Transsibirischen Eisenbahn, allerdings mit einem Güterwagen:
"Die Landschaft war winterlich: Gleise, Felder, Wälder und die Dächer in den Dörfern – alles lag unter tiefem Schnee. Die Familie Schiwago hatte das Glück, in der linken Ecke des Waggons in der Nähe eines länglichen Fensters, Pritschen zu finden. Dort konnten sie sich häuslich einrichten, ohne dass die Familie getrennt wurde. Drei Tage lang hörten sie die Achsen unter dem Boden des Waggons wie Schlegel eines aufziehbaren Spielzeugtrommlers klopfen."
Durch Sibirien
Trailer zu "Der Kurier des Zaren" (1970) bei Youtube:
Michael Strogoff machte sich Mitte der 1860er-Jahre auf den Weg. "Der Kurier des Zaren", der Jules Vernes Roman aus dem Jahre 1876 den Titel gab, sollte dessen Bruder in Irkutsk vor einem Verräter warnen. Weil die Telegrafenleitungen in Sibirien wegen eines Tatarenaufstands unterbrochen waren, musste Michael Strogoff die Nachricht persönlich überbringen. Von den über 5.000 Kilometern Strecke bis Irkutsk konnte der Kurier aber noch nicht einmal 500 Kilometer per Bahn zurücklegen – nämlich bis zur damaligen Endstation Nischni-Nowgorod. Von dort aus ging es für Michael Strogoff daher mit der Kutsche weiter. Der Ausbau der Großen Sibirischen Bahn in Richtung Osten sollte erst gut 25 Jahre später beginnen.
Sumpfig-graue Steppen werden durchzogen von beeindruckenden Flüssen, die der Zug auf stählernen Brücken überquert. Man mag sich kaum vorstellen, was wohl jene Menschen gefühlt haben mögen, die einst hierher in die Verbannung geschickt wurden. Die so genannte Katorga - abgeleitet vom griechischen "kateirgon", "zwingen" - war nach der Todesstrafe die schwerste Strafe im Reich des russischen Zaren.
Auch Fjodor Michailowitsch Dostojewski landete in einem sibirischen Zwangsarbeitslager bei Omsk. Für uns Durchreisende ist Omsk heutzutage kaum mehr als eine moderne Industriemetropole mit knapp 1,2 Millionen Einwohnern, gelegen am Transsib-Kilometer 2.711. Für Dostojewski aber war seine Verbannung hierhin offenbar die reine Hölle. Verarbeitet hat er seine Erfahrungen später in einem Buch mit dem vielsagenden Titel "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus":
"Die Arbeit selbst erschien mir beispielsweise gar nicht so schwer, wie ich es von der berühmten "sibirischen Zwangsarbeit" erwartete, und ich kam erst recht spät dahinter, dass die Schwere dieser Arbeit weniger in ihrer Schwierigkeit und ihrer ununterbrochenen Dauer bestand, als darin, dass sie erzwungen, obligatorisch, unter dem Stocke war. Ich trat übrigens ins Zuchthaus im Winter, im Dezember, ein und hatte zunächst keine Ahnung von der fünfmal schwereren Sommerarbeit."
Durch die Steppe
"Was wir nun durchquerten, war mehr eine Wasserlandschaft als eine Landschaft. Bauernhäuser und ganze Dörfer waren manchmal fast vollständig von Wasser umgeben; ein Landstrich, der eine riesige Menge Gänse und Enten hervorbrachte. Selbst das Grasland, auf dem die Rinder grasten, war voll von einer Art Wassertrichter, und in manchen von ihnen sprudelten Quellen." (Eric Newby über seine Fahrt mit der Transsib durch die so genannte Barabinsk-Steppe)
Der Bau der Eisenbahn durch diesen sonderbaren Landstrich von Omsk zum Fluss Ob begann im Mai 1893. Im August 1895, nach insgesamt 27 Monaten Bauzeit, war der etwa 650 Kilometer lange Gleisabschnitt fertiggestellt. Ab 1897 konnte die Transsib endlich von Moskau aus durchfahren bis Nowo-Sibirsk.
Nowo-Sibirsk, die sibirische Hauptstadt, hat ihre heutige Funktion als Verkehrsknotenpunkt vor allem einem eher simplen Umstand zu verdanken: Beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn war man ganz einfach auf der Suche nach einer geeigneten Stelle, an der man den mächtigen Ob würde überqueren können. So entstand hier, wo die gegenüberliegenden Flussufer nicht allzu weit voneinander entfernt sind, ab 1893 mit Nowo-Nikolajewsk - so der Vorläufername - eine kleine Siedlung mit 7.000 Einwohnern. Heute leben an gleicher Stelle etwa 1,5 Millionen Menschen.
Das Bahnhofsgebäude von Nowo-Sibirsk ist das Größte entlang der Transsibirischen Eisenbahn. Und wenn man sich auf dem ebenfalls recht imposanten Bahnhofsvorplatz umdreht, um das Bauwerk aus einiger Entfernung zu betrachten, dann kann man eine erstaunliche Entdeckung machen. Denn das zwischen 1930 und 1941 erbaute Gebäude erinnert von der äußeren Form her an eine gigantische Dampflokomotive.
Durch die Taiga
Transsib-Kilometer 4098, Fahrtzeit von Moskau 65 Stunden: Gegründet wurde Krasnojarsk im Jahre 1628 als Kosaken-Festung. 1773 wurde fast die gesamte Stadt bei einem Brand zerstört. Aufwärts ging es dann erst wieder ab 1820. Zu dieser Zeit wurde Krasnojarsk Hauptstadt des neu gegründeten Generalgouvernements von Ostsibirien.
Für den entscheidenden wirtschaftlichen Aufschwung sorgte schließlich der Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Deren erster Zug erreichte Krasnojarsk am 6. Dezember 1896. Drei Jahre später wurde dann die Eisenbahnbrücke über den Jenissei eröffnet. Der russische Dramatiker Anton Tschechow schrieb einmal:
"Im ganzen Leben sah ich nicht einen Fluss prachtvoller als den Jenissei."
Die Beschaffenheit der Landschaft hat sich inzwischen verändert. Von den vielen Millionen von Birken links und rechts der Gleise ist mittlerweile kaum noch etwas zu sehen. Stattdessen haben diese nach und nach der sibirischen Taiga Platz gemacht, dichte Nadelwälder. Anton Tschechow in seinem "sibirischen Reisetagebuch":
"Die Macht und der Zauber der Taiga besteht nicht in riesigen Bäumen, nicht in der Totenstille, sondern darin, dass vielleicht nur die Zugvögel wissen, wo sie endet. Am ersten Tag schenkt man ihr wenig Aufmerksamkeit, am zweiten und dritten Tag verwundert man sich, und am vierten und fünften ist einem zumute, als fände man sich nie wieder aus diesem Waldungeheuer hinaus."
Bahnkilometer 5.185: Irkutsk ist mit seinen knapp 600.000 Einwohnern das administrative und wirtschaftliche Zentrum Ost-Sibiriens. Schon bevor die Transsibirische Eisenbahn im August 1898 Irkutsk erreichte, hatte sich die Stadt als wichtiger Knotenpunkt für den Handel zwischen Asien und Europa etabliert. So wurden sibirische Pelze von hier aus nach China verkauft. Im Gegenzug gingen unter anderem Tee und Seide von China aus über Irkutsk in Richtung Westen.
Ein Ereignis ist einschneidend für die Stadt: Am 14. Dezember 1825 erhoben sich mehrere Dutzend adelige Offiziere, um der Selbstherrschaft des Zaren endlich ein Ende zu bereiten. Nikolaus I. ließ den Dekabristen-Aufstand blutig niederschlagen. Über 1.000 Menschen kamen ums Leben. Anschließend wurden insgesamt 120 Dekabristen durch den Zaren zur Strafe in die Verbannung nach Sibirien geschickt. Viele von ihnen landeten daraufhin in Irkutsk. Der Schweizer Schriftsteller und Transsib-Reisende Blaise Cendrars schrieb über die damaligen Ereignisse:
"Die ganze Stadt - mit dem Bürgermeister an der Spitze - hatte sich zum begeisterten Empfang versammelt, als die verurteilten Dekabristen 1826 in Irkutsk eintrafen. Die Strafe, die die adligen Offiziere wegen ihres Aufstandes gegen die Zarenherrschaft verbüßen mussten, wurde keineswegs als ehrenrührig empfunden. Niemand sollte so große Verehrung genießen wie die jungen Frauen, die ihren Männern damals freiwillig in die Verbannung nachfuhren, allen voran die gebürtige Französin Katjuscha Trubetzkaja, der bald die Fürstin Maria Wolkonskaja stürmisch folgte."
Am Baikal
"Und der Herr schaute und sah: Unerquicklich war ihm die Erde geraten. Hoffentlich würde sie sich nicht über ihren Schöpfer beschweren. Und damit sie ihm nicht gram wäre, machte er ihr ein Geschenk: Nicht etwa einen einfachen Schemel, auf den man die Füße stellt, schleuderte er ihr hinunter, sondern das Maß seiner Reichtümer selbst, mit dem er abwog, wieviel ein jeder zu erhalten hatte. Das Maß fiel auf die Erde und verwandelte sich in den Baikal." (Valentin Rasputin in "Skizzen über den Baikal")
Dass der Baikal – auf Deutsch "reicher See" – mühelos alle möglichen Rekorde bricht, lässt sich bereits ahnen, wenn man ihn nur von der Angara-Einmüdung aus betrachtet. In Richtung Süden ist außer den ringsum liegenden Bergen weit und breit nichts anderes zu sehen als Wasser - über 1.600 Meter tief, mehr als 25 Millionen Jahre alt. Damit ist der Baikal der älteste Süßwassersee der Erde.
Das Ziel der meisten Schiffe heißt Port Baikal und liegt am anderen Ufer der Angara-Mündung. Die Fahrt mit der Fähre dorthin dauert etwa eine Stunde. Von dort aus umfährt die Transsibirische Eisenbahn dann den südwestlichen Zipfel des Baikalsees, das Teilstück wurde im Oktober 1905 in Betrieb genommen. Bis dahin war den Betreibern nichts anderes übrig geblieben, als die aus nördlicher Richtung in Port Baikal eintreffenden Züge per Fähre oder im Winter per Schlitten über den Baikal zu transportieren. Der Reiseschriftsteller Karl Tanera unternahm eine derartige Tour im Frühjahr 1904.
"Am Schlittenplatz herrschte ein ungemein buntes, echt asiatisches Treiben. Einige 30 Schlitten für Passagiere, bespannt mit je einem großen, in der Duga gehenden Traber und einem oder zwei nebenher galoppierenden Pferden standen bereit; die Kutscher, teils russische Bauern, teils Tataren, teils mongolische Burjaten, schrien durcheinander. Wir hüllten uns in Pelze und Decken, und die Fahrt begann – eine der interessantesten, die ich je erlebt habe. Eine solche, unter leichtem, meist noch festgefrorenem Schnee liegende Eisfläche, umgeben von so wilden Felsen und mit Wald bedeckten Bergen, sieht man nicht oft.
Jetzt kamen wir in Nebel, darauf fing es zu schneien an, unser Kutscher deutete in die graue Masse vor uns und rief etwas, das ich nicht verstand. Sind sie schon tief ausgeleckt und das untere Eis trägt nicht mehr, dann bricht der Schlitten durch, und man wandert zu den Fischen des Sees zu Gast. So etwas kommt fast in jedem Jahre vor. Aber wir hatten Glück. Trotzdem gestehe ich, dass ich mit großer Beruhigung aufatmete, als ich endlich nach viereinhalbstündiger Fahrt das Ostufer erblickte."
Unterwegs in Burjatien
Die Selenga ist etwa 1.000 Kilometer lang und entspringt aus dem in der Mongolei gelegenen Khovskol-See. Wegen seiner Lage und Form wird dieser von den Einheimischen auch als der kleine Bruder des Baikal bezeichnet. Vom Khovskol-See aus zieht sich die Selenga wie eine Nabelschnur hin bis zum Baikal.
Die autonome Republik Burjatien ist eines von insgesamt 84 Mitgliedern der Russischen Föderation – und von der Fläche her in etwa so groß wie Frankreich. Insgesamt leben auf den gut 350.000 Quadratkilometern allerdings nur rund eine Million Menschen, und von diesen wiederum fast die Hälfte in der burjatischen Hauptstadt, Ulan Ude.
Seitdem die Transsibirische Eisenbahn Ulan Ude im Jahre 1900 erreicht hat, gilt die Stadt als wichtigster russischer Eisenbahn-Knotenpunkt östlich des Baikalsees. Hier verzweigt die Transsibirische mit der Transmongolischen Eisenbahn.
Das prächtige Opernhaus von Ulan Ude verbindet europäische Elemente mit orientalischen und fernöstlichen Einflüssen. Es betritt ein mit einfachem, weißen Leinenstoff bekleideter Mann die Bühne. Mit einer Pferdekopf-Geige und seiner Stimme produziert er Töne in einer Art, wie sie wohl nur die wenigsten von uns jemals zuvor jemals vernommen haben.
Der Kehlkopfgesang ist eine Form des so genannten Obertongesangs. Bei dieser Gesangstechnik werden unter anderem durch eine Verengung des Kehlkopfes einzelne Obertöne aus dem Klangspektrum der Stimme so herausgefiltert, dass sie als getrennte Töne wahrgenommen werden. Dadurch entsteht beim Hörer der Eindruck, als lausche er mehreren Gesangsstimmen gleichzeitig.
Diese musikalische Darbietung wird gewissermaßen zum Transsib-Abschiedslied. Denn hinter Ulan Ude wird die Transsibirische zur Transmongolischen Eisenbahn. Der Ort ist somit einer der möglichen Endpunkte der vielen Strecken der Transsib - neben Wladivostok.
Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Christian Blees, Regie: Rita Höhne, Sprecher: Jörg Hartmann, Gunter Schoss, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Webproduktion: Jörg Stroisch
Über den Autor:
Christian Blees studierte an der FU Berlin Publizistik, Politik und Theaterwissenschaften. Seit 1992 ist er als freier Journalist und Autor tätig, sehr stark für den öffentlich-rechtlichen Hörfunk. Schwerpunkt seiner Arbeit sind Radiofeatures zu kulturellen und politischen Themen, wie etwa der US-Rundfunkgeschichte, Martin Luther King, Glenn Miller, Nationalsozialismus und Stasi. Für sein Feature "Mythos JFK - Leben und Sterben des John F. Kennedy" erhielt er 2014 den Radiopreis der RIAS Berlin Kommission.