Novalis

Ich gehe in ein anderes Blau

 Ein Gemälde von Franz Gareis im Novalis-Museum im Schloss Oberwiederstedt bei Mansfeld zeigt den frühromantischen Dichter Novalis.
Novalis gilt als der bedeutendste Dichter der Frühromantik - und ist auch der bekannteste. Doch rund um die Romantik existieren eine Menge Missverständnisse. © picture alliance / ZB / Franz Gareis
Von Burkhard Reinartz |
Oft wird die Romantik mit Wissenschaftsfeindlichkeit in Verbindung gebracht. Die Lange Nacht über Novalis räumt mit solchen Vorurteilen auf: Denn der wohl berühmteste Romantiker war nicht nur Dichter und Philosoph, sondern auch Bergbauingenieur.

„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
[…] Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort“

aus: "Heinrich von Ofterdingen"

So schreibt der Dichter und Philosoph Novalis in einem berühmten Gedicht. Zeilen wie diese sind es wohl, die dazu geführt haben, dass die Romantik immer wieder mit Irrationalismus und Wissenschaftsfeindlichkeit in Verbindung gebracht wurde, nicht zuletzt seit Beginn der Coronakrise. Dass diese Lesart weder Novalis noch der Romantik gerecht wird, darum geht es unter anderem in dieser Langen Nacht.
Baum vor dem Schloss Oberwiederstedt, der Geburtsstätte von Novalis.
Schloss Oberwiederstedt in Sachsen-Anhalt, die Geburtsstätte von Novalis© imago / starmedia
Novalis, 1772 als Friedrich von Hardenberg geboren, gilt als der Dichter der Frühromantik. Doch ist noch weitgehend unbekannt, auf welch verschiedenen Ebenen der Künstler unterwegs war. Keineswegs lebte er eine Künstlerexistenz, die sich ausschließlich der Poesie widmet. Er war gleichzeitig Poet und Bergingenieur, Philosoph und naturwissenschaftlicher Forscher. Die Lange Nacht wird diese vielfältigen Dimensionen seines Lebens und Wirkens vorstellen und miteinander in Beziehung setzen. Und aufzeigen, wie modern Novalis und seine Mitstreiter in ihrem Denken waren.

Bruch mit der alten Ordnung

Denn Schlüsselbegriffe der Romantik wie Fantasie und Einbildungskraft sind Impulse, die nicht aus der Wirklichkeit hinausführen, sondern in die Lebenswirklichkeit der Jahrhundertwende um 1800 hinein. In eine Zeit der Erschütterungen der alten politischen Verhältnisse durch die Französische Revolution. Und in Zeiten des Zusammenbruchs religiöser Gewissheiten im Zuge der Aufklärung. In diesem Kontext begeben sich der junge Hardenberg und seine Geistesverwandten auf die Suche nach neuen Möglichkeiten des Denkens, Lebens und Fühlens:
„Bei den Romantikern, zu denen Novalis gehörte, handelt es sich um eine junge Generation“, erklärt Herbert Uerlings, emeritierter Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier und zwölf Jahre lang Präsident der internationalen Novalis-Gesellschaft. „Diese Generation hat die alte Ordnung, die alte politische Ordnung, die alten Ordnungen des Wissens, die Selbstverständlichkeit, mit der die christliche Religion unter Führung der Kirchen gelebt wurde, hat diese alte Ordnung nicht mehr als eine stabile Ordnung erlebt und deswegen sind sie offen für die Zukunft. Sie erleben ihre eigene Zeit als Zeit voller Möglichkeiten und voller Verheißungen.“

Sehnsucht nach der Blauen Blume

Vielleicht speist sich daraus jenes Gefühl, das wir intuitiv wohl am stärksten mit der Romantik verknüpfen – und das auch bei Novalis eine zentrale Rolle spielt: die Sehnsucht. Diese Sehnsucht richtet sich auf „das Unendliche, das Unbedingte, das nicht zu fassen ist“, sagt der Literaturwissenschaftler und Lyriker Dirk von Petersdorff. „Das ist für die Romantiker, für Novalis, eine ganz wichtige Vorstellung. Aber dieses Unbedingte, dieses Große und Ganze ist eben nicht zu fassen. Es ist auch ein Rätsel. Der Mensch konfrontiert sich mit ihm, er sagt: Da ist etwas, was eine Bedeutung für mich hat, etwas, was mich überwölbt. Aber das gibt mir keine ganz klaren Antworten mehr wie vielleicht im christlichen Glauben.“
Seltene Novalis-Handschrift: ein beidseitig beschriebenes Blatt aus einem Entwurf zum Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen".
Novalis' handschriftlicher Entwurf zum "Heinrich von Ofterdingen" war 200 Jahre lang verschollen, bevor er 2012 wieder auftauchte.© picture alliance / dpa / Goethe Haus / Kulturstiftung der Länder
Ein Symbol für diese Sehnsucht – dieses Streben nach etwas, das man doch nie erreichen wird – ist die berühmte „blaue Blume“, der der Protagonist in Novalis’ Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ in einem Traum begegnet und die eng mit dem Gesicht einer jungen Frau verknüpft ist. Die Blume stehe für „etwas Unbekanntes und etwas Schönes“, erläutert Herbert Uerlings. „Deswegen kann man sie auch nie abschließend definieren. Wichtig an diesem Bild ist, dass es sich ständig verändert. Das ist ein Traumbild, ist ein Sinnbild, ist eine Verheißung, ist, dass er aufwachen muss, dass er sich mit seiner ganzen Lebensreise auf die Suche machen muss. Dass er die Frau findet, dass die beiden ein Kind zeugen und dass er weiterzieht. Das ist gemeint mit unendlicher Sehnsucht, die aber ins Leben gebracht werden soll. Wichtig ist zu wissen, dass es eine unendliche, eine nicht abschließbare Bewegung gibt. Das ist die Bewegung, die das Universum kennzeichnet und unser individuelles Leben auch überschreitet.“

Die Welt durch Poesie „romantisieren“

Bezeichnend ist, dass Novalis selbst nicht von Romantik, sondern von „Romantisieren“ spricht, wie hier in den „Blütenstaub-Fragmenten: „Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“
Es geht ihm also um einen Prozess, eine Tätigkeit – sie bezieht sich auf eine Welt, die ihren Sinn verloren hat, weil sie säkularisiert, banalisiert, von Sinn befreit worden ist. Der Sinn, nach dem die Romantiker streben, lässt sich nicht einfach vorfinden, er muss hergestellt, aktiv in die Welt eingeführt werden. In diesem Prozess kommt der Dichtkunst eine besondere Rolle zu. Die Poesie soll dem Menschen das innere Fühlen für das Absolute offenbaren, höhere und niedere Welten in Harmonie bringen.

Welterkenntnis durch Selbsterkenntnis

„Es gibt das Vorurteil, Romantiker seien so Weltflüchtige, die mit der Erde und den Dingen ja gar nichts zu tun haben, sich immerfort in Fantasiewelten begeben – das sind sie nicht“, betont Dirk von Petersdorff. „Die Romantik beginnt bei den Dingen, und sie weiß auch: Über diese Dinge kommen wir nie hinaus. Das ist das, was wir haben. Das ist die Welt, die uns gegeben ist. Und die Idee der Romantiker ist jetzt aber, mit den Dingen so umzugehen, sie so zu gestalten, uns so anzusehen, dass sie auf etwas anderes hinweisen.“

Das vollständige Manuskript der Sendung findet sich hier.

Auch die Selbsterkenntnis, deren Wichtigkeit Novalis immer wieder hervorhebt, ist kein Selbstzweck, auch wenn er oft so missverstanden wird, sondern bereitet letztlich die Erkenntnis und Veränderung der Außenwelt vor. So schreibt Novalis, wiederum in den Blütenstaub-Fragmenten: „Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. […] Der erste Schritt wird Blick nach innen, absondernde Beschauung unseres Selbst. Doch wer hier stehen bleibt, geräth nur halb. Der zweyte Schritt muss wirksamer Blick nach Außen, selbstthätige, gehaltne Beobachtung der Außenwelt sein.“

Vernunft und Gefühl versöhnen

Dabei waren die Frühromantiker und Novalis im Besonderen stark beeinflusst durch die Philosophie Immanuel Kants und Johann Gottlieb Fichtes, so von Petersdorff weiter: „Diese beiden Philosophen bringen die Erkenntnis in die Welt, dass unser Wissen immer begrenzt ist. Unser Wissen ist vorläufig, und zwar deshalb, weil wir mit unserem Bewusstsein keinen direkten Zugriff auf die Welt haben, sondern das Bewusstsein wie so ein Filter sich zwischen uns und die Welt schiebt und wir alles immer nur in den Formen dieses Bewusstseins wahrnehmen können.“

Wichtigste Werke:

  • "Blüthenstaub" (1798 in der Zeitschrift Athenaeum von Friedrich Schlegel)
  • "Hymnen an die Nacht" (entstanden 1799/1800, herausgegeben 1800)
  • "Europa" (entstanden 1799, erschienen 1826 als "Die Christenheit oder Europa")
  • "Die Lehrlinge zu Sais" (Romanfragment, herausgegeben 1802)
  • "Heinrich von Ofterdingen" (Romanfragment, herausgegeben 1802)
  • "Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren" (Gedicht aus dem Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen")

Das, was wir verstandesmäßig nicht erkennen können, lässt sich für Novalis aber fühlen, ergänzt Herbert Uerlings: „Ich kann fühlen, dass da etwas ist. Das ist gemeint mit Zugang zum Übersinnlichen. Dieses Übersinnliche ist das, was in anderer Terminologie genannt wird: Gott, das Unendliche oder das Absolute. Es wird also keineswegs die Kantische Vernunft-Kritik über Bord geworfen. Keineswegs wird Irrationalismus gepredigt. Keineswegs wird behauptet, dieses Übersinnliche, das kann ich dingfest machen, kann ich als eine begrifflich ausformulierte Lehre, als absolute Wahrheit verkaufen. Es ist ein Gefühl des Unendlichen.“
Tatsächlich ging es Novalis und seinen Mitstreitern um eine Versöhnung von Vernunft und Gefühl, Ratio und Metaphysik, betont Uerlings: „Mit technikfeindlicher Natur-Schwärmerei hat Novalis nun weiß Gott nichts zu tun. Er war ein ausgebildeter Naturwissenschaftler und Naturforscher.“

Dichter und Bergbauingenieur

Denn nach seinem Philosophiestudium in Jena – unter anderem bei Friedrich Schiller – hat Hardenberg ab 1797 in Freiberg Bergbauwissenschaften studiert, erzählt die Germanistin und Novalis-Kennerin Gabriele Rommel, lange Zeit Direktorin der Forschungsstätte für Frühromantik: „Danach ist er als Assistent bei der Salinen-Direktion in Weißenfels eingestellt worden. Am Ende war er ein Bergingenieur und Verfahrenstechniker.“
Novalis-Grabstätte in Weißenfels.
Die Novalis-Grabstätte in Weißenfels.© picture-alliance / ZB
Novalis’ Idee einer „Religion des sichtbaren Weltalls“, bei der er von den zeitgenössischen Erkenntnissen zur Bewegung des Licht durch das Weltall ausging, zeigt, wie fortschrittlich die Frühromantiker Wissenschaft und Religion verbanden. Genau das war im Fall der Religion ihr Ziel: Vordergründig Widersprüchliches auf einer höheren Ebene zusammen zu führen.

Skepsis und Glauben zugleich

Im Umgang mit Ambivalenz und (scheinbar) Widersprüchlichem liegt womöglich auch die Aktualität der Romantik und von Novalis im Besonderen – jedenfalls für Dirk von Petersdorff: „Novalis ist ein Autor, der beides vereint, er ist ein skeptischer Autor, eben weil er um die Grenzen unserer Erkenntnis weiß. Und er ist gleichzeitig ein gläubiger Mensch, der sagt: Es zeichnet uns aus, dass wir nach letzten Gewissheiten fragen – auch wenn wir dort vielleicht nicht ankommen. Es geht da beides miteinander einher, und das ist für moderne Menschen sicher auch attraktiv an Novalis. Skepsis und so eine gewisse Ironie, auch Bescheidung, aber Festhalten an den letzten großen Wahrheiten, auf die wir uns zubewegen können.“

Produktion dieser Langen Nacht:
Autor und Regie: Burkhard Reinartz; Sprecherinnen und Sprecher: André Kaczmarczyk, Rebecca Madita Hundt, Jean Paul Baeck, Claudia Mischke und Tom Jakobs; Redaktion: Monika Künzel, Webdarstellung: Constantin Hühn

Bücher zum Thema:

Dirk von Petersdorff: "Romantik. Eine Einführung"
Klostermann, Frankfurt a.M. 2020
162 Seiten, 16,80 Euro

Novalis: "Die Poesie des Unendlichen. Dichtungen und Texte des Universalgeistes der Frühromantik"
Hg. v. Gabriele Rommel
Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2022
272 Seiten, 22 Euro

Herbert Uerlings: "Novalis"
Reclam, Stuttgart 1998
248 Seiten, 5,99 Euro (PDF)

Mehr zum Thema