Alleinsein
Alleinsein kann Entspannung bedeuten - aber auch die reinste Folter sein. © Unsplash / Vladimir Fedotov
Vermessung der inneren Welt
Wenn Menschen allein sind, vermuten wir meist einen Mangel – dabei kann Alleinsein auch ein Segen sein. Die Lange Nacht skizziert eine Kulturgeschichte des Alleinseins in all seiner Ambivalenz.
Wenn jemand allein ist oder es sein will, werden wir schnell hellhörig: Stimmt etwas nicht mit diesem Menschen? Was fehlt ihm? Möchte er etwas verbergen? "Was baut er da drinnen?", heißt es in einem Lied von Tom Waits. Alleinsein nehmen wir meist als problematisch wahr – oder setzen es direkt mit Einsamkeit gleich.
Fluch und Segen des Alleinseins
Diese Lange Nacht zeichnet dagegen ein vielfältiges Bild des Alleinseins: Sie folgt den Spuren des Alleinseins von der Antike bis zur Gegenwart in seinen dunklen wie in seinen hellen Seiten; nimmt den Blick von außen ein ebenso wie die Innensicht derer, die allein sind oder es sein wollen. Und sie greift dazu auf zahlreiche Beispiele aus Literatur- und Filmgeschichte zurück.
Alleinsein ist zwiespältig: Mal leiden wir daran, mal sehnen wir es geradezu herbei. Wir können es als Befreiung vom Druck sozialer Erwartungen erleben, aber auch als schmerzhafte Isolation.
Und manchmal sind wir körperlich allein, aber fühlen uns nicht einsam – dann sind wir unter lauter Menschen, aber fühlen uns schrecklich allein.
Das vollständige Manuskript dieser Langen Nacht finden Sie hier.
Wer sich, wie die meisten Menschen, tagtäglich durch den öffentlichen Raum von Städten bewegen muss, ist mit der unabwendbaren Präsenz der Anderen konfrontiert. Er zwängt sich in überfüllte U-Bahnen, weicht Entgegenkommenden auf zu engen Bürgersteigen aus, steht an der Kasse Schlange, oder ärgert sich über die nervenden Kollegen im Großraumbüro.
Kein Wunder, dass angesichts dieser Überdosis an Anderen Gegengifte der Einsamkeit nötig sind. Die Anziehungskraft des Alleinseins macht sich nicht zuletzt darin bemerkbar, dass es inzwischen erfolgreich als Geschäftsmodell bewirtschaftet wird.
Eine ganze Entspannungsindustrie widmet sich seiner möglichst effizienten und störungsfreien Gestaltung. Ein Extrembeispiel ist der sogenannte „Floater“, der einen für eine begrenzte Zeit in völlige Dunkelheit, Stille und Schwerelosigkeit taucht – die völlige Abkapselung von der Außenwelt. Der Floater beruht also auf demselben Prinzip wie die Isolationshaft – ein Zeichen für die Ambivalenz des Alleinseins: Es kann Lohn oder Strafe sein, Entspannung oder Folter.
Erholung von der Tyrannei der anderen
Besonders eindrücklich verkörpert diese Ambivalenz des Alleinseins Charles Baudelaire, mit dem die moderne Literatur beginnt.
Zunächst feiert er in seinen Aufzeichnungen die Einsamkeit in den höchsten Tönen: „Endlich allein! … Für ein paar Stunden werden wir Stille, wenn nicht gar Ruhe haben. Endlich! Die Tyrannei des menschlichen Gesichts ist verschwunden und nur noch durch mich selbst werde ich leiden. Endlich! So ist es mir nun erlaubt, mich in einem Bad aus Dunkelheit zu erholen!“
Nach längerem Alleinsein aber spürt er ein „Wehen von den Flügeln der Verblödung“ und beschreibt unheimliche Wachträume.
In Baudelaires Schriften zeigt sich zugleich die helle und die dunkle Seite des Alleinseins. Er kennt und feiert die befreiende, die erlösende Einsamkeit, die mich zumindest temporär von sozialem Druck, vom Terror befreit, Leistung bringen zu müssen, bewertet zu werden, das Gesicht wahren zu müssen.
Doch Baudelaire steht auch für die zerstörerische Seite des Alleinseins, für das Gefühl der Isolation und den damit verbundenen Zerfall der Persönlichkeit.
Janusköpfiges Alleinsein
Auch Georg Büchner beschreibt diese Janusköpfigkeit in seinem Erzählfragment „Lenz“. Darin streift der gleichnamige Protagonist durch die Natur und durchlebt einen permanenten Wechsel zwischen Euphorie und Verzweiflung, zwischen dem Alleinsein als Fülle und dem Alleinsein als Leere – zwischen einem Alleinsein, in dem der Solist sich mit allem verbunden fühlt und einem Alleinsein, in dem er von allem Anderen getrennt ist.
Es handelt sich um eine Pendelbewegung im Erleben der Einsamkeit, um das Schwanken zwischen ihrem, wenn man so will, manischen und ihrem depressiven Pol: „...er wühlte sich ins All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloss die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein und tauchte sich in einen brausenden Strom. (…) Es fasste ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts; er war im Leeren! Er riss sich auf und flog den Abhang hinunter.“
Zwischen Befreiung und Wahnsinn
Im Guten baue ich Stress und Spannung ab, wenn ich allein bin, erhole mich von den gesellschaftlichen Anforderungen, tanke neue Kraft und Energie. Im Schlechten aber kann das Alleinsein im Extremfall in den Wahnsinn führen. Auch der „Tick“ oder „Spleen“, den wir entwickeln, wenn wir allein sind, bewegt sich zwischen diesen Polen: Wenn wir mit uns selbst sprechen, vor uns hin summen oder unwillkürlich bestimmte Bewegungen wiederholen. Auch das ist in gewisser Weise eine Form der „Verrücktheit“.
Zugespitzt zeigt sich das in Stanley Kubricks Film „Shining“: Der Schriftsteller Jack Torrance zieht sich zum Schreiben in ein verlassenes Berghotel zurück und verliert sich immer stärker in merkwürdigen Marotten und gedankenlosen Wiederholungen – bis er schließlich versucht, seine Frau und seinen Sohn umzubringen. Allerdings sollten wir uns davor hüten, deshalb das Alleinsein oder den Tic selbst zu pathologisieren.
In ihrer milden Variante hat die „Verrückung“ des Ticks durchaus etwas Lustvolles, Befreiendes: Wenn die soziale Maske nicht mehr nötig ist, die ich brauche, um mit Anderen kommunizieren zu können, kommt das, was sie normalerweise verdeckt, zum Vorschein. Es setzen unbewusste Automatismen ein: Ich tue bestimmte Dinge, ohne dass ich es will oder mir vornehme.
Erlösung vom Selbst statt Selbstfindung
Der Blick nach innen, der möglich wird, wenn ich mit mir allein bin, offenbart – anders als es einige Philosophen glauben – kein wahres Gesicht jenseits der sozialen Masken. Es ist eher so, dass alles, was ansonsten im Hintergrund läuft, in den Vordergrund rückt, vom Betriebsraum aufs Promenadendeck wandert. Allein mit mir begegne ich nicht mir selbst. Es ist genau umgekehrt: allein mit mir bin ich endlich auch von mir selbst erlöst. Aus meiner Mitte scheint keine Sonne, in meiner Mitte befindet sich ein schwarzes Loch.
Wie ich mir im Alleinsein nicht selbst begegne, so kann ich auch in Gesellschaft einsam bleiben – gerade dann, wenn ich nie allein bin, wenn mir besonders viel öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird.
Dieses scheinbare Paradox meinte wohl die Schauspielerin Greta Garbo mit ihrem berühmten Zitat: „Ich habe nie gesagt: 'Ich will allein sein.' Ich sagte: 'Ich will allein gelassen werden' – das ist ein Riesenunterschied.“ Allein gelassen werden, um endlich nicht mehr einsam zu sein: Die Kameras und Fotoapparate müssen ausgeschaltet werden, damit eine wirkliche Intimität zwischen Personen entstehen kann.
Gemeinsam allein
Andere suchen gerade das Alleinsein in der Menge und schöpfen aus dieser Position eine umso genauere Beobachtung des geselligen Treibens – etwa der schon erwähnte Charles Baudelaire oder andere „Flaneure“. Und alle unter uns, die das gesellschaftliche Treiben mit Musik auf den Ohren durchschreiten. Der „Walkman“, der in den 80er Jahren seine Hochzeit erlebte und heute in iPods oder Smartphones seine Fortsetzung erlebt, ermöglichte jedem, was bei Baudelaire noch einzig und allein dem Dichter vorbehalten war: die Vermählung mit der Menge qua Einbildungskraft, das Alleinsein unter vielen, das sich nicht von der Wirklichkeit abwendet, sondern sich ihr auf eine neue, poetische Weise zuwendet.
Andersherum entsteht gerade im gemeinsamen Alleinsein manchmal die größte Vertrautheit: So erzählt eine Anekdote davon, dass Immanuel Kant seinen Freund Joseph Green jeden Tag zum gemeinsamen Nachmittagsschlaf besuchte – ohne sonst groß miteinander zu reden.
Kants Gewohnheit ist ein sicher schrulliges, aber auch rührendes Beispiel für ein gemeinsames Alleinsein. Wirkliche Verbundenheit zeigt sich daran, dass ich zusammen mit dem Anderen allein sein darf, dass keine sozialen Konventionen mich zwingen, zu kommunizieren oder zu unterhalten. Nur mit Freunden oder Geliebten, nicht mit Feinden oder Gegnern kann ich gemeinsam schlafen und gemeinsam allein sein.
Das Alleinsein mit und unter Anderen lässt sich also unterscheiden in das Alleinsein in der Menge, die mir zu Anonymität und innerer Verwandlung verhilft, oder in das Alleinsein mit dem Lebenspartner, mit einem engen Freund, mit Verwandten. Es kann ein Alleinsein unter vielen sein oder ein Alleinsein mit wenigen.
So oder so geht es beim Alleinsein nur im Extremfall um einen kompletten Rückzug von den Menschen und der Welt. Meistens heißt Alleinsein: einige ausschließen, um andere desto intensiver einschließen zu können, die Zweisamkeit intensiver zu erleben.
Wenn wir allein sind, beleben wir die Dinge
Das Alleinsein mit sich selbst droht dagegen immer, von dem, was es ausschließen will, heimgesucht zu werden. Ich kann die Welt und die Zeit nicht ausschließen, indem ich mich isoliere. Denn sie ist längst in mich eingewandert. Sie spukt als Gespenst in meinem Kopf, und je einsamer ich bin, desto lauter macht sie sich vernehmbar. Im Alleinsein mit Anderen, mit geliebten Personen, kann ich dagegen viel eher die Zeit vergessen und mich fallenlassen. Denn hier, in der intensiven Begegnung, wird nicht nur die störende Rest-Außenwelt ausgeblendet, sondern es werden auch die Gespenster aus meinem Kopf ausgetrieben. Nur das gemeinsame Alleinsein lässt Intimität zu und kann mir das bescheren, was wir alle suchen: das unbeschwerte Alleinsein.
Wenn gar kein anderer Mensch in der Nähe ist, dann finden wir Gesellschaft in der unbelebten Umgebung, wie der Philosoph Gaston Bachelard beschrieben hat: Die Dinge sind nicht mehr bloße Gegenstände oder Werkzeuge. Mein Alleinsein beginnt, sie zu beleben. Ich brauche einen Ansprechpartner, ein Gegenüber, der meine Einsamkeit teilt und bevölkert – außer den Dingen ist ja keiner da. Robinson Crusoe beginnt, aus den geretteten Gegenständen seines Schiffes sein gewohntes englisches Umfeld nachzubauen. Und im Film „Cast Away“ macht der gestrandete Protagonist einen angespülten Volleyball zu seinem Freund und Gesprächspartner.
Nie mehr allein dank Radio und Internet?
Letztlich, so ließe sich folgern, sind wir nie allein – selbst, wenn wir allein sind. Das gilt spätestens mit dem Aufkommen der modernen Medien, vom Radio bis zum Internet: Spätestens das World Wide Web hat mir die Möglichkeit gegeben, allein mit der ganzen Welt zu sein. Mussten sich die frühen Solo-Künstler den Anderen in ihrem Kopf noch mühsam hinzuerfinden, so werden durch die modernen Medien diese Anderen direkt in meine Einsamkeit mitgeliefert. Ihre Stimmen aus dem Radio, dem Fernsehen oder dem Messenger bringen mich auch dann in Kontakt mit der Welt, wenn ich allein bin. Ich mag wie Baudelaire die Tür hinter mir schließen, die Fenster zur Welt bleiben doch immer auf.
Die Spuren, denen wir in dieser langen Nacht folgen, zeigen, wie vielschichtig das Verhältnis zwischen Ich und Anderen ist: Sowohl kann ich bei mir selbst bleiben, wenn ich mich unter Andere begebe, als auch den Kontakt zu Anderen behalten, wenn ich mich zurückziehe. Und erst der, der die Kunst des Alleinseins erlernt hat, kann auch aus sich herauskommen.
Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Sven Rücker
Regie: Stefan Hilsbecher und Klaus Michael Klingsporn
Sprecher und Sprecherinnen: Burghart Klaußner, Bernhard Schütz, Stefan Kaminski, Cornelia Schönwald
Redaktion: Dr. Monika Künzel
Webbegleitung: Constantin Hühn.