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Melancholie, Stolz und Aufbegehren
Von der Gründung des italienischen Nationalstaates versprach sich Sizilien Fortschritt. Von diesem unerfüllten Wunsch, der Suche nach dem eigenen Ich und dem Gedeihen der Mafia in diesem Spannungsfeld handeln die Romane großer sizilianischer Autoren.
Wer sind wir eigentlich? Das fragen viele sizilianischen Schriftsteller eindringlich. Denn die Geschichte der Insel ist geprägt von Kolonialisierung. Ihr analytischer Geist bezieht sizilianische Familienverhältnisse ebenso ein wie die Macht der Mütter über ihre Söhne.
Verga, Capuana, de Roberto und Brancati: Ostzilien und Catania
Giovanni Verga wird 1840 in eine Großgrundbesitzerfamilie geboren und verlässt 32-jährig seine Heimat in Richtung Norden. Er fragt, was die Einigung zum italienischen Nationalstaat wirklich gebracht hat, will wie die Vorbilder unter den französischen Schriftstellern Leben und Leid der einfachen Leute, vor allem der Sizilianer, aufzeigen. Damit begründet er den literarischen Stil des Verismus, womit eine in der Literatur unverfälschte, wahre Darstellung der beobachteten Realität gemeint ist.
"Der Verismus ist sozusagen die italienische Spielart des Naturalismus. Es war in der gehobenen Bourgeoisie Norditaliens sehr schick, dieses wilde, triebgeführte Sizilien gegenüberzustellen." (Peter Peter)
Giovanni Verga will aufklären. Die vielversprechende Vereinigung von Italiens Norden mit dem Süden erbringt für Sizilien keinen Aufschwung. Die Literatur des Verismus klagt an. Vergas Romane sind bis heute Standardwerke der italienischen Literatur. Viele Autoren folgen:
- Den sezierenden Blick gerade auf die Armen in Sizilien und dort vor allem in Palermo setzte ab Mitte des 20. Jahrhunderts der ausgebildete Soziologe und aus dem Norden zugereiste Sohn eines sizilianischen Eisenbahners, Danilo Dolci, fort. Wegen seiner Anti-Mafia-Initiativen und dem Aufbau einer gewaltfreien sozialen Bewegung wurde er der "Gandhi Siziliens" genannt.
- Luigi Capuana ist 1839 in Mineo bei Catania als Sohn eines wohlhabenden Gutsherrn geboren. Herausragend ist Capuana mit seinem außergewöhnlichen Interesse für die weibliche Psyche. Schon in seiner ersten Sammlung von Erzählungen widmet er sich Frauenfiguren, was nicht nur für Sizilien, sondern für ganz Italien eine Neuheit ist. "Giacinta" wird im Jahr 1879 ein Skandalerfolg.
- Federico de Roberto wurde 1861 in Neapel von sizilianischen Eltern geboren. Seine Romane spielen ausschließlich in der Oberschicht mit ihrem provinziellen Adel. Seine Suche und Darstellung der Wahrheit dringt in das Innere seiner Figuren und deren moralischen Verfall ein. So auch in De Robertos Hauptwerk "Die Vizekönige", wo es um den Niedergang eines Adelsgeschlechts in der Zeit vor der Einheit Italiens geht.
- Vitaliano Brancati wird 1907 in Pachino bei Syrakus, ganz im Süden Siziliens geboren. Er nimmt auf sehr intelligente und komische Weise den sizilianischen Mann auf die Schippe. Brancati hat ein starkes Gespür für den Wandel der Geschlechterrollen. Seine Helden geraten regelmäßig in Beischlafstress. Gibt es doch in der Gesellschaft soviel Schein darum, wie ein ganzer Kerl zu sein hat und wie er im Nu die vielen Frauen in der Welt erfolgreich zu erobern hat, dass das Sein hinter dem Schein schwierig zu leben ist.
- Elio Vittorini wurde 1901 bei Syrakus als Sohn eines Eisenbahners geboren. Er ist einer der wichtigen italienischen Nachkriegsautoren und -intellektuellen. Sein wichtigstes Buch "Gespräch in Sizilien" erscheint 1941 und schildert die Reise des Ich-Erzählers aus dem italienischen Norden in das zurückgebliebene Sizilien zu seiner Mutter.
Pirandello, Camilleri Lampedusa und andere: Innersizilien und Palermo
Die Geschichte der Kolonialisierungen Siziliens über die Jahrhunderte durch verschiedene Herrscherhäuser ist beispiellos und prägt den Charakter der Inselbevölkerung. Für die sizilianischen Schriftsteller ist diese Prägung bis heute ein großes Thema. Wer sind wir? Was ist unsere gemeinsame Identität? Da die Herausbildung moderner Staaten derartige Fragen deutlicher als vorher aufkommen lässt, konnte die sizilianische Literatur nach der Vereinigung Italiens über die eigenen Grenzen hinaus so ein bedeutsames Echo erhalten. Fragen zur Identität und zu Schein und Sein im sozialen Leben – das ist das literarische Feld von Luigi Pirandello:
"Weil er ganz stark diese Erfahrung der Zerrissenheit des Ichs in der Moderne auf den Punkt gebracht hat. Er kann nicht so leben, wie er will. Er muss sich in irgendeiner Form abfinden mit diesen Erwartungen, die immer wieder an ihn gestellt werden." (Maike Albath)
Trotz seiner Nähe zum italienischen Faschismus zählt Luigi Pirandello zu den bedeutendsten Dramatikern des 20. Jahrhunderts.
Auch Andrea Camilleri hat sich in seinem intensiven schriftstellerischen Leben viel mit sizilianischer Geschichte beschäftigt. Bis zu seiner Pensionierung war er Theater- und Fernseh-Regisseur. Erst danach hat er so richtig mit Schreiben losgelegt. Durch die Fernsehverfilmungen seiner Montalbano-Krimis ist er in Deutschland heute beinahe so beliebt wie in Italien und hierzulande der wohl bekannteste italienische Schriftsteller.
Giuseppe Garibaldi ging mit seinen tausend kampfesmutigen Mannen zur Vertreibung der Bourbonen ebendort im Hafen von Marsala an Land. General Garibaldi spielte für die Literatur von Giuseppe Tomasi di Lampedusa eine bedeutende Rolle. Sein Roman "Der Leopard" (mit der neuen Übersetzung heißt der Titel "Der Gattopardo") beginnt im für ganz Italien bedeutenden Jahr 1860. Giuseppe Tomasi di Lampedusa thematisiert den Abstieg seines eigenen Adelsgeschlechts, eines der ältesten in der sizilianischen Geschichte. Der Roman wurde zum Abgesang auf die aristokratische Welt Siziliens.
Leonardo Sciascia: Aufklären über die Mafia
Leonardo Sciascias erster Roman "Der Tag der Eule" erschien 1961 und hatte in Italien und international mit fast einer Million verkaufter Exemplare einen durchschlagenden Erfolg. Das hatte noch kein Schriftsteller zuvor gewagt: Einen Roman über die Sizilien immer stärker dominierende organisierte Kriminalität zu schreiben und mit dem Wort Mafia deutlich zu benennen:
"Der Autobus sollte gerade losfahren. Er brummte erst, ratterte und heulte dann plötzlich auf. Schweigend lag der Platz im Grau der Morgendämmerung. Nebelstreifen hingen an den Türmen der Pfarrkirche. Nur der Autobus brummte. Der letzte Blick des Schaffners fiel auf den Mann in Schwarz, der herbeirannte. 'Einen Augenblick', sagte der Schaffner zu dem Fahrer und öffnete noch während des Fahrens die Wagentür. Da knallten zwei Schüsse. Der Mann in Schwarz, der gerade auf das Trittbrett springen wollte, schwebte einen Augenblick lang in der Luft, als halte eine unsichtbare Hand ihn empor. Die Mappe entglitt seiner Hand. Langsam sank er über ihr zusammen."
Die Businsassen bleiben angesichts des Geschehenen stumm. Der aus dem norditalienischen Parma kommende Carabiniere-Kommissar Bellodi findet zwar Spuren. Aber es braucht Zeugen, und niemand steht als Zeuge zur Verfügung. Schließlich wird Bellodi zurück nach Norditalien abgerufen und unten im Süden alles geglättet: Es habe sich um ein Delikt aus Leidenschaft gehandelt. Wie Bellodi bleibt auch der Leser mit dem Ende der Geschichte ganz und gar unbefriedigt.
Ein Buch, mit dem eigentlich schon alles gesagt ist
Der "Tag der Eule" gilt als Urform des Mafia-Romans. Ein Buch, mit dem eigentlich schon alles gesagt ist. Sciascia klärt auf, über die Schattenseiten der sizilianischen und italienischen Gesellschaft, über die wenig sichtbare Welt der kleinen und großen Gefälligkeiten, der stillen Arrangements zwischen den feinen Honoratioren in der Stadt mit den weniger feinen der Parallelwelt der organisierten Kriminalität.
"Der Roman war eine Revolution, die in den gesitteten Salons der schönen Literatur mit diesem Blut beschmierten Gespenst, das die Mafia darstellt, einbrach. Eine Revolution, die eine schockierende Wirkung haben musste." (Antonio Di Grado)
"Sciascia hat uns 1961 an die Mafia erinnert und tat dies in einem Moment, als der italienische Staat in Rom die erste parlamentarische Anti-Mafia-Kommission gründete. Einige Sizilianer fühlten sich beleidigt und erklärten, dass die Mafia eine Erfindung des Nordens sei. Sciascia nimmt einen Wasserschlauch, begießt sie alle und sagt: Es gibt die Mafia." (Giancarlo De Cataldo, Richter am Schwurgericht in Rom)
Die moralische Degeneration der staatlichen Institutionen
"Ich bin zu einem geworden, der über die Mafia schreibt. Und zwar deshalb, weil ich sie in den Jahren meiner Kindheit erlebt habe. Ich war Beobachter ihrer Unterdrückung durch (Cesare) Mori. Kindlicher Beobachter, aber genau deshalb habe ich unauslöschliche Erinnerungen. Und dann habe ich gesehen, wie sie in der Nachkriegszeit wieder auferstand."
Der Roman "Der Zusammenhang" wurde 1976 von Francesco Rosi verfilmt und lief im Deutschen unter dem Titel "Die Macht und ihr Preis". In keinem anderen seiner Romane zeigt Sciascia so deutlich: Die Mafia ist mit ihrer verkommenen Moral nicht mehr subversiv, sondern im Zentrum der Macht angekommen. In keinem anderen seiner Romane beklagt er deutlicher die moralische Degeneration der staatlichen Institutionen.
Drei Jahre nach Sciascias Tod wird der Mafia-Boss Buscetta zum Kronzeugen. Gegenüber den Ermittlern spricht er auch über die Verbindungen der Mafia zu einem der wichtigsten italienischen Spitzenpolitiker der Nachkriegszeit, Giulio Andreotti, über den Sciascia geschrieben hatte, er vereinige in sich das Schlechteste aus Jahrhunderten italienischer Geschichte, unter ihm habe die Korruption in Italien ihre volle Blüte erreicht.
1994, noch während der Prozess gegen Andreotti läuft, zieht Silvio Berlusconi in den Palazzo Chigi, den römischen Regierungspalast, ein. Bis 2011 wird er viermal als italienischer Ministerpräsident amtieren. Auch über ihn hätte Sciascia viel zu sagen gehabt.