Langer Atem
Seit knapp zwei Wochen demonstrieren Zehntausende auf dem Taskim-Platz und im Gezi-Park in Istanbul. Die Jugend der Türkei probt den Aufstand. Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan beschimpft sie, nennt sie Marodeure.
Faustgroße Köfte brutzeln auf einem fahrbaren Grill, hüllen den Istanbuler Taksim-Platz in dichte Rauchschwaden. Ein Mann verkauft türkischen Tee aus zwei Thermoskannen, die er über den Platz schleppt, ein dritter fischt heiße Maiskolben aus einem riesigen Topf auf zwei Rädern.
Das beste Geschäft an diesem Abend aber machen die vielleicht 18-jährigen Jungs, die Schutzhelme und Taucherbrillen auf einem umgedrehten Pappkarton ausgebreitet haben. Nur bei ihnen stehen die Kunden Schlange:
"Wir haben uns Helme gekauft, aus Angst vor Kopfverletzungen",
erklärt ein junges Mädchen und tippt sich an den knallroten Bauarbeiterhelm.
"Außerdem haben wir Wasser mit Backtriebmittel dabei, um die brennenden Augen auszuwischen. Und natürlich Taucherbrillen und Gasmasken."
Das Mädchen posiert, eine Freundin fotografiert sie von der Seite. Man könnte meinen, sie wären zum Spaß hier.
Durch den Gezi-Park gleich nebenan schieben sich Tausende. Es ist jetzt kurz vor Mitternacht. Rechts und links der Wege reihen sich die Zelte aneinander, in denen seit Tagen Istanbuler schlafen und den Park so besetzt halten. Junge, Alte - manche mit Piercing und Oberarm-Tatoo, manche mit Kopftuch und Pluderhose. Auch wer scheinbar entspannt vor einem der Zelte sitzt, nestelt nebenbei an seiner Gasmakse herum. Die, die unter den Bäumen einen großen Kreis gebildet haben und seit Stunden tanzen, haben allesamt Helme auf dem Kopf.
"Das letzte Mal, als die Polizei hier angegriffen hat, war das Tränengas überall",
weiß Can, der seit zwei Wochen jeden Abend nach der Arbeit hierher kommt, um zu demonstrieren.
"Sie sind damals nicht in den Park gekommen, aber sie haben ununterbrochen von außen Tränengas hineingeschossen. Genau hierhin, wo wir jetzt stehen."
Can zieht ein Handy aus der Tasche, zeigt ein Video vom vergangenen Dienstag. Menschen fliegen im Strahl der Wasserwerfer übers Kopfsteinpflaster, Plastikgugeln und Molotow-Cocktails sausen durch die Luft, als die Polizei den bis dahin ebenfalls besetzen Taksim-Platz gewaltsam räumt. Die riesige Tränengaswolke brannte auch am nächsten Tag noch wie Essig in den Augen, als Dutzende Verletzte mit Platzwunden und Knochenbrüchen im Krankenhaus lagen. Taksim-Platz und Gezi-Park blieben wie Wunden mitten im Herzen von Istanbul zurück.
"Seitdem versuchen wir hier alles wieder aufzubauen",
Can zeigt auf die Zelte, auf die Erste-Hilfe-Station, die freiwillige Ärzte unter den Bäumen eingerichtet haben, auf die Gezi-Bibliothek, in der in den letzten Tagen mehrere Tausend Bücher abgegeben wurden, die sie nun im Park herumreichen. Alles hier ist kostenlos.
"Die gegenseitige Unterstützung ist wahnsinnig. Solche Angriffe machen den Leuten keine Angst, sondern sie bringen sie nur noch näher zusammen ...",
meint eine Frau, die ein paar Zelte weiter steht. Auf einem Pappteller vor ihr liegen Hunderte selbstgedrehte Zigaretten. Ein kleines Schild klebt daran: Bedient euch! Vor einem Zeltdach nebenan hat sich eine lange Schlange gebildet. Hinter einem Klapptisch steht ein älterer Mann in Hemd und Hose, verteilt Reis und Gemüse auf Plastikteller. Auch er war von Anfang an dabei:
"Wir haben ganz klein begonnen hier ein bisschen Essen hinzustellen, als die Demonstrationen losgingen. Dann haben wir Twitternachrichten verschickt und die Leute gebeten, etwas Wasser zu bringen. Plötzlich kam eine ganze Lawine. Lebensmittel und freiwillige Helfer kamen von überall. Hausfrauen kochen Zuhause für die Demonstranten und bringen es - einer kommt mit einer Flasche Wasser, ein anderer mit hundert, andere bringen Milch, Saft oder Geschirrspülmittel ..."
Dem Mann steigen die Tränen in die Augen, während er erzählt. Inzwischen, sagt er, kommen mehr Lebensmittelspenden als die Parkbewohner überhaupt essen können. Wie er selbst, hat auch der alte Akin seinen ganzen Jahresurlaub auf einmal genommen, um jeden Tag in der Gezi-Kantine stehen zu können:
"Ich habe die Demonstranten tagelang im Fernsehen gesehen",
sagt er zwischen zwei Bissen.
"Der Ministerpräsident sagte immer wieder, das seien Plünderer und Provokateure. Ich wollte das mit eigenen Augen sehen und bin hergekommen. Ich sage Ihnen: Wenn das Plünderer sind, dann bin ich selbst ein noch größerer."
Die Leute unter dem Essenszelt nicken zustimmend:
"Hier im Park herrscht die perfekte Demokratie",
sagt eine Politikstudentin überzeugt.
"Die Menschen haben hier etwas geschaffen, was der Premierminister nie erreicht hat. Ich wünschte, er würde mal vorbeikommen und diese Solidarität hier erleben ..."
Die Frau verstummt plötzlich. Bewegung kommt auf. Vom anderen Ende des Parks dringt Geschrei herüber. Erst sind es wenige, dann immer mehr: "Taksim ist überall, überall ist Widerstand", rufen sie. Irgendwo fällt das Wort Polizei. Augenblicklich lassen alle das Essen stehen, legen die Gasmasken um den Hals, setzen die Helme auf.
Dann: Entwarnung. Die Polizei ist da, aber sie rührt sich nicht.
Noch nicht. Can, der die Räumung des Taksim-Platzes mit dem Handy gefilmt hatte, nimmt die Gasmaske ab.
"Premierminister Erdogan hat gestern ein Ultimatum gestellt. Er hat gesagt, er würde das hier innerhalb von 24 Stunde beenden",
sagt er,
"Wir werden bleiben und warten was passiert, wie jeden Tag und wie überall: In der ganzen Türkei werden die Demonstrationen weitergehen, bis der Premierminister zurücktritt. Im Moment sind hier nur ein paar Tausend, aber sie repräsentieren jetzt Millionen. Und sie werden immer wütender - und immer besser organisiert."
Das beste Geschäft an diesem Abend aber machen die vielleicht 18-jährigen Jungs, die Schutzhelme und Taucherbrillen auf einem umgedrehten Pappkarton ausgebreitet haben. Nur bei ihnen stehen die Kunden Schlange:
"Wir haben uns Helme gekauft, aus Angst vor Kopfverletzungen",
erklärt ein junges Mädchen und tippt sich an den knallroten Bauarbeiterhelm.
"Außerdem haben wir Wasser mit Backtriebmittel dabei, um die brennenden Augen auszuwischen. Und natürlich Taucherbrillen und Gasmasken."
Das Mädchen posiert, eine Freundin fotografiert sie von der Seite. Man könnte meinen, sie wären zum Spaß hier.
Durch den Gezi-Park gleich nebenan schieben sich Tausende. Es ist jetzt kurz vor Mitternacht. Rechts und links der Wege reihen sich die Zelte aneinander, in denen seit Tagen Istanbuler schlafen und den Park so besetzt halten. Junge, Alte - manche mit Piercing und Oberarm-Tatoo, manche mit Kopftuch und Pluderhose. Auch wer scheinbar entspannt vor einem der Zelte sitzt, nestelt nebenbei an seiner Gasmakse herum. Die, die unter den Bäumen einen großen Kreis gebildet haben und seit Stunden tanzen, haben allesamt Helme auf dem Kopf.
"Das letzte Mal, als die Polizei hier angegriffen hat, war das Tränengas überall",
weiß Can, der seit zwei Wochen jeden Abend nach der Arbeit hierher kommt, um zu demonstrieren.
"Sie sind damals nicht in den Park gekommen, aber sie haben ununterbrochen von außen Tränengas hineingeschossen. Genau hierhin, wo wir jetzt stehen."
Can zieht ein Handy aus der Tasche, zeigt ein Video vom vergangenen Dienstag. Menschen fliegen im Strahl der Wasserwerfer übers Kopfsteinpflaster, Plastikgugeln und Molotow-Cocktails sausen durch die Luft, als die Polizei den bis dahin ebenfalls besetzen Taksim-Platz gewaltsam räumt. Die riesige Tränengaswolke brannte auch am nächsten Tag noch wie Essig in den Augen, als Dutzende Verletzte mit Platzwunden und Knochenbrüchen im Krankenhaus lagen. Taksim-Platz und Gezi-Park blieben wie Wunden mitten im Herzen von Istanbul zurück.
"Seitdem versuchen wir hier alles wieder aufzubauen",
Can zeigt auf die Zelte, auf die Erste-Hilfe-Station, die freiwillige Ärzte unter den Bäumen eingerichtet haben, auf die Gezi-Bibliothek, in der in den letzten Tagen mehrere Tausend Bücher abgegeben wurden, die sie nun im Park herumreichen. Alles hier ist kostenlos.
"Die gegenseitige Unterstützung ist wahnsinnig. Solche Angriffe machen den Leuten keine Angst, sondern sie bringen sie nur noch näher zusammen ...",
meint eine Frau, die ein paar Zelte weiter steht. Auf einem Pappteller vor ihr liegen Hunderte selbstgedrehte Zigaretten. Ein kleines Schild klebt daran: Bedient euch! Vor einem Zeltdach nebenan hat sich eine lange Schlange gebildet. Hinter einem Klapptisch steht ein älterer Mann in Hemd und Hose, verteilt Reis und Gemüse auf Plastikteller. Auch er war von Anfang an dabei:
"Wir haben ganz klein begonnen hier ein bisschen Essen hinzustellen, als die Demonstrationen losgingen. Dann haben wir Twitternachrichten verschickt und die Leute gebeten, etwas Wasser zu bringen. Plötzlich kam eine ganze Lawine. Lebensmittel und freiwillige Helfer kamen von überall. Hausfrauen kochen Zuhause für die Demonstranten und bringen es - einer kommt mit einer Flasche Wasser, ein anderer mit hundert, andere bringen Milch, Saft oder Geschirrspülmittel ..."
Dem Mann steigen die Tränen in die Augen, während er erzählt. Inzwischen, sagt er, kommen mehr Lebensmittelspenden als die Parkbewohner überhaupt essen können. Wie er selbst, hat auch der alte Akin seinen ganzen Jahresurlaub auf einmal genommen, um jeden Tag in der Gezi-Kantine stehen zu können:
"Ich habe die Demonstranten tagelang im Fernsehen gesehen",
sagt er zwischen zwei Bissen.
"Der Ministerpräsident sagte immer wieder, das seien Plünderer und Provokateure. Ich wollte das mit eigenen Augen sehen und bin hergekommen. Ich sage Ihnen: Wenn das Plünderer sind, dann bin ich selbst ein noch größerer."
Die Leute unter dem Essenszelt nicken zustimmend:
"Hier im Park herrscht die perfekte Demokratie",
sagt eine Politikstudentin überzeugt.
"Die Menschen haben hier etwas geschaffen, was der Premierminister nie erreicht hat. Ich wünschte, er würde mal vorbeikommen und diese Solidarität hier erleben ..."
Die Frau verstummt plötzlich. Bewegung kommt auf. Vom anderen Ende des Parks dringt Geschrei herüber. Erst sind es wenige, dann immer mehr: "Taksim ist überall, überall ist Widerstand", rufen sie. Irgendwo fällt das Wort Polizei. Augenblicklich lassen alle das Essen stehen, legen die Gasmasken um den Hals, setzen die Helme auf.
Dann: Entwarnung. Die Polizei ist da, aber sie rührt sich nicht.
Noch nicht. Can, der die Räumung des Taksim-Platzes mit dem Handy gefilmt hatte, nimmt die Gasmaske ab.
"Premierminister Erdogan hat gestern ein Ultimatum gestellt. Er hat gesagt, er würde das hier innerhalb von 24 Stunde beenden",
sagt er,
"Wir werden bleiben und warten was passiert, wie jeden Tag und wie überall: In der ganzen Türkei werden die Demonstrationen weitergehen, bis der Premierminister zurücktritt. Im Moment sind hier nur ein paar Tausend, aber sie repräsentieren jetzt Millionen. Und sie werden immer wütender - und immer besser organisiert."