Langeweile am Arbeitsplatz

Eines der letzten großen Tabus

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In Büronischen schlafende Mitarbeiter
Rasche, kreative Lösungen? Nicht erwünscht! Denn es gibt ja noch Arbeitszeit abzusitzen. © imago / Ikon Images / Harry Haysom
Ein Einwurf von Nils Minkmar |
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Die Langeweile hat es heute schwer. Eine ganze Industrie schafft Angebote zur Ablenkung. Und auch auf der Arbeit gibt es möglichst immer etwas zu tun. Wer sich langweilt, ist verdächtig. Dabei kann Langeweile ein Quell für Kreativität sein, meint der Journalist Nils Minkmar.
Der Junge geht nicht an die frische Luft, trifft keine Freunde und weiß so gar nichts mit sich anzufangen. Längst ist er im Alter, ein eigenes Leben zu führen, aber er hängt ganze Nachmittag bei seinen Eltern auf dem Sofa rum, klagt über Kopfschmerzen und hat seltsame Träume. Einer davon handelt von einem Mann, der sich über Nacht in einen Käfer verwandelt hat – so kam Franz Kafka zu einem zentralen Werk der modernen Literaturgeschichte - aus Langeweile.
Diese Empfindung, die die Menschheit seit der Sesshaftwerdung begleitet, hat es heute schwer. Beim ersten Anzeichen von Langeweile tritt eine ganze Industrie auf den Plan, um Angebote für dauerhafte Ablenkung zu verkaufen.
Per Smartphone ist man mit einer digitalen Welt verbunden, in der es scheinbar immer etwas Neues gibt, immer jemand etwas gesagt oder getan hat, dass uns unmittelbar angeht.
Mit dieser Illusion wird das Land der Langeweile kolonisiert. Sie befördert die Bereitschaft, noch ein Video anzusehen, weiter zu scrollen und zu kommentieren und verscheucht dabei die guten Geister, die sich im Zustand der Langeweile eben auch einfinden.

Sich beschäftigen, um beschäftigt zu sein

Üblicherweise verbindet man extreme Langeweile mit der Kindheit, wenn es regnet oder wenn die Doppelstunden sich hinziehen wie ganze Tage, aber auch Erwachsene können sich ordentlich langweilen. In der Langeweile des Lockdowns sind jede Menge verrückter Ideen entstanden: In Frankreich etwa beschloss jeder zehnte, sein Leben zu ändern.
Im Normalbetrieb sind solche Gedanken unerwünscht, insbesondere am Arbeitsplatz.
Der vor einem Jahr verstorbene Ethnologe David Graeber hat den Begriff der "Bullshit Jobs" erfunden. Er bezeichnete damit solche Tätigkeiten, deren Sinn sich darin erschöpft, die damit betrauten Angestellten zu beschäftigen. In solchen Berufen ist immer etwas zu tun, auch wenn nichts zu tun ist, weil ihr wesentlicher Zweck darin besteht, Faulheit und Langeweile fernzuhalten.
Wenn in diesen Arbeitsabläufen etwas rasch und anders gelöst werden kann, dann ist das ein Problem, denn es gibt ja noch mehr Stunden abzusitzen, früher heim darf niemand. Also gewöhnen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter großer Firmen und Institutionen eine "Stress-Mimikry an: Sie klagen über übermäßige Belastung, obwohl die vor allem darin besteht, dass zu wenig zu tun ist.

Arbeit als säkulare Religion

Das Eingeständnis, dass man sich am Arbeitsplatz langweilt, ist das letzte großes Tabu: Ganze Branchen leben davon, Menschen zu motivieren, Chefs zu trainieren und Verfahren zu empfehlen, um die Arbeitsverhältnisse spannender erscheinen zu lassen, als sie sind. Die Folge sind jene extralangen, gewundenen Verfahren zu Beibehaltung bestehender Abläufe, die es kreativen Lösungen hierzulande so schwer machen.
Langeweile ist aber nur dann schön, wenn sie in einem überschaubaren Rahmen empfunden wird, wenn sie endlich ist.
In unserer Gesellschaft ist sie, wie der Reichtum, zunehmend ungleich verteilt: Während berufstätige Eltern gar nicht mehr wissen, wie sie Kinder, Schule, Job und Freizeit durchstehen sollen, ohne vor Müdigkeit umzukippen, leiden Rentner und andere Personen, die weder dem Arbeitsmarkt noch den Bildungswegen zur Verfügung stehen, unter endlos langen Tagen und dem Gefühl, nicht gebraucht, nicht anerkannt zu werden und unter einem leeren Glückstank.
Unsere säkulare Religion, die Arbeit, bräuchte eine Reformation: Wenn einige weniger arbeiten und andere, die nicht arbeiten, mehr wertgeschätzt würden, täte das allen gut. Schließlich ist es das eine, geniale Träume zu träumen, aber das andere, jemanden zu kennen, der Zeit hat, sie sich anzuhören.

Nils Minkmar, geboren 1966 in Saarbrücken, besitzt einen deutschen und einen französischen Pass. Der promovierte Historiker arbeitete für Roger Willemsen, dann für die "Zeit", die "FAZ" und den "Spiegel". Heute schreibt er für die "Süddeutsche" und seinen Newsletter "Der siebte Tag". Er lebt mit seiner Familie in Wiesbaden.

© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
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