Langeweile

Die kleinste Schwester des Todes

29:57 Minuten
Ein Mann langweilt sich hinter einer Glasscheibe
"Ein Gefühl wie ein erwartungsloses Warten." Das sagt der Philosoph Philipp Wüschner über die Langeweile. © imago / Photocase
Von Julius Stucke |
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Sie ist zerstörerisch, polemisch und manchmal schöpferisch - was wäre das Leben ohne Langeweile? Unser Autor hat sich mit der Philosophie und Psychologie der Langeweile befasst. Er erklärt, wie man ihrer am besten Herr wird.
"Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile."
Leonce aus Georg Büchners satirischer Komödie "Leonce und Lena".
Langeweile kennt jeder. Ein ödes Buch, ein fader Film - aber was ist Langeweile? Wie kann man das, was jeder kennt, beschreiben? Ist etwas Altbekanntes langweilig oder eben nur altbekannt? Was sagt das Lexikon über Langeweile?
"Langeweile, (…) ist das unwohle, unangenehme Gefühl, das durch erzwungenes Nichtstun hervorgerufen wird oder bei einer als monoton oder unterfordernd empfundenen Tätigkeit aufkommen kann."
Das trifft manche Situationen. Die monotonen, die endlosen Konferenzen. Oder das Sortieren von Büroklammern nach Farbe, weil einem jemand aufgetragen hat, man solle das tun.

Wir dokumentieren den Text zur Sendung in gekürzter Form. Das vollständige Manuskript können Sie hier herunterladen.

Langeweile: Es ist zu wenig los. Es ist ereignisarm. Im Raum oder im Kopf.
Und wenn der Kopf, also das Gehirn, in einer Zeit nur wenige Ereignisse oder Eindrücke feststellt – so eine Erklärung –, dann wird diese Weile eben lang. Länger, als wenn sie mit vielen Erlebnissen, Eindrücken unterbrochen ist.
Deutschlandradio-Autor und -Moderator Julius Stucke.
Sendung fertig - und dann? Autor Julius Stucke langweilt sich. © Deutschlandradio / Julius Stucke
"Ein bisschen abstrakt, könnte man sagen, dass das eigentlich ein Gefühl ist wie ein erwartungsloses Warten", sagt der Philosoph Philipp Wüschner. "Das heißt, man hat die ganzen negativen Eigenschaften des Wartens, ohne dass man irgendwas Konkretes hat, auf das man wartet. Oder dass irgendetwas Konkretes ist, was vorbei sein soll."
Martin Doehlemann, emeritierter Soziologieprofessor, beschreibt Langeweile so: "Vielleicht ein Zustand der inneren Leere – manche gebrauchen die Formel 'Mir fällt die Decke auf den Kopf'. Das heißt: Es ist ein Stillstand. Ein unruhiger Stillstand. In diese Art von Paradox kann man es vielleicht ausdrücken."
Ein unruhiger Stillstand – das passt zu dem, was ein kanadischer Neurologe meint, der seine Probanden mit einem extrem langweiligen Video quält: Männer hängen Wäsche auf. Und nichts passiert. Wen das dann langweilt, der ist körperlich unruhig, gespannt, bereit zu handeln – aber geistig im Ruhemodus. Stillstand. Weil nichts ist.

Die vier Spielarten der Langeweile

Aber es gibt nicht nur die eine Langeweile. Martin Doehlemann: "Ich würde nach wie vor sagen, dass wir vier Spielarten unterscheiden können. Die situative Langeweile oder Gelegenheitslangeweile, wenn wir gegen unseren Willen warten müssen oder wenn wir im Bett liegen müssen aus Krankheitsgründen und dergleichen. Dann aber eine, wie ich sie nenne, überdrüssige Langeweile. Teile meine Arbeit können mich langweilen."
Diese Formen – situativ und überdrüssig – hat man wohl am ehesten im Kopf, wenn das Wort Langeweile fällt. Sie sind gegenstandsbezogen. Also langweilt mich etwas oder eine Situation, eine Tätigkeit, ein Teil der Arbeit.
Da ist nach Ansicht des Soziologen Martin Doehlemann noch die existenzielle Langeweile. Hier langweilt einen nicht etwas, sondern selbstbezogen langweile ich mich: "Ich empfinde Gefühle einer gewissen inneren Leere, einer Sinnarmut von Welt."
Hier wird die Langeweile ziemlich ernst. Martin Doehlemann meint auch, diese Langeweile sei der kleinste Bruder des Todes.
Langeweile ist, was man daraus macht, meint Autor Julius Stucke.
Langeweile mag der "kleinste Bruder" des Todes sein, aber mit dem Schlaf ist sie auch verwandt.© Deutschlandradio / Julius Stucke
Tödlich ist sie allerdings nicht, meint Philosoph Wüschner. "Ich glaube, das ist ja genau das Problem der Langeweile. Dass sie nicht sterben lässt. Und dass sie einen so problemlos weiter am Leben hält. Ich glaube allerdings, dass es Momente gibt, wo man lieber stürbe als sich noch weiter zu langweilen."
Während bis hier alle Langeweile negativ war, ein schlechtes Gefühl, gibt es zuletzt noch eine positivere Langeweile. Weil sie konstruktiv ist: "Die vierte Spielart hat sozusagen einen aufhellenden Unterton, nämlich die schöpferische Langeweile. Verbunden mit einer gesteigerten Empfänglichkeit einer Bereitschaft des Aufbruchs", sagt Martin Doehlemann.

"Friedrich Nietzsche hat diese Art von Langeweile, die er bei Künstlern oft wahrnimmt, als jene angenehme Windstille der Seele genannt, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht."
Manche Menschen meinen, es gäbe in unserer Welt überhaupt nur irgendeine Errungenschaft – Fortschritt, Innovation, Künste – weil es diese schöpferische Langeweile gibt. Langeweile ist nicht gleich Langeweile!
Menschliche Langeweile jedenfalls ist hochgradig subjektiv. Während der eine begeistert Autorennen verfolgt – langweilt genau das den anderen. Soll ja sogar Menschen geben, die gerne angeln gehen. Aber gibt es eine objektiv langweilige Sache, einen objektiv langweiligen Ort? Vielleicht ja diesen hier: das Gefängnis. Gezwungen zu bleiben, keine Möglichkeit zu gehen. Ausweglos.

Gibt es etwas Langweiligeres als ein Gefängnis?

Josef, ehemaliger Häftling: "Ich war das erste Mal 1984 in Tegel. Da war ich gerade 30 Jahre alt. Wegen Raub, Körperverletzung, unterschiedliche Dialekte (sic!)."
Das erste, aber nicht das letzte Mal in Haft für Josef, der nicht wirklich Josef heißt. Acht oder neun Mal. Er müsste länger überlegen. Viele Jahre seines Lebens. Ein Leben, das vermutlich gerne ein etwas langweiligeres hätte sein dürfen. Aber so würde er das wohl nicht sagen, sondern eher: Tassen hoch. Ist halt, wie es ist, war, wie es war!
"Ick hab ooch Zeiten erlebt, da war ick drei Monate in Moabit 23 Stunden unter Zelleneinschluss. Du kommst in so eine U-Haft, da bist du 23 Stunden auf dich selbst gestellt. Gut, ab und zu geht mal die Türe uff und die bringen dir dein Mittag. Aber wenn du in Tegel bist... gut, ich will es jetzt nicht als Sanatorium beschreiben oder als Hotel Fröhlich – aber in Tegel hast du deine gewissen Aufschlusszeiten, und wenn du Arbeit hast, da gehst du ganz normal morgens arbeiten. Abends Aufschluss, kannste deine Leute treffen, mal eenen kiffen oder Kaffee trinken, quatschen und so. Es kommt keine Langeweile uff. Man weeß doch, wann's vorbei is."
Ein Häftling geht in Berlin in der Justizvollzugsanstalt Moabit einen Gang entlang.
Wie langweilig ist das Leben im Gefängnis? Offenbar weniger, als man sich das von draußen vorstellt. (Symbolfoto)© dpa picture alliance/ Marc Tirl
Natürlich kann ein Ex-Knacki nicht für alle sprechen. Andere sind in Einzelhaft oder warten lebenslänglich plus Sicherungsverwahrung. Also mit ungewissem Ende. Und Josefs Etappen waren zwar häufig, aber eher kurz. Zu kurz für existenzielle Langeweile vermutlich. Bei Menschen, die wie er immer wieder straffällig werden, bei denen, die nicht für die ganz großen Verbrechen, sondern für kleinere Delikte einfahren, ist mein Gedanke eher: Sie langweilen sich draußen, im Leben, und bauen immer wieder Mist. Aber es bleibt die Erkenntnis: Nicht mal der Knast ist definitiv langweilig. Auch diese Langeweile: subjektiv.
"Mich langweilt, dass ick drei Treppen hochlaufen muss in meinem Alter", sagt Josef. "Nee, det is ja Spaß jetzt. Wat langweilt mich? Ich habe noch so viel Action. Möchte sagen. Puh. Im Knast, der eene hat angefangen zu malen, der andere hat ditte. Langeweile so richtig? Wenn de richtig Knacki bist, kommst de schon klar. Im Endeffekt sitzt du deine Zeit ab und musst det Beste draus machen."

Was ist schlimmer: sich zu langweilen oder andere?

"Derjenige, der sich langweilen lässt, ist noch weniger Wert als der, der ihn langweilt."
Das soll Samuel Butler gesagt haben, ein englischer Dichter des 17. Jahrhunderts. Und was hat der Ex-Häftling Josef gerade gesagt? "Du musst det Beste draus machen" – aus der Zeit im Knast. Ist Langeweile also nicht nur subjektiv, sondern ist selber schuld, wer sich langweilt?
Philipp Wüschner: "Ich muss zu meiner Schande gestehen, ich glaube, ich finde es schlimmer, jemanden zu langweilen. Zu meiner Schande deswegen, weil das einerseits ein bisschen mit Eitelkeit einhergeht. Und was ich fast noch schlimmer finde: Die Angst jemanden zu langweilen, geht auch ganz häufig damit einher, dass man den anderen unterschätzt, dass man das Gefühl, die hören mir nur zu, wenn ich es irgendwie entertainingmäßig rüberbringe. Und ich hab das in der Tat häufig bei Studenten. Wo ich mir im Nachhinein überlege: Ich muss das eigentlich gar nicht so gezwungen lustig verkaufen. Die sind intelligent und interessiert genug, um es auch aus einer vermeintlich langweiligen Vorlesung herauszuhören."
Und die Studierenden in diesem Beispiel – aber auch alle anderen – können was gegen die Langeweile tun.
"Ich sehe schon auch die Selbstverantwortung, die Personen dafür tragen, ob sie sich langweilen oder nicht langweilen." Eine Teilschuld also, die Katrin Lohrmann von der pädagogischen Hochschule Freiburg da attestiert. Noch unschuldig sind Kinder. Und ihre Langeweile. Die dann kommen kann, wenn es die Eltern am meisten wundert: bei so etwas Schönem, aber eben auch manchmal einsamem wie Ferien und Urlaub: Mir ist soooo langweilig!!
Langeweile, die auch mal wenige Sekunden nach vorhergegangener Action geäußert wird. Deren unbändige Ungeduld wir Erwachsenen vielleicht zu erklären versuchen, aber am Ende nicht verstehen. Wer von uns kann schon gleichzeitig Musik hören wollen und ein Raumschiff bauen und dazu Geschichten erzählen und dennoch klagen: Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mir ist langweilig!
"Manchmal ist mir halt langweilig. Also, dann weiß ich nicht, was ich spielen soll. Ja. Das fühlt sich irgendwie blöd an. Dann denk ich nach, was ich machen könnte erst mal, hör ein bisschen Radio, und wenn ich's nicht weiß, dann frage ich meine Eltern. Ob sie wissen, was ich spielen kann. Das ist ein schlechtes Gefühl. Weil, wenn mir langweilig ist... ist irgendwie langweilig für mich."
Erleben Kinder Langeweile anders als wir? Es liegt nahe. Denn das Zeitempfinden von Kindern ist anders als unseres. Aber natürlich ist Kind auch nicht gleich Kind. "Was man prinzipiell weiß, ist, dass Langeweile ja sehr subjektiv erlebt wird, und es gibt Personen die sich schneller langweilen", so Katrin Lohrmann.

"Und es gibt Personen, die sich langsamer… oder bei denen es kaum auftritt. Und das hat damit zu tun, was man für ein subjektives Erregungs-Potenzial sich wünscht. Es gibt einfach Personen, die mit einem geringeren Potenzial zufrieden sind und sich daran nicht stören. Und andere Personen brauchen – jetzt mal ein bisschen alltagssprachlich gesprochen – ein bisschen mehr Action. Und darin unterscheiden sich Kinder genauso wie Erwachsene."
Was tun gegen Langeweile? Klingt vielleicht banal, aber: Lass dich nicht langweilen!
"Man kann an zwei Stellen ansetzen, also zum einen versuchen, die Situation zu verändern. Das gelingt manchmal, aber eben manchmal auch nicht", sagt Lohrmann. "Oder man kann eben an sich selber ansetzen und versuchen, die Situation für sich selber anders wahrzunehmen oder anders zu deuten."

Langeweile hat auch einen Wert

Katrin Lohrmann hat sich viel mit einem oft als langweilig beleidigten Ort befasst: dem Klassenzimmer. "Ich glaube, dass man letztendlich auch ein Stück weit akzeptieren muss, dass das vielleicht ein Phänomen ist, was zumindest in einen gewissen Rahmen zur Schule dazugehört. Zum einen ist das Bewusstsein, glaube ich, dafür wichtig, dass das Schülerinnen und Schüler oder Person einfach wissen, dass sie selber auch Verantwortung dafür tragen, dass sie etwas als langweilig erleben oder nicht. Und das kann man ja auch üben. Also zugucken. An welchen Stellen könnte ich jetzt die Situation verändern, oder wo kann ich auch selber an meiner Wahrnehmung etwas verändern?"
Auch wenn man sich für seine Langeweile nicht schämen muss: "Es hat trotzdem seinen Wert, so eine Phase von Orientierungslosigkeit – das für sich positiv zu gestalten. Man kann schon von einem Wert von Langeweile auch sprechen. Also zum Beispiel bei Kindern: Dass sie die Erfahrung machen müssen oder lernen müssen, selber Ideen zu entwickeln und nicht darauf zu warten, dass andere ihnen das vorschlagen."
Diesen Umgang zu lernen lohnt sich. Denn es gibt Studien, die Langeweile in der Kindheit und Jugend mit Dingen zusammenbringen wie Aggressivität, Schulabbruch, Flucht in Kriminalität oder auch Drogen. Also: Langeweile ist kein Teufelswerk, aber wie so oft zählt das Wie.
"Das ist ja auch ein Punkt, dass Kinder lernen müssen, dass das einfach irgendwie auch ein bisschen normal ist, dass man nicht immer was zu tun hat und von außen was zu tun bekommt, sondern dass sie eben auch selber Ideen entwickeln und dass das ja eigentlich etwas ganz Schönes ist. Dass es eine Phase gibt, wo ich einfach sagen kann: Ich kann mir jetzt selber was aussuchen. Ich habe Zeit vor mir, die ich selber gestalten kann."
Vielleicht mag es gelingen, anderen etwas Langweiliges aufzuzwingen. Aber sich selber gezielt langweilen? Seit ich mich mit diesem Thema auseinandersetze, kommt weder im Wartezimmer, noch an der Bushaltestelle richtig Langeweile auf. Weil ich sofort anfange, genau darüber nachzudenken. Die Langeweile ist weg. Ich suche sie. In Konferenzen. Verlorene Zeit und Eitelkeit und träge wabernde Gedanken. Aber ich beobachte nun immer irgendwas, irgendwen, im Zweifel mich. Frage mich: Na, langweilst du dich schon? Und so fällt es mir schwer, mich wirklich zu langweilen.

Wie der Brite James Ward Langweiliges zelebriert

"Ich bin James Ward – der Gründer der Langeweile-Konferenz. Einer eintägigen Feier des Banalen, des Gewöhnlichen, des Offensichtlichen und Übersehenen."
Vorträge über die Geräusche von Verkaufsmaschinen. Getränke oder Snackautomaten. Über das Niesen oder auch die Schönheit von Parkdächern. Das Ganze macht der Brite James Ward auch als regelmäßigen Podcast für die BBC: "The Boring Talks".
"Das Thema ist langweilig – aber der Inhalt sollte es nicht sein. Ich hoffe, dass die Menschen am Ende, nachdem sie gehört haben, wie jemand über Parkdächer oder die Signale an Fußgängerüberwegen oder was auch immer geredet hat, dass sie am Ende interessiert daran sind und die Welt vielleicht ein bisschen anders sehen als davor."
Auf der "Boring Conference" in London wird gepflegte Langeweile zelebriert.
Auf der "Boring Conference" in London wird gepflegte Langeweile zelebriert.© Deutschlandradio - Ruth Rach
Scheinbar Langweiliges als Horizontweiterung. Und manchmal ist es sogar ziemlich komisch – etwa wenn Ward selber in einer Episode versucht, bei einer Agentur für Namensänderungen seinen Namen zu ändern... in seinen Namen. Seinen Namen ändern in den Namen, den er schon hat. Minutenlang. Gibt es für ihn denn überhaupt noch etwas Langweiliges in dieser Welt? Und dementsprechend Langweiler?
"Wenn du in einer Kneipe bist und es läuft Fußball, dann siehst du diese Typen – es sind häufig Typen –, die unglaublich detailliert über die Statistik ihres Teams reden – in dieser Saison verglichen mit jener Saison. Oder all diese Details über ein spezielles Spiel von vor zehn Jahren. Und das hält man für normal und akzeptabel. 'Hey, er ist halt ein Typ und kennt seinen Fußball!' Wenn da aber jemand wäre, der dann auf Toilette geht, zurückkehrt und sagt: 'Oh! Die haben einen Dyson-Trockner da' und anfangen würde, über die Statistiken und Spezifikationen des elektrischen Handtrockners zu reden, dann würde jeder denken: Was für'n Spinner! Obwohl beide im Prinzip dasselbe tun: Sie haben etwas gefunden, was sie interessiert und stecken da Zeit und Energie rein. Aber aus irgendwelchen Gründen hält man das eine für normal, das andere für langweilig!"

Ist Gott an all der Langeweile schuld?

"Die Götter langweilten sich, also schufen sie die Menschen", sagte Søren Kierkegaard, dänischer Philosoph im 19. Jahrhundert. "Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva geschaffen. Von diesem Augenblick an kam die Langeweile in die Welt, wuchs an Größe in genauer Entsprechung zum Wachstum der Menge des Volks."
Hat sich Gott am siebten Tag denn gelangweilt? Arbeit getan und nun?
"Also, wenn Sie Theologen fragen, würden die wahrscheinlich sagen, dass das der Natur Gottes widerspricht, weil der ja das, was er da geschaffen hat, so besonders schön fand, dass der alleinige Anblick seiner Schöpfung in alle Ewigkeit unterhält", sagt der Philosoph Philipp Wünschner. "Mir persönlich gefällt die Vorstellung eines gelangweilten Gottes ganz gut. Das würde mir zumindest eine Erklärung geben, warum Gott sich überhaupt daran gemacht hat, irgendetwas zu erschaffen."
Wir müssen nicht gleich biblisch werden, aber Langeweile ist schon lange in dieser Welt. Die ältesten Quellen sind von Wüstenmönchen, die das Problem haben, dass sie in der Einöde sind und ihnen die Exerzitien irgendwie nicht mehr ausreichen, um sie zu unterhalten", sagt Wüschner, der sich durch die Philosophie der Langeweile gearbeitet hat. "Und dann kommen sozusagen unter dem Stichpunkt des Mittagsdämons – wenn auch die Welt irgendwie besonders heiß und schattenlos ist –, kommen ihnen sozusagen in der Langeweile dann dumme Gedanken."

Das polemische Potenzial der Langeweile

Viele Denker, Literaten und Philosophen haben sich mit der Langeweile auseinandergesetzt. Ob als Dämon oder Teil der Existenz, ob zerstörerisch oder als Anfang von Kreativität. Langeweile ist nichts Modernes, wurde aber in der Moderne intensiv beäugt. Und wenn man all das im Kopf hat, wirkt es etwas zu kurz gesprungen, wenn manche heute ein Lob der Langeweile ausrufen – obwohl sie eigentlich Muße meinen.
Und es wirkt dann auch etwas zu einfach, nur auf Technik und Events zu schimpfen. Nach dem Motto: Weil wir 24 Stunden Dauershopping, Dauersmartphone, Daueraction haben, hätten wir die Langeweile verlernt. Der Buchdruck, die Erfindung des Radios, das Fernsehen oder alles zusammen in der Hosentasche auf dem Smartphone. Die Welt verändert sich um die Langeweile herum. Aber es verändert sich nicht die Langeweile.
"Was ganz interessant ist – und das ändert sich in der Tat historisch –, Langeweile hat so ein polemisches Potenzial, und es wurde immer anderen Gruppierungen vorgeworfen. Sei es, dass der Adel es dem Pöbel vorgeworfen hatte, weil der nicht in der Lage ist, sich intellektuell selbst zu beschäftigen. Sei es, dass umgekehrt von Arbeitern den Aristokraten Langeweile als Dekadenz vorgeworfen wurde", meint Philosoph Wünschner.

"Und ich glaube, die Art und Weise heute auf die Medienlandschaft und vor allem auch jugendliche Medien-NutzerInnen unter der Perspektive der Langeweile draufzuschauen und zu sagen 'die langweilen sich dann nur' ist eigentlich nur ein weiterer Schritt in dieser polemischen Benutzung von Langeweile."
Langeweile als Kampfbegriff. Man kann eine Menge reinlegen in dieses Gefühl. Kann man es wirklich gut oder schlecht nennen? Auch Wut kann positive Kraft geben, auch Trauer kann helfen, etwas zu überwinden. Und so ist Langeweile – vielleicht – das, was wir daraus machen.

Autor/Sprecher: Julius Stucke
Redaktion: Martin Hartwig
Regie: Frank Merfort
Technik: Thomas Monnerjahn
Sprecherin: Cathlen Gawlich

Erstsendedatum: 2. Juli 2019
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