Zeitzeugen erzählten nun selbst ihre Geschichten
Die TV-Serie "Holocaust" erschütterte vor 40 Jahren viele Deutsche. Die wohl nachhaltigste Resonanz darauf war die Lokalgeschichtsbewegung. So gründeten sich in den 80er-Jahren etliche Geschichtswerkstätten, die bis heute aktiv sind.
"Gräv där du star" – "Grab, wo du stehst". So lautete der Titel eines Buches, mit dem der schwedische Historiker Sven Lindquist 1979 in seinem Heimatland einen Boom auslöste. Fast in jeder kleineren oder größeren Stadt bildete sich in Schweden eine Geschichtsinitiative, um Lokalgeschichte von unten zu erforschen. Lindquist hatte beobachtet, dass die Geschichte der schwedischen Zementindustrie allein aus Unternehmersicht dargestellt wurde.
Die Perspektive seines Großvaters, eines Zementarbeiters, tauchte in den Büchern nicht auf. Ein Widerspruch, den auch Albrecht Materne im niedersächsischen Salzgitter erlebte. Dort feierte die Stadt – mitten im Zweiten Weltkrieg als Standort der Rüstungsindustrie gegründet – 1982 ihren 40. Geburtstag mit der Festrede eines Professors über die Stahlindustrie:
"Dessen Vortrag hatte seinen Schwerpunkt in der Leistung der Ingenieure der Hermann-Göring-Werke und sprach über die Opfer dieses Herrschaftssystems nur am Rande. (..) Und diese Herangehensweise hat uns damals mächtig geärgert."
Geschichtslehrer Materne gründete mit einigen Mitstreitern den Arbeitskreis Stadtgeschichte. Diese Geschichtswerkstatt nahm Kontakt auf zu ehemaligen Zwangsarbeitern, die in Salzgitter im Konzentrationslager inhaftiert gewesen waren.
"Wir haben Interviews gemacht mit den Überlebenden, die uns sehr angerührt haben, das war wichtig, die Lebensgeschichten aufzuzeichnen und zu archivieren."
Was 1982 in Salzgitter geschah, konnte man in der ganzen Bundesrepublik beobachten.
"Jetzt entstanden überall vor Ort Geschichtswerkstätten."
"Dessen Vortrag hatte seinen Schwerpunkt in der Leistung der Ingenieure der Hermann-Göring-Werke und sprach über die Opfer dieses Herrschaftssystems nur am Rande. (..) Und diese Herangehensweise hat uns damals mächtig geärgert."
Geschichtslehrer Materne gründete mit einigen Mitstreitern den Arbeitskreis Stadtgeschichte. Diese Geschichtswerkstatt nahm Kontakt auf zu ehemaligen Zwangsarbeitern, die in Salzgitter im Konzentrationslager inhaftiert gewesen waren.
"Wir haben Interviews gemacht mit den Überlebenden, die uns sehr angerührt haben, das war wichtig, die Lebensgeschichten aufzuzeichnen und zu archivieren."
Was 1982 in Salzgitter geschah, konnte man in der ganzen Bundesrepublik beobachten.
"Jetzt entstanden überall vor Ort Geschichtswerkstätten."
Weit über 100 Geschichtswerkstätten in Deutschland
Mitte der 80er-Jahre gab es in Deutschland weit über 100 Geschichtswerkstätten. So erforschten in Recklinghausen Bergarbeiter die Geschichte der Kohle im Ruhrgebiet. An der Werra begaben sich Jugendliche auf Spurensuche an der deutsch-deutschen Grenze. In Oldenburg entstand der "Verein zur Erforschung und Bewahrung der Glasindustrie und ihrer Arbeiter".
Und in Berlin trafen sich ehemalige Borsig-Arbeiter zu einem historischen Gesprächskreis. Eine der Hochburgen dieser neuen Geschichtsbewegung war Hamburg, wo es bis heute noch über 20 verschiedene Geschichtswerkstätten gibt. Lena Langensiepen, Historikerin von der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte, untersucht gerade die Entwicklung der neuen Geschichtsbewegung der 1980er-Jahre in der Hansestadt:
"Es gibt in den 80er-Jahren Interviewprojekte, in denen ehemals in Hamburg lebende Juden interviewt werden, die dann ihre Lebensgeschichte erzählen und dabei auch über ihre Verfolgungserfahrungen erzählen können."
Später institutionalisiert sich diese Initiative zur "Werkstatt der Erinnerung".
Besonders an dieser neuen Geschichtsbewegung ist eben, dass sich viele zivilgesellschaftliche Initiativen gründen, die einen neuen Umgang mit Geschichte fordern und selber umsetzen wollen, die neue Themen untersuchen wollen und einen neuen Zugang zu den Quellen, die eine demokratischere Form von Geschichtsschreibung fordern und sich als Gegenentwurf zu einer etablierten Wissenschaft an den Universitäten sehen."
"Geschichte von unten" heißt eines der Schlagwörter. Geschichtsschreibung soll aus der Perspektive und möglichst mit Beteiligung derjenigen geschehen, die die Ereignisse selbst erlebt und oft auch darunter gelitten haben. Und: Keine Fixierung auf schriftliche Quellen, die meist nur ein Spiegel der herrschenden Meinung seien. Stattdessen setzen die "Basis-Historiker" auf oral history, auf die Gespräche mit Zeitzeugen – eine bei den arrivierten Uni-Historikern umstrittene Methode.
"Es gibt in den 80er-Jahren Interviewprojekte, in denen ehemals in Hamburg lebende Juden interviewt werden, die dann ihre Lebensgeschichte erzählen und dabei auch über ihre Verfolgungserfahrungen erzählen können."
Später institutionalisiert sich diese Initiative zur "Werkstatt der Erinnerung".
Besonders an dieser neuen Geschichtsbewegung ist eben, dass sich viele zivilgesellschaftliche Initiativen gründen, die einen neuen Umgang mit Geschichte fordern und selber umsetzen wollen, die neue Themen untersuchen wollen und einen neuen Zugang zu den Quellen, die eine demokratischere Form von Geschichtsschreibung fordern und sich als Gegenentwurf zu einer etablierten Wissenschaft an den Universitäten sehen."
"Geschichte von unten" heißt eines der Schlagwörter. Geschichtsschreibung soll aus der Perspektive und möglichst mit Beteiligung derjenigen geschehen, die die Ereignisse selbst erlebt und oft auch darunter gelitten haben. Und: Keine Fixierung auf schriftliche Quellen, die meist nur ein Spiegel der herrschenden Meinung seien. Stattdessen setzen die "Basis-Historiker" auf oral history, auf die Gespräche mit Zeitzeugen – eine bei den arrivierten Uni-Historikern umstrittene Methode.
Zeit der Anti-AKW-, Friedens- und Hausbesetzerbewegung
Es waren die Jahre, in denen politische und soziale Bewegungen eine zuvor unbekannte Bedeutung erlangten: Anti-Atomkraft-, Friedens-, Hausbesetzerbewegung. In diesem Klima ging es den meisten dieser "neuen Historiker" nicht nur um die Erforschung von Geschichte, sondern auch um politisches Engagement. In Salzgitter setzte sich der Arbeitskreis Stadtgeschichte schon früh für die Errichtung einer Gedenkstätte ein, um an das Leiden der mehr als 3000 KZ-Häftlinge zu erinnern, berichtet Eva Freudenstein vom Vorstand des Arbeitskreises:
"Wir haben seit 1985 auf dem ehemaligen Appellplatz eine Gedenkfeier durchgeführt, immer am 11. April. Das ist der Tag der Befreiung Salzgitters. Da sind die Amerikaner einmarschiert 1945."
Doch das ehemalige KZ lag auf dem Gelände des Stahlunternehmens Salzgitter AG, dem Nachfolger der "Reichswerke Hermann Göring".
Freudenstein: "Dann haben wir für die Gedenkstätte an dem authentischen Ort gekämpft, und von Seiten der Geschäftsführung kamen immer wieder Argumente dagegen – aus ganz unterschiedlichen Bereichen: Einerseits hat man gesagt, man kann der Belegschaft nicht zumuten, im KZ zu arbeiten; dann wurde gesagt, das Gebiet steht zukunftsträchtigen Investitionen im Wege. Es wurde politisch nicht gewollt."
Materne: "Die Kämpfe um die Erinnerung waren sehr schwierig, es bedurfte eines jahrelangen Kampfes, um die Überzeugungsarbeit erfolgreich zu beenden. Dass die Salzgitter AG am Ende genehmigt hat, eine Gedenkstätte auch auf ihrem Gelände zu errichten, ist ein Resultat unserer Kämpfe."
Sagt Albrecht Materne.1992 willigte die Salzgitter AG ein, auf dem Werksgelände einen Erinnerungsort einzurichten: zwei Jahre später wurde dann die Gedenkstätte KZ Drütte eröffnet.
"Wir haben seit 1985 auf dem ehemaligen Appellplatz eine Gedenkfeier durchgeführt, immer am 11. April. Das ist der Tag der Befreiung Salzgitters. Da sind die Amerikaner einmarschiert 1945."
Doch das ehemalige KZ lag auf dem Gelände des Stahlunternehmens Salzgitter AG, dem Nachfolger der "Reichswerke Hermann Göring".
Freudenstein: "Dann haben wir für die Gedenkstätte an dem authentischen Ort gekämpft, und von Seiten der Geschäftsführung kamen immer wieder Argumente dagegen – aus ganz unterschiedlichen Bereichen: Einerseits hat man gesagt, man kann der Belegschaft nicht zumuten, im KZ zu arbeiten; dann wurde gesagt, das Gebiet steht zukunftsträchtigen Investitionen im Wege. Es wurde politisch nicht gewollt."
Materne: "Die Kämpfe um die Erinnerung waren sehr schwierig, es bedurfte eines jahrelangen Kampfes, um die Überzeugungsarbeit erfolgreich zu beenden. Dass die Salzgitter AG am Ende genehmigt hat, eine Gedenkstätte auch auf ihrem Gelände zu errichten, ist ein Resultat unserer Kämpfe."
Sagt Albrecht Materne.1992 willigte die Salzgitter AG ein, auf dem Werksgelände einen Erinnerungsort einzurichten: zwei Jahre später wurde dann die Gedenkstätte KZ Drütte eröffnet.
Historisches und politisches Interesse
Ein typisches Beispiel, wie historisches Interesse in politische Arbeit für eine Gedenkstätte mündete, sagt Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten. Und er verweist auch auf das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen:
Wagner: "In Bergen-Belsen gab es bis 1987 keinen Mitarbeiter, der sich im Rahmen von Forschung und Bildung mit dem Ort beschäftigt hätte. Es gab einen Menschen, der in Bergen Belsen gearbeitet hat, und das war der Friedhofsgärtner. Das fing erst 1987 an, nachdem sich vorher eine Arbeitsgemeinschaft gegründet hat von engagierten Bürgern, die sich der Geschichte des Ortes angenommen haben und angefangen haben, so was wie politisch-historische Bildungsarbeit zu machen."
Heute seien die Bewertung der Gedenkstättenarbeit und der Blick auf den Nationalsozialismus bei allen Bundestagsparteien jenseits der AfD weitgehend common sense, meint Jens-Christian Wagner. Das habe aber Anfang der 80er-Jahre noch ganz anders ausgesehen:
"Wenn es diese Phase des bürgerschaftlichen Engagements in den 80er-Jahren nicht gegeben hätte, dann sähe es heute ganz anders aus. Insofern kann man denjenigen, die damals zum Teil gegen sehr starken Gegenwind kämpfen mussten aus der Mehrheitsgesellschaft, nicht dankbar genug sein."
Wagner: "In Bergen-Belsen gab es bis 1987 keinen Mitarbeiter, der sich im Rahmen von Forschung und Bildung mit dem Ort beschäftigt hätte. Es gab einen Menschen, der in Bergen Belsen gearbeitet hat, und das war der Friedhofsgärtner. Das fing erst 1987 an, nachdem sich vorher eine Arbeitsgemeinschaft gegründet hat von engagierten Bürgern, die sich der Geschichte des Ortes angenommen haben und angefangen haben, so was wie politisch-historische Bildungsarbeit zu machen."
Heute seien die Bewertung der Gedenkstättenarbeit und der Blick auf den Nationalsozialismus bei allen Bundestagsparteien jenseits der AfD weitgehend common sense, meint Jens-Christian Wagner. Das habe aber Anfang der 80er-Jahre noch ganz anders ausgesehen:
"Wenn es diese Phase des bürgerschaftlichen Engagements in den 80er-Jahren nicht gegeben hätte, dann sähe es heute ganz anders aus. Insofern kann man denjenigen, die damals zum Teil gegen sehr starken Gegenwind kämpfen mussten aus der Mehrheitsgesellschaft, nicht dankbar genug sein."