Langzeitgedächtnis als Festplatte?
Nur Informationen googeln funktioniert auf Dauer nicht. Ein gewisses Basiswissen hält der Psychologieprofessor Aljoscha Neubauer für durchaus wichtig. Denn je mehr man schon gelernt hat, desto leichter wird es, neues Wissen zu erwerben.
Ulrike Timm: Ich weiß es nicht, aber ich weiß, wo ich es nachschlagen kann. Der Spruch ist viel älter als jede Suchmaschine, aber seitdem es das Internet gibt, hat sich sein Wert womöglich noch gesteigert. Nie war wissen so leicht verfügbar wie heute. Was ja nicht zwangsläufig heißt, dass man nichts mehr im Kopf haben muss, denn zum einen ist das Internet ein gigantischer Steinbruch, dessen viele Partikel man ja auch einschätzen und verknüpfen muss, zum anderen gehört es doch zu einem Menschen dazu, dass er sich seine Welt bildet mit Hilfe des eigenen Verstandes. Die "Zukunft des Lernens" beleuchten wir in dieser Woche im Radiofeuilleton gleich mehrfach. Den Anfang machte der Psychologieprofessor Aljoscha Neubauer, er forscht an der Uni Graz vor allem über die Zusammenhänge von Intelligenz und Kreativität und über die neurophysiologischen Grundlagen des Lernens. Und wenn bei diesen Grundlagen Lesen, Schreiben, Rechnen doch ganz unangefochten sind, am reinen Wissen scheiden sich ja oft die Geister, und deshalb habe ich ihn zuerst gefragt, wie er denn reagiert, wenn ihm jemand konsequent entgegnet: Das googel ich mal!
Aljoscha Neubauer: Es steht dahinter gewissermaßen die Computermetapher. Es ist sozusagen alles irgendwo auf einer großen Festplatte oder in der Cloud vorhanden, und daher muss ich eigentlich nichts mehr oder nicht mehr viel wissen, weil ich kann ja darauf zugreifen, auf die Cloud, auf die große Festplatte. Diese Annahme geht sozusagen von einem Modell des Langzeitgedächtnisses als Festplatte, wenn man so will, aus.
Das ist aber ein fehlerhaftes Modell. Unser Langzeitgedächtnis funktioniert eben nicht wie eine Festplatte, wo die Informationen einfach sequenziell und unverbunden gespeichert sind, sondern unser Langzeitgedächtnis, das wissen wir seit Jahrzehnten aus der kognitiven Psychologie, hat einen netzwerkartigen Charakter. Das heißt, es sind – neue Informationen werden an alte Informationen, an bereits vorhandene Informationen angebunden, werden angeknüpft, werden damit auch stabiler. Wir wissen aus der kognitiven Psychologie, dass je mehr man schon gelernt hat, desto leichter wird es, neues Wissen zu erwerben in einer Domäne. Aber natürlich geht es auch darum, dann verschiedene Wissensquellen sozusagen miteinander in Beziehung zu setzen.
Aljoscha Neubauer: Es steht dahinter gewissermaßen die Computermetapher. Es ist sozusagen alles irgendwo auf einer großen Festplatte oder in der Cloud vorhanden, und daher muss ich eigentlich nichts mehr oder nicht mehr viel wissen, weil ich kann ja darauf zugreifen, auf die Cloud, auf die große Festplatte. Diese Annahme geht sozusagen von einem Modell des Langzeitgedächtnisses als Festplatte, wenn man so will, aus.
Das ist aber ein fehlerhaftes Modell. Unser Langzeitgedächtnis funktioniert eben nicht wie eine Festplatte, wo die Informationen einfach sequenziell und unverbunden gespeichert sind, sondern unser Langzeitgedächtnis, das wissen wir seit Jahrzehnten aus der kognitiven Psychologie, hat einen netzwerkartigen Charakter. Das heißt, es sind – neue Informationen werden an alte Informationen, an bereits vorhandene Informationen angebunden, werden angeknüpft, werden damit auch stabiler. Wir wissen aus der kognitiven Psychologie, dass je mehr man schon gelernt hat, desto leichter wird es, neues Wissen zu erwerben in einer Domäne. Aber natürlich geht es auch darum, dann verschiedene Wissensquellen sozusagen miteinander in Beziehung zu setzen.
"Basiswissen notwenig"
Es macht keinen Sinn, wenn ich sozusagen wenig Basiswissen hab, dann kann ich – dann weiß ich nicht, wo ich neu eintreffende Informationen ablegen soll, wie ich sie mit dem Bestehenden verknüpfen muss. Das heißt, dieser netzwerkartige Charakter unseres Langzeitgedächtnisses ist auch neurophysiologisch gesehen einer der wesentlichen Gründe, warum ein Grundwissen, ein Basiswissen notwendig ist.
Timm: Herr Neubauer, wenn das Hirn lebenslang unsere allerbeste Baustelle ist und immer wieder verknüpft – freut es sich dann eigentlich über Arbeit, die schon fast als stupide gilt, zum Beispiel Auswendiglernen, oder ist dem Hirn das relativ egal?
Neubauer: Na ja, das Auswendiglernen hat, wenn, ja nur den Sinn, dass es gewisse andere Kompetenzen schult, Kompetenzen der Selbstorganisation, der Selbstdisziplin, auch sozusagen der Fähigkeit, dass ich bereit bin, auch mühevolle Phasen des Lernens auf mich zu nehmen, wo es einfach im Moment vielleicht mal nicht mehr Spaß macht, aber wo ich weiß, im Sinne des Belohnungsaufschubs. Später, wenn ich etwas kann, wenn ich etwas wirklich gut beherrsche, dann kann ich auch mit dem Gelernten spielerisch umgehen. Und das eröffnet mir erst die Möglichkeit, auch kreativ zu werden, zu improvisieren, Dinge aus verschiedenen Bereichen zu verknüpfen. Wir wissen, dass Wissen die zentrale Grundlage für Kreativität ist.
Timm: Wie hängen denn Kreativität und Intelligenz, also die kognitiven Fähigkeiten zusammen? Kommt das vor, dass jemand ganz leicht lernt, aber dass ihm trotzdem nie was Eigenes einfällt?
Neubauer: Das kommt durchaus vor. Es ist diese Frage noch nicht endgültig entschieden, und es gibt widersprüchliche Forschungsbefunde. Eine Hypothese ist die sogenannte Schwellentheorie der Beziehung von Intelligenz und Kreativität, dass man sagt, Intelligenz ist eine notwendige Voraussetzung für die Kreativität, aber keine hinreichende Voraussetzung.
Timm: Geben Sie uns doch mal ein Beispiel.
Neubauer: Ein Jazz-Musiker zum Beispiel, der muss sein Instrument perfekt beherrschen, damit er improvisieren kann, damit er auf andere reagieren kann in einem Jazz-Ensemble zum Beispiel, in dem er neue Figuren entwickeln kann. Das Ganze geht nur, wenn sozusagen eine hohe Grundfähigkeit, Grundkompetenz vorhanden ist.
Timm: Deutschlandradio Kultur, wir starten mit Aljoscha Neubauer unsere kleine Radiofeuilleton-Serie zur "Zukunft des Lernens". Herr Neubauer, Sie haben sogar herausgefunden, dass die gelungene Kombination aus Lernen, Wissen und Fleiß die reine Intelligenz gelegentlich sogar abhängen kann. Können Sie uns das mal erklären?
Timm: Herr Neubauer, wenn das Hirn lebenslang unsere allerbeste Baustelle ist und immer wieder verknüpft – freut es sich dann eigentlich über Arbeit, die schon fast als stupide gilt, zum Beispiel Auswendiglernen, oder ist dem Hirn das relativ egal?
Neubauer: Na ja, das Auswendiglernen hat, wenn, ja nur den Sinn, dass es gewisse andere Kompetenzen schult, Kompetenzen der Selbstorganisation, der Selbstdisziplin, auch sozusagen der Fähigkeit, dass ich bereit bin, auch mühevolle Phasen des Lernens auf mich zu nehmen, wo es einfach im Moment vielleicht mal nicht mehr Spaß macht, aber wo ich weiß, im Sinne des Belohnungsaufschubs. Später, wenn ich etwas kann, wenn ich etwas wirklich gut beherrsche, dann kann ich auch mit dem Gelernten spielerisch umgehen. Und das eröffnet mir erst die Möglichkeit, auch kreativ zu werden, zu improvisieren, Dinge aus verschiedenen Bereichen zu verknüpfen. Wir wissen, dass Wissen die zentrale Grundlage für Kreativität ist.
Timm: Wie hängen denn Kreativität und Intelligenz, also die kognitiven Fähigkeiten zusammen? Kommt das vor, dass jemand ganz leicht lernt, aber dass ihm trotzdem nie was Eigenes einfällt?
Neubauer: Das kommt durchaus vor. Es ist diese Frage noch nicht endgültig entschieden, und es gibt widersprüchliche Forschungsbefunde. Eine Hypothese ist die sogenannte Schwellentheorie der Beziehung von Intelligenz und Kreativität, dass man sagt, Intelligenz ist eine notwendige Voraussetzung für die Kreativität, aber keine hinreichende Voraussetzung.
Timm: Geben Sie uns doch mal ein Beispiel.
Neubauer: Ein Jazz-Musiker zum Beispiel, der muss sein Instrument perfekt beherrschen, damit er improvisieren kann, damit er auf andere reagieren kann in einem Jazz-Ensemble zum Beispiel, in dem er neue Figuren entwickeln kann. Das Ganze geht nur, wenn sozusagen eine hohe Grundfähigkeit, Grundkompetenz vorhanden ist.
Timm: Deutschlandradio Kultur, wir starten mit Aljoscha Neubauer unsere kleine Radiofeuilleton-Serie zur "Zukunft des Lernens". Herr Neubauer, Sie haben sogar herausgefunden, dass die gelungene Kombination aus Lernen, Wissen und Fleiß die reine Intelligenz gelegentlich sogar abhängen kann. Können Sie uns das mal erklären?
"Frühe Wissensunterschiede erklären spätere Wissensunterschiede"
Neubauer: Es gibt Studien, die zeigen, dass sogenannte Längsschnittstudien, wo man Personen, im konkreten Fall Schüler und Schülerinnen über zehn Jahre hinweg im Bezug auf die Entwicklung von zum Beispiel Mathematikkompetenzen beobachtet hat. Und da hat man festgestellt, dass die Mathematikkompetenz zum Beispiel im Alter von 16 oder 17 Jahren zu einem weitaus geringeren Teil erklärbar ist durch die Unterschiede in der Intelligenz. Die spielen zwar auch eine Rolle, aber die wesentliche Komponente war eigentlich das grundlegende Mathematikwissen schon im Alter von acht oder neun Jahren.
Das heißt, frühe Wissensunterschiede erklären spätere Wissensunterschiede zum Teil besser als Intelligenzunterschiede. Ein anderer Befund ist, dass Studien gezeigt haben, dass Faktoren wie Ausdauer, Motivation, Selbstdisziplin Leistungsunterschiede im schulischen, aber auch im beruflichen Kontext besser erklären können als Intelligenzunterschiede. Das hängt auch jeweils von der Domäne ab. Es gibt Bereiche, die stärker von der Intelligenz abhängig sind, Bereich Physik, Mathematik oder andere Naturwissenschaften, da gibt es schon sozusagen eine große Bedeutung auch einer gewissen Mindestintelligenz, aber in anderen Domänen wiederum ist es so, dass ich durchaus ein Weniger an Intelligenz durch ein Mehr an Wissenserwerb, durch ein Mehr an Fleiß und Motivation und Selbstdisziplin kompensieren kann.
Timm: Von Lernen völlig unbeeinflusste Intelligenz, die gibt es doch eigentlich nicht mal mehr bei Babys. Die bilden sich doch auch ihre Welt jeden Tag, weil eben alles miteinander zu tun hat. Wie erforscht man da diese Grenzbereiche, wie sehr Lernen und Wissen und Intelligenz tatsächlich voneinander abhängen und wo die Grenzen sind. Das stelle ich mir unendlich schwer vor.
Neubauer: Na ja, das untersucht man auf zwei Ebenen. Einerseits, und da ist man wesentlich weiter, auf der Verhaltensebene, indem man Personen eben über längere Zeiträume studiert. Was weitaus schwieriger ist und wo wir viel weniger weit sind, das ist das auf der neurophysiologischen Ebene, wo eben über den Prozess der Gehirnentwicklung man versucht herauszufinden, was sind sozusagen sensible Phasen. Aber das wird vielfach noch überschätzt. Also die Studien zum Brain-Imaging, die Vermessung sozusagen des Gehirns mittels sogenannter bildgebender Verfahren, das dauert sicher noch zehn, 20 Jahre, bevor man aus einem Gehirnbild vorhersagen kann, wie gut jemand irgendetwas Bestimmtes lernen kann. Derzeit geht das auf Basis psychologischer Tests weitaus besser.
Das heißt, frühe Wissensunterschiede erklären spätere Wissensunterschiede zum Teil besser als Intelligenzunterschiede. Ein anderer Befund ist, dass Studien gezeigt haben, dass Faktoren wie Ausdauer, Motivation, Selbstdisziplin Leistungsunterschiede im schulischen, aber auch im beruflichen Kontext besser erklären können als Intelligenzunterschiede. Das hängt auch jeweils von der Domäne ab. Es gibt Bereiche, die stärker von der Intelligenz abhängig sind, Bereich Physik, Mathematik oder andere Naturwissenschaften, da gibt es schon sozusagen eine große Bedeutung auch einer gewissen Mindestintelligenz, aber in anderen Domänen wiederum ist es so, dass ich durchaus ein Weniger an Intelligenz durch ein Mehr an Wissenserwerb, durch ein Mehr an Fleiß und Motivation und Selbstdisziplin kompensieren kann.
Timm: Von Lernen völlig unbeeinflusste Intelligenz, die gibt es doch eigentlich nicht mal mehr bei Babys. Die bilden sich doch auch ihre Welt jeden Tag, weil eben alles miteinander zu tun hat. Wie erforscht man da diese Grenzbereiche, wie sehr Lernen und Wissen und Intelligenz tatsächlich voneinander abhängen und wo die Grenzen sind. Das stelle ich mir unendlich schwer vor.
Neubauer: Na ja, das untersucht man auf zwei Ebenen. Einerseits, und da ist man wesentlich weiter, auf der Verhaltensebene, indem man Personen eben über längere Zeiträume studiert. Was weitaus schwieriger ist und wo wir viel weniger weit sind, das ist das auf der neurophysiologischen Ebene, wo eben über den Prozess der Gehirnentwicklung man versucht herauszufinden, was sind sozusagen sensible Phasen. Aber das wird vielfach noch überschätzt. Also die Studien zum Brain-Imaging, die Vermessung sozusagen des Gehirns mittels sogenannter bildgebender Verfahren, das dauert sicher noch zehn, 20 Jahre, bevor man aus einem Gehirnbild vorhersagen kann, wie gut jemand irgendetwas Bestimmtes lernen kann. Derzeit geht das auf Basis psychologischer Tests weitaus besser.
"Was sollte man googeln?"
Timm: Lassen Sie mich noch mal den Bogen zurück schlagen zum Beginn unseres Gesprächs. Sie haben uns ja anschaulich beschrieben, dass Google dem Hirn die Arbeit des Lernens weiß Gott nicht abnimmt, aber wann – welches Wissen brauchen wir wirklich nicht, wann sollte man doch eben schlicht googeln, statt die eigenen grauen Zellen damit zu verstopfen?
Neubauer: Den Basisbildungskanon, ich sag mal, die Fächer, die in der Schule unterrichtet werden, da kann man natürlich bei einzelnen drüber streiten, aber der Basiskanon ist eben deshalb wichtig, damit ich plausible von weniger plausiblen Informationen trennen kann. Erst, wenn ich ein Grundwissen in einem Fach hab, kann ich beurteilen, was von den mir dort dargebotenen Informationen wirklich eine Gültigkeit hat, was plausible, was sinnhafte Aussagen sind oder was etwas, auf der anderen Seite etwas ist, was sich nur jemand einfach mal ausgedacht hat und das dort im Internet postet, was aber beispielsweise mit empirischen Befunden überhaupt nicht übereinstimmt oder auch einfach Falschaussagen sind.
Timm: Dank an Aljoscha Neubauer. Er erforscht die Grundlagen der Intelligenz und des Lernens. Am Mittwoch bilden wir uns wieder weiter. Dann setzen wir unsere Radiofeuilleton-Reihe "Zukunft des Lernens" fort, und dann geht es um den sinnvollen Einsatz neuer Medien eben in der Schule. Am Mittwoch voraussichtlich um 14 Uhr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Neubauer: Den Basisbildungskanon, ich sag mal, die Fächer, die in der Schule unterrichtet werden, da kann man natürlich bei einzelnen drüber streiten, aber der Basiskanon ist eben deshalb wichtig, damit ich plausible von weniger plausiblen Informationen trennen kann. Erst, wenn ich ein Grundwissen in einem Fach hab, kann ich beurteilen, was von den mir dort dargebotenen Informationen wirklich eine Gültigkeit hat, was plausible, was sinnhafte Aussagen sind oder was etwas, auf der anderen Seite etwas ist, was sich nur jemand einfach mal ausgedacht hat und das dort im Internet postet, was aber beispielsweise mit empirischen Befunden überhaupt nicht übereinstimmt oder auch einfach Falschaussagen sind.
Timm: Dank an Aljoscha Neubauer. Er erforscht die Grundlagen der Intelligenz und des Lernens. Am Mittwoch bilden wir uns wieder weiter. Dann setzen wir unsere Radiofeuilleton-Reihe "Zukunft des Lernens" fort, und dann geht es um den sinnvollen Einsatz neuer Medien eben in der Schule. Am Mittwoch voraussichtlich um 14 Uhr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.