Laptop unterm Baum?

Von Thomas Kruchem |
Die einzige Chance armer Länder und ihrer Bürger, wirtschaftliches Potenzial zu entwickeln, birgt der Aufbau eines modernen Bildungswesens. Hier liegt, zum Beispiel in Äthiopien, noch fast alles im Argen: Viele Kinder gehen gar nicht zur Schule, da sie zum Unterhalt der Familie beitragen müssen. An den meisten Schulen halten inkompetente Lehrer nutzlosen Frontalunterricht; bei dem unverdautes Wissen nur gepaukt wird.
Leitbild ist der gehorsame Untertan. Praxisbezug der Bildung und selbständiges Denken waren bislang kaum gefragt. All dies spiegelt sich in einer vielfach mittelalterlichen Landwirtschaft und einer extrem kleinen, auf primitivem Niveau werkelnden Industrie. Die äthiopische Regierung hat diese Defizite inzwischen erkannt und versucht nun in einem beispiellosen Kraftakt, das Bildungswesen zu reformieren.

Schwester Kassa, eine katholische Nonne, führt den Besucher durch staubige Straßen, gesäumt von nagelneuen Eigenheimen aus gelbem Sandstein – Frucht trotzigen, von der Weltbank bezahlten Wiederaufbaus. Wir sind Salambessa, einem äthiopischen Städtchen an der Grenze zu Eritrea. 1998, in einem der Kriege zwischen den verfeindeten Nachbarstaaten, hatten eritreische Soldaten Salambessa dem Erdboden gleichgemacht hatte. In den meisten der neuen, schmucken Häuser stehen keine Möbel. Kinder liegen auf nacktem Betonboden. Draußen keine Ochsen, keine Maultiere; nur wenige Frauen verkaufen Injera, aus Teff gebackenes Fladenbrot. Salambessa, bis vor zehn Jahren ein pulsierendes Handelszentrum, ist, seit die Handelsrouten nach Eritrea geschlossen sind, erstarrt in Agonie. Die Menschen überleben von kargen Rationen des Welternährungsprogramms, viele hungern.

Auch Schüler der kleinen Grundschule, die Schwester Kassa auf dem Gelände der katholischen Kirche betreibt – unterstützt vom deutschen katholischen Hilfswerk "Misereor".

Schwester Kassa: "Für jeden Schüler berechnen wir pro Jahr hundert Birr, 14 Euro, Schulgebühren. Bitten wir aber die Eltern darum, die Gebühren zu zahlen, hören wir nur Klagen: "Wir haben kein Geld. Wir müssen jetzt schon unsere Kinder ohne Essen zur Schule schicken." Tatsächlich schlafen manche Kinder im Unterricht – weil sie offensichtlich morgens nichts gegessen haben. Und vor ein paar Tagen kam eine Frau zu mir und sagte, sie könne drei ihrer Kinder gar nicht in die Schule schicken – weil die zu schwach seien vor lauter Hunger."


Auch in Äthiopien ist der Zugang zu Bildung bis heute ein Privileg. Das Land zählt zu den fünf ärmsten der Welt; die Hälfte der rasant wachsenden Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze; die Hälfte ist unter 15 Jahre alt. Fast 40 Prozent dieser Kinder besuchen keine Schule – mit der Folge, dass jährlich zwei Millionen Jugendliche ohne Ausbildung auf die Straße strömen. In jüngster Zeit jedoch hat Premier Meles Zenawi das Bildungswesen Äthiopiens zur Chefsache gemacht und das Budget massiv erhöht.

Sechs Prozent des Sozialprodukts und 17,5 Prozent des Staatshaushalts wendet Äthiopien heute für Bildung auf – ein im afrikanischen Vergleich ansehnlicher Wert. Mit dem Geld wurden in den letzten Jahren tausende Grundschulen gebaut; die Einschulungsquote stieg auf fast 90 Prozent. Kaum investiert jedoch wurde bislang in die Qualität der Schulbildung, sagt Bernd Sandhaas, der für den Deutschen Volkshochschulverband Erwachsenenbildung in Ostafrika organisiert. Insbesondere auf dem Land seien die Verhältnisse katastrophal.

Sandhaas: "Es gibt genügend Klassen, die haben 120 Schüler, hier. Und wenn Sie sich das vorstellen und die Gebäude dann mit Wellblechdach – wenn der Regen darauf trommelt, versteht kein Mensch mehr irgendein Wort des Lehrers. Hinzu kommt, dass die Ausstattung mit Schulbüchern sehr schlecht ist. Es ist bei weitem nicht so, dass jedes Kind ein Schulbuch hat, schon gar nicht in jedem Fach. In den meisten Fächern müssen sich immer mehrere Kinder ein Buch teilen – theoretisch; ob das praktisch klappt, ist sehr fraglich. Hinzu kommt, dass die Kinder zuhause meist keinerlei Gelegenheit haben, Hausaufgaben zu machen."

Und es gibt noch ein Problem: Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat – wo bis 1991 das Hochlandvolk der Amharen herrschte, das seine Sprache den anderen Völkern als Verkehrs und Unterrichtssprache aufzwang. Heute herrscht kulturelle Autonomie, die lernbegierigen Schülern allerdings wenig hilft.

Sandhaas: "Es gibt um die 80 ethnische Gruppen in Äthiopien und dementsprechend ähnlich viele Sprachen, und beileibe nicht alle sind verschriftlicht. Und man weiß aus der Forschung, dass Lesen, Schreiben, Rechnen lernen am besten geht, wenn man es in der Muttersprache tut. Nur, in 80 Sprachen geht das nicht Und das wiederum trägt massiv dazu bei, dass, zum Beispiel, die "drop out"- Raten am Ende des ersten Schuljahres extrem hoch sind in den Regionen, wo diese Sprachprobleme existieren."

An Äthiopiens Schulen, wo es meist wenige schlechte Bücher und fast keine Lehrmaterialien gibt, sind die notdürftig ausgebildeten Lehrer völlig überfordert. Sie beschränken sich denn auch auf reinen Frontalunterricht; kopieren Texte, Regeln und mathematische Formeln aus dem Lehrbuch an die Tafel; lassen wiederholen und auswendig lernen. Gelegenheit, Stoff zu hinterfragen und so die Schüler zu selbständigem Denken zu erziehen, gibt es nicht. Im Gegenteil: Oft fällt der Unterricht aus, weil der Lehrer, um seine Familie ernähren, hinzuverdienen muss. Die Lernerfolge sind entsprechend: Nur jedes zweite Kind schließt die achtjährige Grundschule überhaupt ab; von den Absolventen sind 50 Prozent immer noch funktionale Analphabeten. – Äthiopiens Regierung bemüht sich, die Ausbildung von Lehrern zu verbessern, sagt Taklu Tafesse, Direktor der in einem Armenviertel von Addis Abeba gelegenen, so genannten "deutschen Kirchenschule". Extrem hinderlich dabei sei die autoritäre Struktur der äthiopischen Gesellschaft, in der der Einzelne nur auf Befehl handelt oder mit ausdrücklicher Genehmigung; wo selbständiges Denken und Entscheiden entsprechend verpönt ist – auch und gerade im Bildungswesen.

Taklu Tafesse: "”Unser Bildungswesen ist traditionell darauf ausgerichtet, den Interessen der jeweiligen Regierung zu dienen – und nicht in erster Linie die Entwicklung unserer Kinder zu fördern. Das heißt: Wir erziehen unsere Kinder zu gehorsamen Untertanen – anstatt aus ihnen selbständig denkende Staatsbürger zu formen, die dann dem Gemeinwesen in vielerlei Funktion dienen könnten.""

Die von der evangelischen Kirche Deutschlands getragene "deutsche Kirchenschule" hat ein alternatives Modell der Schulbildung entwickelt: Die Schule nimmt ausschließlich Kinder aus extrem armen Familien auf; Mädchen und Behinderte werden bevorzugt; die Kinder bekommen Uniformen, Essen und ein Taschengeld, das den Verlust ihrer Arbeitskraft für die Familie ausgleicht. Lernschwache Kinder werden individuell gefördert; alle Kinder von motivierten Lehrern zu selbständigem, kritisch-analytischem Denken erzogen – was mit pädagogisch undurchdachten Büchern und den vom Erziehungsministerium diktierten Lehrplänen nicht einfach ist.

Taklu Tafesse: "”Die Curricula sind einfach nicht kindgerecht gestaltet. In Konferenzen mit dem Erziehungsministerium haben wir das schon oft kritisiert – so wie Vertreter vieler anderer Schulen. Und stets versprach man, unsere Einwände zu berücksichtigen – was bis heute allerdings nicht geschehen ist.""

Taklu Tafesse und seine Kollegen behelfen sich damit, im Rahmen des Zulässigen, Lehrbücher zu ergänzen und selbst entwickelte Materialien im Unterricht einzusetzen. Der Erfolg gibt ihnen recht: Während nur 13 Prozent aller äthiopischen Jugendlichen einen Sekundarschulabschluss erreichen, sind es an der deutschen Kirchenschule 80 Prozent.

Im "Wingate Technical College" von Addis Abeba wirken Studienanfänger zwischen Drehbänken, Fräsmaschinen und Schweißstationen wie Kinder inmitten von UFOs. – Kein Wunder, nur drei Prozent aller jungen Äthiopier absolvieren eine qualifizierte Berufsausbildung; die Zahl der Studenten liegt bei unter 50.000; das sind weniger als in Berlin. Davon abgesehen gilt die Ausbildung an Universitäten und Colleges als praxisfern und theorielastig – was sich nicht verträgt mit dem neuerdings wichtigsten Ziel der Regierung, Äthiopien endlich zu industrialisieren, Millionen Menschen in die Städte zu ziehen und so den übervölkerten ländlichen Raum zu entlasten. Die Regierung hat deshalb begonnen, die Ausbildung speziell von Ingenieuren und Technikern grundlegend zu reformieren – unterstützt von der "Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit", GTZ. "Wir wollen die Ausbildung praxisnah am Bedarf der Wirtschaft ausrichten", sagt Genet Meselet, eine leitende Mitarbeiterin des Programms.

Meselet: "”Früher wusste man in Äthiopien eine praktische Berufsausbildung überhaupt nicht zu würdigen. Man war fixiert auf theoretische und akademische Ausbildung. Wer sich die Finger schmutzig machte, genoss keinerlei Ansehen. Das änderte sich vor nunmehr zehn Jahren, als unsere Regierung endlich der technischen und handwerklichen Ausbildung einen hohen Stellenwert einräumte. Nach dieser neuen Politik zählt nun die handwerkliche Ausbildung äthiopischer Bürger zu den Säulen der Entwicklung in unserem Land.""

Da es kaum äthiopische Lehrkräfte gibt, die Handwerker und Techniker praktisch ausbilden können und es betriebliche Ausbildung allenfalls in Ansätzen gibt, springen vorläufig einige Dutzend deutsche Handwerksmeister ein. Schlossermeister Erwin Schulz, zum Beispiel, bildet in Addis Abeba Schlosser aus und gibt ihren von der Universität kommenden Lehrern Praxis-Nachhilfe. – Zweifel hat Schulz, ob die teils sehr speziellen Berufsbilder, nach denen neuerdings ausgebildet wird, tatsächlich den Bedarf am äthiopischen Arbeitsmarkt treffen.

Schulz: "Die kleinen und mittleren Betriebe, die können sich so was nicht erlauben. Da muss einer ein breites Feld wissen, der muss alles können: Der muss den Motor können, der muss eine Achse können, der muss ein Getriebe überholen können. Und so was wird jetzt nicht mehr angeboten. Das heißt: Da ist ein Problem."

Auch an Äthiopiens Universitäten, die bislang das abendländische Ideal einer universalen Bildung pflegten, soll künftig der Markt bestimmen, wo es lang geht – zumindest an den technischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten. Die Universitäten sollen, wie die Colleges, zu praxis- und bedarfsorientierten Stützen der Industrialisierung avancieren – nach dem Vorbild Europas. Bei der Realisierung dieses Ziels setzt Äthiopien, wie im Schulwesen, erst einmal auf Quantität:

Innerhalb von vier Jahren und für 250 Millionen Dollar werden derzeit 13 neue Universitäten mit 121.000 Studienplätzen ins ländliche Äthiopien gesetzt und damit die Kapazitäten mehr als verdreifacht. Offen bleibt: Woher will Äthiopien die Lehrkräfte für die vielen neuen Studenten nehmen? Wo wollen die neuen Universitäten ihre studierfähigen Studenten finden – wenn doch der ganze Unterbau an den Schulen fehlt? Wie, schließlich, will das bitterarme Äthiopien den Betrieb der neuen Unis finanzieren? Mit den vorbildlich niedrigen Studiengebühren, die man bislang den Studenten abverlangt, ist das sicher nicht zu machen. Bernd Sandhaas vom deutschen Volkshochschulverband schüttelt nur den Kopf.

Sandhaas: "Die Idee mit diesen Universitäten kommt vom Primeminister direkt und ist auch unserem damaligen Bundeskanzler direkt unterbreitet worden zur Unterstützung. Experten sind da nicht gefragt worden – und Bildungsexperten schon gar nicht. Und die Frage, die sich da stellt, ist in der Tat: "Ja, wer soll denn danach die Absolventen einstellen? Wer soll die bezahlen, wenn es überhaupt keine Industrie gibt? Universitäten sind doch keine Arbeitsplätze, nicht."

Es bleibt, vor diesem Hintergrund, die Tatsache, dass 85 Prozent der äthiopischen Jugendlichen nicht einmal die Sekundarschule erreichen; der Weg aus der Armut bleibt ihnen versperrt. – Um solchen Menschen zumindest grundlegende Fertigkeiten zu vermitteln, mit denen sie einen Lebensunterhalt bestreiten und ihre Kinder zur Schule schicken können, bieten viele Hilfsorganisationen handwerkliche Kurse an in den Dörfern Äthiopiens. Bevorzugt Frauen lernen, zum Beispiel, Snacks zum Verkauf auf der Straße herzustellen oder den effizienten Anbau von Gemüse. Frauen wie Alganish Amare…

…die in einem nordäthiopischen Bergdorf lebt und in zwei Kursen gelernt hat, ertragreich Gemüse anzubauen. Es fehlte nur immer an Wasser.

Amare: "Bis vor einem Jahr musste ich, wie alle Frauen hier, zweimal täglich drei Kilometer zur Quelle hinaufsteigen – und wieder herunter. Jetzt aber haben wir mit einer Hilfsorganisation einen Kanal gebaut, der uns das Wasser bis fast vor die Haustür bringt. Und ich kann, weil ich genug Wasser habe, Tomaten, Zwiebeln und Pfefferschoten anpflanzen – Gemüse, das mir auf dem Markt genug Geld einbringt, meine Kinder zur Schule zu schicken. Sie sollen nicht in der Erde herum wühlen wie ich, sondern studieren und viel Geld verdienen. ‚Die Grundschule reicht doch’, sagt mein Mann manchmal, und ich solle auch mal Geld für ihn oder mich ausgeben. ‚Nein’, sage ich dann. ‚Ich will, dass meine Kinder einmal ganz große Leute werden.’"

Weiteres Thema:
Armut statt Chancen – Besuch in einer chinesischen Schule auf dem Lande
Von Markus Rimmele