Lars Gustafsson: "Der optische Telegraph"

Die Mathematik der Sprache

Der optische Telegraf bei Gräfinthal. Der Dichter Lars Gustafsson nutzte die Technik als Metapher.
Der optische Telegraf bei Gräfinthal. Der Dichter Lars Gustafsson nutzte die Technik als Metapher. © imago / Becker & Bredel / Secession Verlag
Von Jörg Magenau |
Der nachgelassene Band des schwedischen Schriftstellers Lars Gustafsson ist eine lohnende Entdeckungsreise. Man kann darin einem Lyriker dabei zusehen, wie er seine Arbeit mit der Sprache versteht und begründet. Eine auf- und anregende Lektüre.
Was Poesie ausmacht, darauf gibt es viele Antworten. Der Reiz des umfangreichen lyrischen und erzählerischen Werkes von Lars Gustafsson lag stets darin, dass hier ein promovierter Philosoph schrieb, für den Theorie und Literatur keine Gegensätze darstellten. So knüpft er nun in dem Buch, über dessen Fertigstellung er starb, an seine Habilitation über "Sprache und Lüge" an.
"Der optische Telegraf", mit dessen Geschichte Gustafsson einsetzt, ist ein Nachrichtenübermittlungssystem des 19. Jahrhunderts. Mit diesem ausgeklügelten Zeichensystem konnten mit Winkelelementen Botschaften von Signalmast zu Signalmast weitergegeben werden.

Der optische Telegraf als linguistische Maschine

Die Strecke Berlin – Konstanz war so in einer Minute zu überwinden. Für Gustafsson handelt es sich um eine linguistische Maschine, die ihm zu einer Metapher wird und die Erkenntnis erlaubt, dass Sprache zwar kein Algorithmus ist, sich in ihr gleichwohl eine "nicht ganz triviale Form von Mathematik" aufhält.
So faszinieren ihn die Phänomene der Negation, die etwas anderes ist als die Zahl Null, weil die Sprache alles, was sie negiert, zugleich hervorbringt: Auch das, was verneint wird, ist da. Er untersucht Fragmente, also Partikel, die ihren Kontext verloren haben wie die Fragmente des Heraklit oder ein Fisch in einem zerstörten byzantinischen Mosaik.
Er fragt nach der Bedeutung von Lügen, von Träumen und poetischen Metaphern, die er der logisch-positivistischen Grundüberzeugung entgegenhält, es gäbe nur wahre oder falsche Sätze, alles andere sei irrelevant. Dass Metaphern auch in der Wissenschaft zur Anwendung kommen, ist eine schöne Nebenbeobachtung. So wurde Elektrizität im 19. Jahrhundert als Flüssigkeit gedacht und deshalb in Behältnissen wie der "Leidener Flasche" zu fassen versucht. Eine Metapher trägt so weit, wie sich mit ihr sinnvoll operieren lässt. Das gilt am Ende auch für die Poesie.

Versprechen, Befehle, religiöse Glaubensbekenntnisse

Von besonderem Interesse sind zudem Sprechakte, die "Fakten nicht beschreiben, sondern versuchen sie zu etablieren" – also Versprechen, Befehle oder religiöse Glaubensbekenntnisse. Das sind in einem Zeitalter, in dem der amerikanische Präsident via Twitter Lügen und hypertrophe Selbsteinschätzungen verbreitet, Sprechweisen, die die Welt verändern können. Sie sind weder wahr noch falsch, aber wirklich, weil sie Wirkungen hervorrufen.
Gustafsson verlängert diese Linie bis hin zu Symbolismus und Paranoia, wenn er die Grenze zwischen künstlerisch produktiver Vieldeutigkeit und wahnhafter Übersteigerung auslotet, die darin besteht, in allem Zufälligen eine persönliche Botschaft zu erkennen – sei es im Kaffeesatz oder im Gedärm eines Opfertieres.
Das alles ist nicht neu, aber darum geht es Gustafsson auch nicht. Wer Denken im Vollzug erleben möchte, findet hier jedoch eine auf- und anregende Lektüre. "Der optische Telegraf" ist das Vermächtnis eines Lyrikers, dem sein Werkzeug, die Sprache, nie selbstverständlich gewesen ist.

Lars Gustafsson: "Der optische Telegraf. Bedeuten und Verstehen"
Aus dem Schwedischen von Barbara M. Karlson
Secession Verlag, Zürich 2018
126 Seiten, 20 Euro

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