Lasst uns leben!
Die sozialen Proteste in Israel fordern etwas vage, aber sehr bestimmt: Lasst uns leben! Das klingt so simpel, aber es ist revolutionär. Es verlangt einen Wechsel der derzeitigen Weltsicht und erklärt es zur Hauptaufgabe des Staates, seinen Bürgern zu dienen, meint der Schriftsteller Yiftach Ashkenazi.
Einen Tag nach der ersten Demonstration hörte ich einen der prominentesten israelischen Kommentatoren sagen: Die Proteste werden binnen einer Woche verschwinden, weil niemand in Israel ein echtes Interesse daran hat, die Lage im Land zu verändern. Er täuschte sich, wie so viele. Auch wenn die Proteste bald einer neuen Sicherheitskrise weichen sollten, wie viele fürchten, werden sie trotzdem viel erreicht haben.
Das letzte Mal, dass ich so zuversichtlich war, so voller Hoffnung, dass der Staat Israel sich ändern und zu einem Land werden kann, in dem ich voller Stolz leben kann, das war in meinen Jugendtagen.
Als die Proteste jetzt begannen, waren die Linken enttäuscht, wie auch ich, dass die Organisatoren nicht darüber reden wollten, dass es offensichtlich eine politische Verbindung zwischen der Besetzung und der wirtschaftlichen Lage und den Menschenrechten gibt. Mit der Zeit verstand ich aber, dass der aktuelle Protest trotzdem sehr politisch ist.
Seit der Staatsgründung steht Israel vor der Frage: "Wem soll das Land dienen?" – seinen Einwohnern, oder der weltweiten jüdischen Gemeinde, der jüdischen Geschichte, oder Gottes Verheißung?
Verschiedene Regierungen, linke wie rechte gleichermaßen, haben die Linie bekräftigt, der Staat diene nicht wie selbstverständlich nur den Bürgern, aber es scheint, die derzeitige Regierung führt diese Haltung ins Extrem. Zum Beispiel will der Ministerpräsident durchsetzen, dass weltweit jeder mit einem israelischen Pass die Knesset wählen darf. Dann dürften Menschen, die hier weder leben noch Steuern zahlen, unser Leben hier beeinflussen. Dass die israelische Regierung für ein solches Gesetz wirbt, beweist, dass es in ihren Augen die Aufgabe der israelischen Bürger ist, den Juden in aller Welt zu dienen.
Ein weiteres Beispiel ist eine Vorschrift, die das Bildungsministerium jüngst erlassen hat. Sie verlangt, dass jedes Kind in einem israelischen Kindergarten die Nationalhymne kennt. Eine andere Vorschrift fordert, dass jeder High-School-Absolvent, der seine Abschluss-Urkunde bekommen möchte, die Gräber und Gedenkstätten derjenigen besuchen muss, die in israelischen Kriegen gestorben sind.
Das spiegelt den Versuch, junge Menschen heranzuziehen, die glauben, Loyalität bedeute die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern. Junge Menschen, deren Werte durch Tod und durch Angst vor Zerstörung geformt werden. Es verwundert nicht, dass die gegenwärtige Regierung ständig über Antisemitismus spricht. Sie will die Auffassung erzwingen, dass jeder israelische Bürger jederzeit zu jedwedem Opfer bereit sein sollte, weil alle "da draußen" ihn hassen.
Die derzeitigen sozialen Proteste fordern deshalb etwas vage, aber sehr bestimmt: Lasst uns leben! Das klingt so simpel, aber es ist revolutionär. Es verlangt einen Wechsel der derzeitigen Weltsicht und erklärt es zur Hauptaufgabe des Staates, seinen Bürgern zu dienen.
Die Protestbewegung und der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit rühren von einem Erbe her, das die Demonstranten von ihren Eltern erhalten haben. Diese alten Eliten spüren, dass ein zentrales Versprechen gebrochen wurde: Dass nämlich die Märkte deswegen liberalisiert wurden, weil einzig sie Wohlstand bringen könnten. Nun aber müssen sie erkennen, dass diese Märkte den Menschen nicht mehr dienen. Und das treibt die Proteste an.
Die Demonstranten fordern nicht nur ihre eigenen Rechte ein, sondern soziale Gerechtigkeit für alle. Das beweist, dass sie das Erbe der alten sozialen Elite tragen. Genau so muss sich eine soziale Elite verhalten, und deshalb gefällt sie mir. Aber genau das macht mir auch Angst.
Denn zuletzt hat diese Elite im Friedensprozess der 90er-Jahre versucht, ihren Einfluss geltend zu machen. Als er fehlschlug, gab die Elite auf und zog sich aus dem Friedensprozess zurück.
Falls und wenn auch die Proteste fehlschlagen, könnte das wieder geschehen. Die Menschen, die jetzt auf den Straßen für die Rechte aller kämpfen, werden dann nur noch an sich selber denken. Ich bezweifle nicht, dass die israelische Elite für sich selbst sorgen kann, wenn sie will. Sie kann sich politische Macht verschaffen und sich von der Gesellschaft abgrenzen, oder sogar ein besseres Leben in einem anderen Land suchen. Die Elite wird zurechtkommen, aber der Schaden für die israelische Gesellschaft wäre groß.
Yiftach Ashkenazi, Jahrgang 1980, Schriftsteller. Er studierte Geschichte und Cultural Studies und arbeitete in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Sein erster Roman "Die Geschichte vom Tod meiner Stadt" (Luchterhand Literaturverlag) erzählt von seinem Geburtsort Karmiel im Norden Israels, den er nach dem Militärdienst wieder besuchte und nun mit anderen Augen sah. Weitere Veröffentlichungen: "Birkenau my love", "Persona non grata" sowie Kurzgeschichten und Gedichte.
Das letzte Mal, dass ich so zuversichtlich war, so voller Hoffnung, dass der Staat Israel sich ändern und zu einem Land werden kann, in dem ich voller Stolz leben kann, das war in meinen Jugendtagen.
Als die Proteste jetzt begannen, waren die Linken enttäuscht, wie auch ich, dass die Organisatoren nicht darüber reden wollten, dass es offensichtlich eine politische Verbindung zwischen der Besetzung und der wirtschaftlichen Lage und den Menschenrechten gibt. Mit der Zeit verstand ich aber, dass der aktuelle Protest trotzdem sehr politisch ist.
Seit der Staatsgründung steht Israel vor der Frage: "Wem soll das Land dienen?" – seinen Einwohnern, oder der weltweiten jüdischen Gemeinde, der jüdischen Geschichte, oder Gottes Verheißung?
Verschiedene Regierungen, linke wie rechte gleichermaßen, haben die Linie bekräftigt, der Staat diene nicht wie selbstverständlich nur den Bürgern, aber es scheint, die derzeitige Regierung führt diese Haltung ins Extrem. Zum Beispiel will der Ministerpräsident durchsetzen, dass weltweit jeder mit einem israelischen Pass die Knesset wählen darf. Dann dürften Menschen, die hier weder leben noch Steuern zahlen, unser Leben hier beeinflussen. Dass die israelische Regierung für ein solches Gesetz wirbt, beweist, dass es in ihren Augen die Aufgabe der israelischen Bürger ist, den Juden in aller Welt zu dienen.
Ein weiteres Beispiel ist eine Vorschrift, die das Bildungsministerium jüngst erlassen hat. Sie verlangt, dass jedes Kind in einem israelischen Kindergarten die Nationalhymne kennt. Eine andere Vorschrift fordert, dass jeder High-School-Absolvent, der seine Abschluss-Urkunde bekommen möchte, die Gräber und Gedenkstätten derjenigen besuchen muss, die in israelischen Kriegen gestorben sind.
Das spiegelt den Versuch, junge Menschen heranzuziehen, die glauben, Loyalität bedeute die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern. Junge Menschen, deren Werte durch Tod und durch Angst vor Zerstörung geformt werden. Es verwundert nicht, dass die gegenwärtige Regierung ständig über Antisemitismus spricht. Sie will die Auffassung erzwingen, dass jeder israelische Bürger jederzeit zu jedwedem Opfer bereit sein sollte, weil alle "da draußen" ihn hassen.
Die derzeitigen sozialen Proteste fordern deshalb etwas vage, aber sehr bestimmt: Lasst uns leben! Das klingt so simpel, aber es ist revolutionär. Es verlangt einen Wechsel der derzeitigen Weltsicht und erklärt es zur Hauptaufgabe des Staates, seinen Bürgern zu dienen.
Die Protestbewegung und der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit rühren von einem Erbe her, das die Demonstranten von ihren Eltern erhalten haben. Diese alten Eliten spüren, dass ein zentrales Versprechen gebrochen wurde: Dass nämlich die Märkte deswegen liberalisiert wurden, weil einzig sie Wohlstand bringen könnten. Nun aber müssen sie erkennen, dass diese Märkte den Menschen nicht mehr dienen. Und das treibt die Proteste an.
Die Demonstranten fordern nicht nur ihre eigenen Rechte ein, sondern soziale Gerechtigkeit für alle. Das beweist, dass sie das Erbe der alten sozialen Elite tragen. Genau so muss sich eine soziale Elite verhalten, und deshalb gefällt sie mir. Aber genau das macht mir auch Angst.
Denn zuletzt hat diese Elite im Friedensprozess der 90er-Jahre versucht, ihren Einfluss geltend zu machen. Als er fehlschlug, gab die Elite auf und zog sich aus dem Friedensprozess zurück.
Falls und wenn auch die Proteste fehlschlagen, könnte das wieder geschehen. Die Menschen, die jetzt auf den Straßen für die Rechte aller kämpfen, werden dann nur noch an sich selber denken. Ich bezweifle nicht, dass die israelische Elite für sich selbst sorgen kann, wenn sie will. Sie kann sich politische Macht verschaffen und sich von der Gesellschaft abgrenzen, oder sogar ein besseres Leben in einem anderen Land suchen. Die Elite wird zurechtkommen, aber der Schaden für die israelische Gesellschaft wäre groß.
Yiftach Ashkenazi, Jahrgang 1980, Schriftsteller. Er studierte Geschichte und Cultural Studies und arbeitete in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Sein erster Roman "Die Geschichte vom Tod meiner Stadt" (Luchterhand Literaturverlag) erzählt von seinem Geburtsort Karmiel im Norden Israels, den er nach dem Militärdienst wieder besuchte und nun mit anderen Augen sah. Weitere Veröffentlichungen: "Birkenau my love", "Persona non grata" sowie Kurzgeschichten und Gedichte.