László Krasznahorkai: „Herscht 07769“

Radikalisierung des gutmütigen Idioten

06:09 Minuten
Das Cover der Novelle von Laszlo Krasznahorkai, "Herscht 07769"
© S. Fischer

László Krasznahorkai

Übersetzt von Heike Flemming

Herscht 07769S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021

409 Seiten

26,00 Euro

Von Carsten Hueck |
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Im Osten Deutschlands tummeln sich Dumpfbacken, Neonazis und Bachverehrer. Unter ihnen ein tumber Tor, der die Welt retten will und schließlich zum erbarmungslosen Killer wird. Dorfgeschichte, Splattermovie und Politsatire zugleich.
Thüringen ist ein Bundesland, in dem mehr als 20 Prozent der Bevölkerung AfD wählen und in dem sich Neonazis als „Heimatschutz“ organisieren. In Thüringen liegt die Kleinstadt Kahla, in der es die „Burg 19“ gibt, ein heruntergekommenes Gebäude, das von stadtbekannten Rechtsextremen bewohnt und vom Staatsschutz mehrfach durchsucht wurde. In Thüringen spielt auch der neue Roman des ungarischen Autors László Krasznahorkai: in einer fiktiven Kleinstadt namens Kana.

Die Burg, der Boss und die Deutschen

In einem Haus, einst von ausländischen Vertragsarbeitern bewohnt, lebt im Roman die „Truppe“, unter ihnen der Protagonist des Romans, Florian Herscht. Das Haus wird „die Burg“ genannt, und die Truppe hört auf die Anweisungen vom „Boss“, einem antisemitischen, gewalttätigen Bachverehrer, der vom Vierten Reich schwadroniert, von „Tischtuchköpfigen“ und „Wickelköpfigen“, die „uns Deutschland wegnehmen“. Der Boss betreibt ein Reinigungsunternehmen – kutschiert mit Florian im alten Opel durch Thüringen, um Graffitis und Schmierereien von Hauswänden zu entfernen.
Ein Reinigungsfachmann also, der durchdreht, als eines Tages gehäuft ein Wolfskopf und das Wort „WIR“ vornehmlich an Gebäuden auftauchen, die in irgendeiner Beziehung zu Johann Sebastian Bach stehen. Es könnte eine Satire auf Deutschtümelei und dumpfe Faschos sein – ist es aber nicht.
Man muss schon sehr abgebrüht sein, um das, was Krasznahorkai auf über 400 Seiten entwickelt, bloß lustig zu finden. Denn zu tief geht sein Blick in die deutsche Seele und die Verhältnisse. Und zu viel Blut fließt, zu viele Schädel werden eingeschlagen, zu viel Gewalt in Wort und Tat wird beschrieben. Die Truppe hat Waffenlager und schießt scharf.

Dicht an der Realität

Der Autor erzählt seine Geschichte ohne Absätze oder Punkte, ohne den Lesenden eine Atem- oder Denkpause zu gewähren, dicht an der Realität entlang. Alles ist real vorstellbar, obwohl auch Elemente aus Splattermovie, Dorfgeschichte und Märchen in den Roman einfließen.
Florian Herscht, der im Mittelpunkt der Ereignisse steht, ist ein gutmütiger Trottel, ein anspruchsloser Tor, ein naiver, hilfsbereiter und bärenstarker Riese. Der Boss hat ihn aus dem Waisenhaus herausgeholt und lässt ihn für sich arbeiten; ist ihm Vater und Kommandeur zugleich.
In Abendkursen eines ehemaligen Physiklehrers erfährt Florian etwas über Quanten und Elementarteilchen. Er ist alarmiert, sorgt sich über das Fortbestehen der Erde und schreibt fleißig Briefe an Kanzlerin Merkel. Sie soll den Sicherheitsrat einberufen, angesichts der Gefahr, dass die Welt sich plötzlich in Antimaterie zurückverwandeln kann.

Umgekehrte Heiligenlegende

Florian Herscht will die Welt retten. Und wird – wie jeder Prophet – belächelt. Als er aber erfährt, wer die Tankstelle eines ausländischen Ehepaars angezündet und die beiden Menschen ermordet hat, wird er zum rasenden Rächer und löscht selbst Leben aus. Tote pflastern fortan die Straßenränder der thüringischen Provinz. Florian, der gutmütige Goliath, verschwindet von der Bildfläche und wird als Serienkiller gesucht.
Krasznahorkai hat ein böses Buch geschrieben. Die Umkehrung einer Heiligenlegende. Während darin die ruchlosen Taten am Anfang stehen, und später eine Bekehrung zum Guten stattfindet, entwickelt sich in seinem Roman der Reine und Gute in einen von Rache beseelten Mörder. Hier steht am Ende die Auslöschung. Was bleibt, ist ein sprachlich dichter Text ohne Absatz und Punkt, mit vielen literarischen Referenzen, doch ohne Charaktere.

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