Lateinamerika und Corona

Eine neue Phase der Epidemie hat begonnen

05:30 Minuten
Eine Reihe von Ärztinnen sitzen auf einer Stufe und sehen erschöpft aus.
Besonders dramatische Situation in Ecuador - und erschöpftes Personal in der Medizin: Ärztinnen in Guayaquil macht eine Pause. © Getty Images / Agencia Press South / Francisco Macías
Von Burkhard Birke |
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In Ecuador sind die Leichenhallen überfordert, in Venezuela ist das Gesundheitssystem längst kollabiert, und in Brasilien regiert ein Präsident, der Covid-19 bis vor Kurzem als Grippe bezeichnete. Nur Chile und Kuba scheinen halbwegs gerüstet zu sein.
Die Zahl der Corona-Infizierten in den 19 Ländern Lateinamerikas steigt unerbittlich an. Nach Aussage von Carissa Etienne, der Direktorin der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation, befindet sich die Region in einer neuen Phase. Der Anteil der Region an den weltweiten Infektionen ist von 0,1 auf 2,4 Prozent gestiegen und liegt derzeit bei gut 25.000 offiziell.
Brasilien verzeichnete den ersten Corona-Fall am 26. Februar. Seither blieb kein Land der Region verschont. Proportional betrachtet hat es Panama, Ecuador und Chile am härtesten getroffen mit respektive 35,3 und 18,5 und 18,1 Fällen pro 100.000 Einwohner. Allerdings bleibt die Dunkelziffer extrem hoch, da die meisten Länder – mit Ausnahme Chiles – kaum systematisch und in großer Zahl testen.

Horrorszenarien in Ecuador

Besonders dramatisch stellt sich die Situation in den letzten Tagen in Ecuador dar. Aus der 2,3 Millionen Einwohner zählenden Hafenstadt Guayaquil werden Horrorszenen berichtet: Leichen werden zuhauf in Plastiksäcke verpackt auf die Straßen geworfen. Die Leichenhallen und Krematorien sind überfordert. Viele Menschen haben zudem nicht das Geld, ihren verstorbenen Angehörigen eine würdige Beerdigung zu bezahlen.
Somit ist in Abrede zu stellen, dass es nur, wie es offiziell heißt, gut 120 Tote durch Corona gibt.

In Venezuela kollabiert das Gesundheitssystem

Dramatisch könnte die Lage auch in Venezuela werden. Infolge von Misswirtschaft und der US-Sanktionen ist das Gesundheitssystem kollabiert. Das Land verfügt gerade einmal über 46 staatliche Krankenhäuser, von denen drei Viertel keine geregelte Strom- oder Wasserversorgung haben. Es gibt 206 Intensivbetten im ganzen Land, von denen nur die Hälfte mit Beatmungsgeräten ausgestattet ist. Die Epidemie trifft das Land inmitten einer tiefen, jahrelangen Krise: Die Bevölkerung ist ausgehungert, verarmt, der Zugang zu Lebensmitteln, Medikamenten und selbst Benzin ist im erdölreichsten Land der Welt stark eingeschränkt. Selbst in der Hauptstadt Caracas ist eine regelmäßige Strom- und Wasserversorgung nicht gewährleistet.
Trotz verschiedener Appelle und eines konkreten Vorschlags der US-Regierung ist es bisher nicht gelungen, in Venezuela eine Übergangsregierung ohne die Kontrahenten Maduro und Guaido zu bilden, um die Krise gemeinsam zu bekämpfen und die von den USA in Aussicht gestellte Lockerung der Sanktionen zu bewirken.
Im Grunde hatte die Region den Vorteil, frühzeitig tiefgreifende Präventionsmaßnahmen einzuleiten. Peru, Argentinien, Kolumbien, Venezuela und andere Staaten haben denn auch schon recht früh Reise- und Ausgehbeschränkungen verfügt. Dabei gibt es auch Kuriositäten wie etwa in Panama, wo wechselweise nur Männer oder Frauen an bestimmten Tagen die Wohnung zum Einkaufen verlassen dürfen.
Der Präsident von El Salvador Bukele hat frühzeitig auch konkrete Hilfsmaßnahmen für die ärmere Bevölkerung erlassen: Stundung von Miet-, Strom- und Wasserzahlungen sowie Zuschüsse von 300 Dollar.

Kehrtwende in Brasilien

Im mit 210 Millionen Einwohnern größten Land Lateinamerikas, in Brasilien, hat Präsident Jair Bolsonaro dieser Tage eine Kehrtwende vollzogen, wie es heißt auch auf Druck der Militärführung. Bis kürzlich hatte er Covid-19 als kleine Grippe abgetan und die Quarantänemaßnahmen der Gouverneure von Sao Paulo und Rio, den am meisten betroffenen und am dichtesten bevölkerten Regionen, kritisiert. Obwohl er mittlerweile die nationale Krise erklärt hat, stehen bei ihm wirtschaftliche Interessen nach wie vor im Vordergrund: "Leben retten, ohne Jobs zu verlieren" ist sein Motto.
Auch Brasilien hat jetzt den Ärmsten Zuschüsse von 400 Reais, umgerechnet weniger als 100 Dollar in Aussicht gestellt.
Das Problem in Brasilien wie in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder sind Unterbeschäftigung – ein Großteil der Menschen arbeitet im informellen Sektor ohne Zugang zu medizinischen oder sonstigen staatlichen Leistungen. Die Armut liegt im Schnitt aller Länder bei 30 Prozent, die extreme Armut bei 12 Prozent.

Kuba entsendet medizinisches Personal

Außer Kuba, das mit 7,5 Ärzten pro 10.000 Einwohner Weltspitze ist und auch in der Coronakrise medizinisches Personal in Venezuela, Jamaika und anderen Staaten zur Verfügung stellt, gibt es selten mehr als einen oder zwei Ärzte pro 10.000 Einwohner. Ähnlich löchrig ist die Versorgung mit Krankenhauskapazitäten: ein bis zwei Betten pro 1.000 Einwohner, verglichen mit sechs Betten in Deutschland.
Somit ist zu befürchten, dass bei einem Anstieg der Infektionen die Zahl der Toten drastisch ansteigen wird – mit Ausnahme vielleicht von Chile, das mit umfangreichen Tests und einem relativ stabilen, wenn auch teurem Gesundheitssystem die Mortalitätsrate durch Corona gering halten konnte – sofern man den offiziellen Statistiken Glauben schenken darf.
Bislang ist es jedenfalls noch keinem Land gelungen, die Infektionskurve abzuflachen, so dass die erschreckenden Bilder von Leichen auf den Straßen von Guayaquil möglicherweise nur ein kleiner Vorgeschmack auf das sind, was dort noch bevorsteht.
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